
Das Bedingte Entstehen ( Paṭicca Samuppāda ) im frühen Buddhismus: Eine Erklärung mit Verweisen auf zentrale Lehrreden
Eine detaillierte Analyse der zwölfgliedrigen Kausalkette und ihrer Bedeutung im buddhistischen Pfad
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Das Prinzip des Bedingten Entstehens ( Paṭicca Samuppāda )
Bedeutung und zentrale Stellung
Das Prinzip des Bedingten Entstehens, auf Pali Paṭicca Samuppāda, stellt einen absoluten Eckpfeiler der buddhistischen Lehre dar. Seine Kenntnis ist unerlässlich für ein tiefgreifendes Verständnis der Natur der Wirklichkeit, der Entstehung des Leidens (dukkha) und des Weges zur Befreiung (nibbāna). Der Buddha selbst unterstrich die zentrale Bedeutung dieses Prinzips mit den Worten, die im Mahāhatthipadopama Sutta (MN 28) überliefert sind: „Wer das Bedingte Entstehen sieht, sieht das Dhamma; wer das Dhamma sieht, sieht das Bedingte Entstehen“. Diese Aussage verdeutlicht, dass das Verständnis von Paṭicca Samuppāda nicht nur ein intellektuelles Konzept ist, sondern dem Erkennen der Lehre des Buddha selbst gleichkommt.
Die Lehre vom Bedingten Entstehen beschreibt den kausalen Prozess, der zur Entstehung und Fortdauer des Leidens und des Kreislaufs der Wiedergeburten (saṁsāra) führt. Gleichzeitig zeigt sie auf, wie durch das Erkennen und Aufheben dieser kausalen Verknüpfungen der Prozess umgekehrt und das Leiden beendet werden kann. Sie bildet somit die Grundlage für die zweite und dritte der Vier Edlen Wahrheiten – die Wahrheit von der Leidensentstehung und die Wahrheit von der Leidenserlöschung.
Die Betonung der Bedingtheit aller Phänomene stellt eine fundamentale Abkehr von anderen philosophischen und religiösen Vorstellungen dar. Sie widerspricht der Annahme einer inhärenten, unabhängigen Existenz von Dingen oder Wesen, der Idee einer ersten Ursache (wie einem Schöpfergott) oder der Vorstellung, dass Ereignisse rein zufällig geschehen. Stattdessen präsentiert Paṭicca Samuppāda eine dynamische, prozessorientierte Sicht der Realität, in der alles in einem Netz von wechselseitigen Abhängigkeiten entsteht und vergeht. Dies ergibt sich direkt aus der Kernformel „Wenn dieses ist, ist jenes“, die impliziert, dass kein Phänomen isoliert existiert. Die Lehre beschreibt sowohl das Entstehen als auch das Vergehen auf Basis von Bedingungen, was auf einen gesetzmäßigen, verstehbaren Prozess hindeutet, nicht auf Chaos. Der Fokus liegt dabei auf analysierbaren Bedingungen wie Unwissenheit (avijjā) oder Begehren (taṇhā), im Gegensatz zu metaphysischen Spekulationen über letzte Ursprünge. Diese Sichtweise stützt unmittelbar das Konzept des Nicht-Selbst (Anattā), indem sie zeigt, dass auch das „Sein“ selbst ein bedingter Prozess ist.
Darüber hinaus ist Paṭicca Samuppāda nicht nur eine philosophische Erklärung, sondern ein zutiefst praktisches Werkzeug auf dem Weg zur Befreiung. Die direkte Verknüpfung des Sehens von Paṭicca Samuppāda mit dem Sehen des Dhamma unterstreicht seine praktische Relevanz. Indem die Lehre detailliert die Entstehung (samudaya) und das Aufhören (nirodha) des Leidens (dukkha) erklärt, liefert sie den Schlüssel zur Anwendung der Vier Edlen Wahrheiten. Die umgekehrte Reihenfolge (paṭiloma) zeigt konkret den Pfad zur Aufhebung des Leidens durch das Beseitigen der ursächlichen Bedingungen auf. Lehrreden wie das Upanisa Sutta (SN 12.23) nutzen das Prinzip der Bedingtheit explizit, um den Weg zur Befreiung zu strukturieren. Somit ist Paṭicca Samuppāda nicht nur deskriptiv, sondern präskriptiv – es bietet die Diagnose und die Heilmethode für das existentielle Problem des Leidens.
Worterklärung (Pali)
Der Begriff Paṭicca Samuppāda setzt sich aus zwei Teilen zusammen:
- Paṭicca: bedeutet „abhängig von“, „gestützt auf“, „aufgrund von“. Es leitet sich von einer Wurzel ab, die „sich annähern“, „zurückkehren“ bedeutet, mit der Konnotation des Erkennens oder Sich-Vergewisserns eines Ursprungs.
- Samuppāda: bedeutet „Entstehen“, „Entstehung“, „Ursprung“, „gemeinsames Entstehen“. Sam bedeutet „zusammen“ oder „gut“, uppāda bedeutet „Entstehen“.
Wörtlich übersetzt bedeutet Paṭicca Samuppāda also „Entstehen in Abhängigkeit“ oder „bedingtes gemeinsames Entstehen“. Gängige deutsche Übersetzungen sind Bedingtes Entstehen, Abhängiges Entstehen oder Entstehen in Abhängigkeit. Gelegentlich wird die Lehre auch als Nidāna-Lehre (Lehre der Ursachen/Gründe) oder, später vor allem im Abhidhamma, als Paccayākāra (Art und Weise der Bedingtheit) bezeichnet.
Das Grundprinzip
Das Kernprinzip des Bedingten Entstehens wird oft durch eine prägnante Formel ausgedrückt, die sich in vielen Lehrreden findet:
Imasmiṁ sati idaṁ hoti;
imassuppādā idaṁ uppajjati.
Imasmiṁ asati idaṁ na hoti;
imassa nirodhā idaṁ nirujjhati.
„Wenn dieses ist, ist jenes; durch das Entstehen dieses entsteht jenes.
Wenn dieses nicht ist, ist jenes nicht; durch das Aufhören dieses hört jenes auf.“
Diese Formel beschreibt die universelle Gesetzmäßigkeit der Bedingtheit, die alle Phänomene – mit Ausnahme des Unbedingten, nibbāna – durchdringt. Sie besagt, dass nichts aus sich selbst heraus oder ohne Ursache entsteht, sondern jedes Phänomen das Ergebnis spezifischer Bedingungen ist. Wenn die Bedingungen vorhanden sind, tritt das Phänomen auf; wenn die Bedingungen wegfallen, hört das Phänomen auf zu existieren. Dies betont die grundlegende Interdependenz und Konditionalität aller Daseinsfaktoren.
Die Zwölf Glieder ( Nidānas ) der Kausalkette
Die bekannteste Darstellung des Bedingten Entstehens ist die Kette der zwölf Glieder, auch Nidānas (Ursachen, Gründe) genannt. Diese Kette beschreibt detailliert den Prozess, durch den aus der grundlegenden Unwissenheit heraus Leiden und Wiedergeburt entstehen.
Die Formel und ihre Struktur
Die Standardformulierung, die sogenannte Vorwärtsrichtung (anuloma), lautet:
Avijjā-paccayā saṅkhārā;
saṅkhāra-paccayā viññāṇaṁ;
viññāṇa-paccayā nāma-rūpaṁ;
nāma-rūpa-paccayā saḷāyatanaṁ;
saḷāyatana-paccayā phasso;
phassa-paccayā vedanā;
vedanā-paccayā taṇhā;
taṇhā-paccayā upādānaṁ;
upādāna-paccayā bhavo;
bhava-paccayā jāti;
jāti-paccayā jarāmaraṇaṁ sokaparidevadukkhadomanassupāyāsā sambhavanti.
„Durch Unwissenheit bedingt sind die Formationen;
durch die Formationen bedingt ist das Bewusstsein;
durch das Bewusstsein bedingt ist Name-und-Form;
durch Name-und-Form bedingt sind die sechs Sinnengrundlagen;
durch die sechs Sinnengrundlagen bedingt ist die Berührung;
durch die Berührung bedingt ist das Gefühl;
durch das Gefühl bedingt ist das Begehren;
durch das Begehren bedingt ist das Anhaften;
durch das Anhaften bedingt ist das Werden;
durch das Werden bedingt ist die Geburt;
durch die Geburt bedingt entstehen Altern und Tod, Kummer, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung.“
Diese Sequenz zeigt auf, wie „diese ganze Masse des Leidens“ (evametassa kevalassa dukkhakkhandhassa samudayo hoti) entsteht. Traditionell wird diese Kette oft über drei Lebenszeiten hinweg interpretiert: Unwissenheit und Formationen (1, 2) als vergangene Ursachen, die die gegenwärtigen Wirkungen (Bewusstsein bis Gefühl, 3-7) hervorbringen; Begehren, Anhaften und Werden (8-10) als gegenwärtige Ursachen, die die zukünftigen Wirkungen (Geburt, Altern und Tod, 11-12) bedingen. Diese Interpretation ist hilfreich, doch die Kette beschreibt auch Prozesse, die sich von Moment zu Moment im Erleben abspielen.
Tabelle: Die Zwölf Glieder des Bedingten Entstehens
Nr. | Pali Name (IAST) | Deutsche Übersetzung | Kurze Erklärung |
---|---|---|---|
1 | Avijjā | Unwissenheit | Fundamentales Nichtwissen der Vier Edlen Wahrheiten, der wahren Natur der Phänomene (anicca, dukkha, anattā), des Bedingten Entstehens selbst; Wurzel allen Leidens. |
2 | Saṅkhārā | (Karma-)Formationen | Durch Unwissenheit bedingte willentliche Handlungen (körperlich, sprachlich, geistig); karmisch wirksame Gestaltungen, die zu Wiedergeburt führen. |
3 | Viññāṇaṁ | Bewusstsein | Das durch vergangene Saṅkhārā bedingte (Wieder-)Geburtsbewusstsein, das in einem neuen Dasein entsteht; auch die sechs Arten von Sinnesbewusstsein. |
4 | Nāma-rūpaṁ | Name-und-Form | Die psycho-physische Einheit: Nāma (Geistiges: Gefühl, Wahrnehmung, Absicht, Berührung, Aufmerksamkeit) und Rūpa (Körperliches: vier Elemente und abgeleitete Materie). |
5 | Saḷāyatanaṁ | Sechs Sinnengrundlagen | Die sechs inneren Sinnesorgane (Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper, Geist) und ihre korrespondierenden äußeren Objekte (Formen, Töne, Gerüche, Geschmäcke, Berührbares, Geistobjekte). |
6 | Phasso | Berührung / Kontakt | Das Zusammentreffen von Sinnesorgan, Sinnesobjekt und Sinnesbewusstsein; der erste Eindruck. |
7 | Vedanā | Gefühl / Empfindung | Aus der Berührung entstehendes Gefühl: angenehm, unangenehm oder neutral. |
8 | Taṇhā | Begehren / Durst | Das auf Gefühl basierende Verlangen: nach Sinnesfreuden (kāma-taṇhā), nach Existenz/Werden (bhava-taṇhā), nach Nicht-Existenz/Vernichtung (vibhava-taṇhā). |
9 | Upādānaṁ | Anhaften / Ergreifen | Intensiviertes Begehren; Festhalten an Sinnesfreuden, Ansichten, Regeln/Ritualen, und der Vorstellung eines Selbst. |
10 | Bhavo | Werden / Existenzprozess | Der Prozess des Werdens, der zu neuer Existenz führt: Kamma-bhava (karmische Handlung) und Upapatti-bhava (resultierende Wiedergeburtsexistenz). |
11 | Jāti | Geburt | Das tatsächliche Entstehen in einer neuen Existenzform als Ergebnis des Werdeprozesses. |
12 | Jarā-maraṇaṁ | Altern und Tod | Unvermeidliche Folgen der Geburt: Verfall, Tod, sowie Kummer, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung (sokaparidevadukkhadomanassupāyāsā). |
Detaillierte Erklärung der Glieder (1-12)
- Unwissenheit (Avijjā): Dies ist die grundlegende Verblendung, das Nicht-Verstehen der Vier Edlen Wahrheiten, der leidhaften (dukkha), unbeständigen (anicca) und nicht-selbsthaften (anattā) Natur aller Phänomene. Es ist die Unkenntnis über die Funktionsweise des Bedingten Entstehens selbst. Diese Unwissenheit wird als die tiefste Wurzel des Leidenszyklus betrachtet und oft mit karmischen Prägungen aus vergangenen Leben in Verbindung gebracht.
- (Karma-)Formationen / Willensregungen (Saṅkhārā): Bedingt durch die Unwissenheit entstehen Saṅkhārā. Dies sind willentliche Handlungen (cetanā) – körperlich, sprachlich oder geistig –, die karmische Spuren hinterlassen. Diese Handlungen können heilsam (verdienstvoll), unheilsam (schädlich) oder neutral sein, aber solange sie von Unwissenheit getrieben sind, schaffen sie das Potential für zukünftige Wiedergeburt. Es ist wichtig, diese spezifische Bedeutung von Saṅkhārā im Kontext von Paṭicca Samuppāda von seiner allgemeineren Bedeutung als „bedingte Phänomene“ zu unterscheiden.
- Bewusstsein (Viññāṇaṁ): Aus den vergangenen Saṅkhārā entsteht das Bewusstsein, das eine neue Existenz einleitet. Dies wird oft als das Wiedergeburtsbewusstsein verstanden, das im Moment der Empfängnis auftritt. Es kann sich aber auch auf die sechs Arten von Sinnesbewusstsein beziehen (Seh-, Hör-, Riech-, Schmeck-, Körper- und Geistbewusstsein), die im Laufe des Lebens entstehen. Das Mahātaṇhāsaṅkhaya Sutta (MN 38) warnt eindringlich davor, dieses Bewusstsein als eine beständige, wandernde Seele misszuverstehen.
- Name-und-Form / Geistig-Körperliches (Nāma-rūpaṁ): Bedingt durch das Bewusstsein entsteht die psycho-physische Einheit des Individuums. Nāma (Name) bezieht sich auf die geistigen Komponenten: Gefühl (vedanā), Wahrnehmung (saññā), Absicht (cetanā), Berührung (phassa) und Aufmerksamkeit (manasikāra). Rūpa (Form) bezeichnet den physischen Körper, bestehend aus den vier großen Elementen (Erde, Wasser, Feuer, Luft) und der davon abgeleiteten Materie. Das Mahānidāna Sutta (DN 15) betont die wechselseitige Abhängigkeit von Bewusstsein und Name-und-Form – keines kann ohne das andere bestehen.
- Sechs Sinnengrundlagen (Saḷāyatanaṁ): Aus Name-und-Form entwickeln sich die sechs inneren Sinnengrundlagen: Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper und Geist (manas). Diese bilden zusammen mit den entsprechenden äußeren Sinnesobjekten (Formen, Töne, Gerüche, Geschmäcke, Berührbares und Geistobjekte) die Basis für jede Erfahrung der Welt.
- Berührung / Kontakt (Phasso): Bedingt durch die sechs Sinnengrundlagen kommt es zur Berührung. Dies ist das Zusammentreffen von innerer Sinnesgrundlage, äußerem Sinnesobjekt und dem entsprechenden Sinnesbewusstsein (z.B. Auge + Form + Sehbewusstsein = Augenkontakt). Phassa ist der initiale Moment der Sinneswahrnehmung.
- Gefühl / Empfindung (Vedanā): Aus der Berührung entsteht unmittelbar ein Gefühl. Dieses kann angenehm (sukha), unangenehm (dukkha) oder weder-angenehm-noch-unangenehm (neutral, adukkhamasukha) sein. Vedanā ist ein entscheidendes Glied, da die Reaktion auf dieses Gefühl zum nächsten Glied, dem Begehren, führt.
- Begehren / Durst (Taṇhā): Bedingt durch das Gefühl entsteht Taṇhā, das Begehren oder der „Durst“. Es gibt drei Hauptformen: das Begehren nach Sinnesfreuden (kāma-taṇhā), das Begehren nach Existenz oder Werden (bhava-taṇhā) und das Begehren nach Nicht-Existenz oder Selbstvernichtung (vibhava-taṇhā). Taṇhā wird in der Zweiten Edlen Wahrheit als die unmittelbare Ursache des Leidens identifiziert.
- Anhaften / Ergreifen (Upādānaṁ): Aus dem Begehren entwickelt sich das Anhaften oder Ergreifen, eine intensivierte Form des Verlangens. Es gibt vier Arten des Anhaftens: an Sinnesfreuden (kāmupādāna), an Ansichten (diṭṭhupādāna), an Regeln und Ritualen (sīlabbatupādāna) und an der Vorstellung eines Selbst (attavādupādāna).
- Werden / Existenzprozess (Bhavo): Bedingt durch das Anhaften entsteht der Prozess des Werdens. Dieser hat zwei Aspekte: den aktiven Kamma-bhava, die karmische Energie oder Handlung, die zu zukünftiger Existenz führt, und den passiven Upapatti-bhava, die daraus resultierende Existenz oder Wiedergeburt selbst. Bhava ist die treibende Kraft, die in eine neue Geburt mündet.
- Geburt (Jāti): Bedingt durch den Werdeprozess kommt es zur Geburt, dem tatsächlichen Eintritt in eine neue Existenzform, sei es als Mensch, Tier, Gott oder in anderen Daseinsbereichen. Dies beinhaltet das Erscheinen eines neuen psycho-physischen Organismus.
- Altern und Tod (Jarā-maraṇaṁ): Bedingt durch die Geburt folgen unausweichlich Altern (jarā) und Tod (maraṇa), begleitet von Kummer (soka), Jammer (parideva), Schmerz (dukkha), Gram (domanassa) und Verzweiflung (upāyāsa). Dies ist die Manifestation des Leidens, das aus dem Kreislauf resultiert.
Obwohl die zwölf Glieder oft linear dargestellt werden, um den kausalen Fluss zu verdeutlichen, handelt es sich in Wirklichkeit um ein komplexes Netzwerk von wechselseitigen Abhängigkeiten und Rückkopplungsschleifen. Die Darstellung als Kette dient didaktischen Zwecken, aber viele Faktoren beeinflussen sich gegenseitig oder entstehen gleichzeitig (sahajāta). Der Begriff paccaya (Bedingung) impliziert Abhängigkeit, nicht notwendigerweise eine starre zeitliche Abfolge. Nyanatiloka Mahathera wies darauf hin, dass es ein Fehler sei anzunehmen, die Wirkung folge immer einen Moment nach der Ursache oder erscheine gleichzeitig mit ihr. Ein klares Beispiel für diese Komplexität ist die im Mahānidāna Sutta (DN 15) explizit genannte wechselseitige Abhängigkeit (aññamañña paccayā) von Bewusstsein (viññāṇa) und Name-und-Form (nāma-rūpa). Ebenso können Gefühl (vedanā) und Begehren (taṇhā) im gegenwärtigen Erleben ständig neu entstehen und sich gegenseitig verstärken, nicht nur über Lebenszeiten hinweg. Die Struktur impliziert auch Zyklen: Das Erleben von Leiden (jarāmaraṇa) kann zu weiterer Unwissenheit führen und den Prozess aufrechterhalten. Daher ist die Kette eher als ein dynamisches System oder eine Spirale zu verstehen, was ihre allgegenwärtige Wirkung auf das Erleben erklärt.
Des Weiteren ist es entscheidend, die spezifischen, technischen Definitionen der Begriffe innerhalb des Paṭicca Samuppāda-Kontextes zu verstehen, da sie sich von ihrer allgemeinen Verwendung unterscheiden können. Saṅkhārā bezeichnet hier spezifisch Kamma-Formationen, nicht nur allgemein „bedingte Dinge“. Viññāṇa meint primär das Wiedergeburtsbewusstsein oder die Grundlage für Nāma-rūpa, nicht jede beliebige momentane Wahrnehmung. Nāma in Nāma-rūpa umfasst eine präzise Liste geistiger Faktoren (Gefühl, Wahrnehmung, Absicht, Berührung, Aufmerksamkeit). Selbst Begriffe wie Phassa und Vedanā können nuancierte Bedeutungen im Zusammenhang mit befleckten oder unbefleckten Geisteszuständen haben. Sich auf allgemeine Wörterbuchdefinitionen zu verlassen, ohne den spezifischen Kontext von Paṭicca Samuppāda zu berücksichtigen, kann zu erheblichen Missverständnissen führen, wie die Geschichte des Mönchs Sāti im Mahātaṇhāsaṅkhaya Sutta (MN 38) eindrücklich zeigt. Sāti missverstand Viññāṇa als eine Art transmigrierende Seele, eine Ansicht, die der Buddha entschieden zurückwies, da sie dem Prinzip der Bedingtheit und des Nicht-Selbst widerspricht.
Die Umkehrung ( Paṭiloma )
Die Befreiung vom Leiden wird durch die Umkehrung dieser Kausalkette (paṭiloma) erreicht. Die Formel dafür lautet:
Avijjāya tv eva asesavirāganirodhā saṅkhāranirodho;
saṅkhāranirodhā viññāṇanirodho;
[…]
jātinirodhā jarāmaraṇaṁ sokaparidevadukkhadomanassupāyāsā nirujjhanti.
„Durch das restlose Schwinden und Aufhören eben dieser Unwissenheit kommt das Aufhören der Formationen;
durch das Aufhören der Formationen kommt das Aufhören des Bewusstseins;
[…] durch das Aufhören der Geburt hören Altern und Tod, Kummer, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung auf.“
Das Aufhören (nirodha) geschieht durch das Durchbrechen der Kette an ihren schwächsten bzw. entscheidenden Punkten. Dies sind vor allem die Unwissenheit (avijjā, Glied 1) und das Begehren (taṇhā, Glied 8). Durch die Entwicklung von Weisheit (paññā) wird die Unwissenheit beseitigt, und durch Achtsamkeit und ethisches Verhalten kann die Reaktion auf Gefühle so kultiviert werden, dass kein Begehren entsteht.
Bedingtes Entstehen im Kontext der buddhistischen Lehre
Paṭicca Samuppāda steht nicht isoliert da, sondern ist eng mit anderen zentralen Lehren des Buddhismus verwoben und bildet oft deren tiefere Erklärungsgrundlage.
Verknüpfung mit den Vier Edlen Wahrheiten
Die Lehre vom Bedingten Entstehen ist untrennbar mit den Vier Edlen Wahrheiten verbunden:
- Zweite Edle Wahrheit (Ursprung des Leidens – Samudaya): Paṭicca Samuppāda liefert die detaillierte Analyse, wie das in der zweiten Wahrheit genannte Begehren (taṇhā, Glied 8) selbst bedingt entsteht – nämlich durch Gefühl (vedanā), Berührung (phassa), die Sinnesgrundlagen (saḷāyatana), Name-und-Form (nāma-rūpa), Bewusstsein (viññāṇa) und letztlich Unwissenheit (avijjā) – und wie dieses Begehren weiter zu Anhaften (upādāna), Werden (bhava), Geburt (jāti) und schließlich dem gesamten Komplex des Leidens (Altern und Tod usw., Glied 12) führt.
- Dritte Edle Wahrheit (Aufhebung des Leidens – Nirodha): Die Umkehrung der Kette (paṭiloma) illustriert die dritte Wahrheit. Sie zeigt, dass mit dem restlosen Aufhören der Bedingungen – insbesondere von Unwissenheit und Begehren – auch die Wirkungen aufhören, was zur vollständigen Erlösung vom Leiden führt.
- Vierte Edle Wahrheit (Pfad zur Aufhebung des Leidens – Magga): Der Edle Achtfache Pfad ist das praktische Mittel, um die Kette zu durchbrechen. Insbesondere Rechte Ansicht (sammā diṭṭhi) beinhaltet das Verständnis von Paṭicca Samuppāda. Durch die Entwicklung von Weisheit (paññā, Teil des Pfades) wird die Unwissenheit (avijjā) überwunden. Durch ethisches Verhalten (sīla) und Achtsamkeit (sati, ebenfalls Teile des Pfades) wird die Reaktion auf Gefühle (vedanā) reguliert, sodass Begehren (taṇhā) nicht zwangsläufig entsteht.
Erläuterung der Rolle von Kamma und Wiedergeburt
Paṭicca Samuppāda liefert den Mechanismus, der erklärt, wie Kamma (absichtsvolles Handeln) und Wiedergeburt funktionieren, ohne die Annahme einer ewigen Seele oder eines permanenten Selbst (attā oder ātman) zu benötigen.
- Die Glieder Unwissenheit (avijjā) und Formationen (saṅkhārā) repräsentieren vergangene karmische Ursachen. Unwissenheit führt zu (oft unheilsamen) willentlichen Handlungen.
- Die Glieder Begehren (taṇhā), Anhaften (upādāna) und Werden (bhava) stellen gegenwärtige karmische Ursachen dar. Begehren und Anhaften treiben den Werdeprozess (bhava) an, der das Potential für eine zukünftige Existenz schafft.
- Die Glieder Geburt (jāti) und Altern und Tod (jarā-maraṇa) sind die zukünftigen Wirkungen dieses karmischen Prozesses.
Somit zeigt Paṭicca Samuppāda die Wiedergeburt nicht als Wanderung einer festen Wesenheit, sondern als einen kontinuierlichen, bedingten Prozess, einen Strom von ursächlich miteinander verbundenen Ereignissen, der von Leben zu Leben weiterfließt, angetrieben durch Unwissenheit und Begehren.
Bezug zum Konzept des Nicht-Selbst ( Anattā )
Die Lehre vom Bedingten Entstehen ist eine der stärksten Stützen für das Verständnis von Anattā (Nicht-Selbst, Egolosigkeit). Indem sie aufzeigt, dass alle Phänomene – einschließlich dessen, was wir als „Ich“ oder „Selbst“ wahrnehmen (wie Bewusstsein, Geist-Körper-Einheit) – nur in Abhängigkeit von anderen Bedingungen entstehen, demonstriert sie deren Mangel an einer inhärenten, unabhängigen, permanenten Existenz.
Die Kette illustriert, wie das „Selbst“ oder das „Individuum“ lediglich eine konventionelle Bezeichnung für einen sich ständig verändernden Strom von voneinander abhängigen körperlichen und geistigen Faktoren (nāma-rūpa, viññāṇa, vedanā etc.) ist. Es gibt keine beständige Entität, die diesen Prozess durchläuft oder ihm zugrunde liegt. Das Verständnis dieses unpersönlichen, bedingten Prozesses untergräbt die Grundlage für das Anhaften an einer Selbstvorstellung (attavādupādāna, Glied 9), welches eine Hauptursache für Leiden ist. Das Mahānidāna Sutta (DN 15) verbindet die Analyse des Bedingten Entstehens direkt mit der Dekonstruktion von Ansichten über ein Selbst.
Man kann erkennen, dass Paṭicca Samuppāda als ein vereinheitlichendes Prinzip fungiert, das scheinbar getrennte Kerndoktrinen – die Vier Edlen Wahrheiten, Kamma, Wiedergeburt und Anattā – zu einem kohärenten Rahmen verbindet. Es liefert den detaillierten Mechanismus für die zweite und dritte Edle Wahrheit. Es erklärt, wie Kamma über Lebenszeiten hinweg wirkt, um Wiedergeburt ohne eine Seele hervorzubringen, und integriert so Kamma/Wiedergeburt mit Anattā. Seine Demonstration der bedingten Natur aller Phänomene illustriert direkt Anattā. Das Verständnis dieses Prinzips ist der Schlüssel zur Rechten Ansicht (Vierte Edle Wahrheit) und damit zum Pfad der Befreiung. Paṭicca Samuppāda ist somit nicht nur eine Lehre unter vielen, sondern das zentrale Erklärungsmodell, das die Kernpunkte des frühen Buddhismus zu einem geschlossenen Ganzen zusammenfügt.
Darüber hinaus operiert die Lehre sowohl auf einer Mikro-Ebene (psychologisch, von Moment zu Moment) als auch auf einer Makro-Ebene (kosmologisch, von Leben zu Leben) und zeigt so die fraktale Natur der Leidensentstehung. Glieder wie Gefühl → Begehren → Anhaften beschreiben unmittelbare psychologische Reaktionen, die ständig ablaufen. Glieder wie Unwissenheit → Formationen → Bewusstsein → Geburt → Tod bilden klar den Prozess über Lebenszeiten ab. Lehrreden wie MN 38 betonen die bedingte Entstehung des Bewusstseins im Hier und Jetzt, während DN 15 den Rahmen zur Erklärung der Wiedergeburt nutzt. Diese doppelte Anwendbarkeit zeigt, dass dasselbe grundlegende Muster des bedingten Entstehens sowohl unserer unmittelbaren Erfahrung von geistiger Proliferation und Leiden als auch dem größeren Kreislauf des Saṁsāra zugrunde liegt. Das Verständnis des momentanen Prozesses liefert somit Einblicke in den größeren Zyklus und umgekehrt, was die Lehre sowohl für die unmittelbare meditative Praxis als auch für die langfristige Befreiung relevant macht.
Lehrreden (Suttas) als Wegweiser zum Verständnis
Während Erklärungen hilfreich sind, ist die direkte Auseinandersetzung mit den Lehrreden (Suttas) des Buddha für ein tieferes und authentisches Verständnis von Paṭicca Samuppāda von unschätzbarem Wert. Die Online-Ressource SuttaCentral.net bietet Zugang zu diesen Texten in Pali und vielen Übersetzungen, einschließlich Deutsch, und sollte als primäre Quelle genutzt werden.
Dīgha Nikāya (DN) & Majjhima Nikāya (MN)
Diese beiden Sammlungen enthalten einige der ausführlichsten und grundlegendsten Lehrreden zum Bedingten Entstehen:
DN 15: Mahānidāna Sutta (Die große Lehrrede über die Ursachen)
- Fokus: Gilt als eine der tiefgründigsten Lehrreden im Palikanon. Sie bietet eine erweiterte, tiefgehende Analyse von Paṭicca Samuppāda. Sie verfolgt die Kette rückwärts von Altern und Tod bis zur entscheidenden wechselseitigen Abhängigkeit von Bewusstsein (viññāṇa) und Name-und-Form (nāma-rūpa). Einzigartig ist hier die detaillierte Untersuchung, wie diese beiden Faktoren sich gegenseitig bedingen und ohne einander nicht existieren können. Die Rede verbindet das Verständnis des Bedingten Entstehens explizit mit der Dekonstruktion von Ansichten über ein Selbst (anattā) und analysiert verschiedene Arten, wie ein Selbst definiert werden könnte, um sie alle als unhaltbar zu erweisen.
- Zitat: DN 15, Mahānidāna Sutta (Die große Lehrrede über die Ursachen), Link zu SuttaCentral.
MN 9: Sammādiṭṭhi Sutta (Die Lehrrede von der Rechten Ansicht)
- Fokus: Der Ehrwürdige Sāriputta, einer der Hauptschüler des Buddha, erklärt hier die Rechte Ansicht (sammā diṭṭhi), den ersten Faktor des Edlen Achtfachen Pfades, anhand von sechzehn verschiedenen Methoden. Mehrere dieser Methoden basieren direkt auf dem Prinzip des Bedingten Entstehens. Sāriputta wendet das Schema der Vier Edlen Wahrheiten (Phänomen, dessen Ursprung, dessen Aufhören, der Pfad zum Aufhören) auf verschiedene Faktoren an, darunter die vier Arten von Nahrung (āhāra), das Leiden selbst und jedes einzelne der zwölf Glieder von Paṭicca Samuppāda. Das Verständnis eines jeden Gliedes in dieser vierfachen Hinsicht wird als Rechte Ansicht definiert. Die Rede zeigt klar, wie das Verständnis von Paṭicca Samuppāda direkt zur Aufgabe von Befleckungen und zur Beendigung des Leidens führt.
- Zitat: MN 9, Sammādiṭṭhi Sutta (Die Lehrrede von der Rechten Ansicht), Link zu SuttaCentral.
MN 38: Mahātaṇhāsaṅkhaya Sutta (Die große Lehrrede von der Auflösung des Begehrens)
- Fokus: Diese wichtige Lehrrede korrigiert die falsche Ansicht des Mönchs Sāti, der glaubte, Bewusstsein sei eine Art beständige Entität, die von Leben zu Leben wandert. Der Buddha weist dies vehement zurück und betont stattdessen nachdrücklich, dass Bewusstsein – wie alle anderen Phänomene auch – bedingt entstanden ist (paṭiccasamuppannaṁ viññāṇaṁ vuttaṁ mayā, aññatra paccayā natthi viññāṇassa sambhavo – „In vielerlei Hinsicht habe ich euch gelehrt, dass Bewusstsein bedingt entstanden ist; ohne eine Bedingung gibt es kein Entstehen von Bewusstsein.“). Die Rede erklärt, wie Bewusstsein abhängig von den Sinnesgrundlagen und ihren Objekten entsteht (z.B. Auge + Form → Sehbewusstsein) und vergleicht dies mit einem Feuer, das nach seinem Brennstoff benannt wird (Holzfeuer, Grasfeuer etc.), genauso wie Bewusstsein nur abhängig von Sinnesorgan und Sinnesobjekt entsteht und benannt wird (Augenbewusstsein, Ohrenbewusstsein etc.). Sie verbindet Paṭicca Samuppāda auch mit der Lehre von den vier Arten der Nahrung (āhāra), die das Dasein aufrechterhalten.
- Zitat: MN 38, Mahātaṇhāsaṅkhaya Sutta (Die große Lehrrede von der Auflösung des Begehrens), Link zu SuttaCentral.
Samyutta Nikāya (SN)
Der Samyutta Nikāya (Sammlung der verbundenen Lehrreden) enthält ein eigenes Kapitel, das sich ausschließlich dem Bedingten Entstehen widmet:
- Bestätigung: Das Nidāna Saṃyutta (SN 12 – Verbundene Lehrreden über Ursachen / Bedingtes Entstehen) ist das zwölfte Buch des Samyutta Nikāya. Es umfasst 93 kurze Lehrreden, die sich alle spezifisch mit verschiedenen Aspekten des Paṭicca Samuppāda befassen. Die Existenz dieses umfangreichen, dedizierten Kapitels unterstreicht die überragende Bedeutung, die die frühe buddhistische Tradition diesem Prinzip beimaß. Da die Nikāyas thematisch geordnet sind, signalisiert die Widmung einer ganzen Hauptsammlung (Saṃyutta) einer einzigen Lehre deren fundamentalen Status. Die hohe Anzahl von 93 Suttas deutet auf die Tiefe und Vielfalt der Perspektiven hin, die zu dieser Lehre erforscht wurden. Schlüsseltexte, die die Begriffe definieren (SN 12.2), die Lehre mit Rechter Ansicht verknüpfen (SN 12.15) und sogar den Befreiungsweg abbilden (SN 12.23), finden sich hier. Die Struktur des Kanons selbst weist den Studierenden somit auf Paṭicca Samuppāda als einen Kernbereich des Studiums hin.
- Beispielhafte Suttas aus SN 12:
- SN 12.1: Paṭiccasamuppāda Sutta (Bedingtes Entstehen): Präsentiert die grundlegende Zwölf-Glieder-Formel in ihrer Vorwärts- (Entstehung) und Rückwärtsrichtung (Aufhören). [Link]
- SN 12.2: Vibhaṅga Sutta (Analyse): Liefert die standardmäßige, detaillierte Analyse und Definition jedes einzelnen der zwölf Glieder, wie sie oft in Kommentaren zitiert wird. [Link]
- SN 12.15: Kaccānagotta Sutta (An Kaccānagotta): Eine sehr wichtige Rede, in der der Buddha den Mittleren Weg erklärt, der die Extreme des Eternalismus („alles existiert“) und des Annihilationismus („nichts existiert“) vermeidet. Er tut dies, indem er die Welt durch die Linse des Bedingten Entstehens betrachtet: Weil Phänomene bedingt entstehen, kann man nicht sagen, dass sie absolut „sind“; weil sie bedingt aufhören, kann man nicht sagen, dass sie absolut „nicht sind“. Dies ist entscheidend für das Verständnis der Rechten Ansicht. [Link]
- SN 12.23: Upanisa Sutta (Unterstützende Bedingung): Diese bemerkenswerte Rede stellt eine „transzendentale“ oder „überweltliche“ (lokuttara) Sequenz des Bedingten Entstehens vor. Sie beginnt mit dem Leiden (dukkha) als Bedingung für Vertrauen (saddhā) und führt dann schrittweise über Freude (pāmojja), Verzückung (pīti), Ruhe (passaddhi), Glückseligkeit (sukha), Konzentration (samādhi), Wissen und Sehen der Dinge, wie sie wirklich sind (yathābhūtañāṇadassana), Ernüchterung (nibbidā) und Entsagung (virāga) zur Befreiung (vimutti). [Link]
Aṅguttara Nikāya (AN)
Der Aṅguttara Nikāya (Sammlung der angereihten Lehrreden) hat zwar kein eigenes Saṃyutta zum Bedingten Entstehen, enthält aber Lehrreden, die das Prinzip der Bedingtheit illustrieren, insbesondere in Bezug auf die Entfaltung des Pfades:
- Fokus: Die Suttas im AN sind oft nach der Anzahl der behandelten Punkte geordnet (Einer-Buch, Zweier-Buch etc.). Hier finden sich Sequenzen, die zeigen, wie heilsame Zustände aufeinander aufbauen und sich gegenseitig bedingen.
- Bekannte/Relevante Suttas:
- AN 10.2: Cetanākaraṇīya Sutta (Was durch Willen zu tun ist) / AN 11.2: Upanisa Sutta (Unterstützende Bedingung): Diese Texte (AN 11.2 ist inhaltlich weitgehend identisch mit AN 10.2 und wird manchmal auch als Upanisa Sutta bezeichnet, ähnlich wie SN 12.23) zeigen eine aufsteigende Sequenz, die der in SN 12.23 ähnelt. Sie beginnt mit tugendhaftem Verhalten (sīla) als Bedingung für Reuelosigkeit (avippaṭisāra). Diese wiederum bedingt Freude (pāmojja), Verzückung (pīti), Ruhe (passaddhi), Glückseligkeit (sukha), Konzentration (samādhi), Wissen und Sehen der Dinge, wie sie wirklich sind (yathābhūtañāṇadassana), Ernüchterung (nibbidā), Entsagung (virāga) und schließlich Wissen und Sehen der Befreiung (vimuttiñāṇadassana). Bemerkenswert ist die wiederholte Formulierung „na cetanāya karaṇīyaṁ“ – „keine Willensanstrengung ist nötig“, um den nächsten Zustand hervorzurufen, wenn der vorherige gefestigt ist. Dies illustriert eindrücklich, wie der Pfad selbst sich durch Bedingtheit entfaltet.
- Zitat: AN 10.2, Cetanākaraṇīya Sutta (Was durch Willen zu tun ist), (oder AN 11.2, Upanisa Sutta [Link]).
Die „transzendentale“ oder „überweltliche“ Sequenz des Bedingten Entstehens (lokuttara paṭiccasamuppāda), wie sie in SN 12.23 und AN 10.2/11.2 dargelegt wird, offenbart eine positive, progressive Anwendung desselben Bedingtheitsprinzips, das auch das Leiden regiert. Diese Lehrreden verwenden explizit die Sprache der Bedingtheit (upanisa, paccaya), um die Stufen zu beschreiben, die vom Leiden zur Befreiung führen. Sie zeigen einen kausalen Fortschritt, der mit Tugend (sīla) beginnt oder sogar das Leiden (dukkha) selbst als Bedingung für Vertrauen (saddhā) nutzt. Die Sequenz hebt das natürliche Entstehen positiver Geisteszustände hervor, wenn die vorhergehenden Bedingungen erfüllt sind, oft ohne dass eine bewusste Willensanstrengung erforderlich ist („na cetanāya karaṇīyaṁ“). Dies steht im Kontrast zu den üblichen zwölf Gliedern, die sich auf die Entstehung von dukkha konzentrieren, und zeigt die Universalität des Bedingtheitsprinzips. Diese „transzendentale“ Anwendung bietet daher eine tiefgreifende Ermutigung: Sie demonstriert, dass der Weg zur Befreiung kein willkürlicher Kampf gegen die Natur ist, sondern eine natürliche Entfaltung, die auf der Kultivierung heilsamer Bedingungen beruht.
Abschließende Bemerkungen
Das Bedingte Entstehen (Paṭicca Samuppāda) ist die tiefgründige Analyse des Buddha darüber, wie Leiden aufgrund identifizierbarer, voneinander abhängiger Bedingungen entsteht und wieder aufhört. Es enthüllt einen dynamischen, unpersönlichen Prozess, der die gesamte Existenz im Kreislauf der Wiedergeburten (saṁsāra) regiert. Es zeigt eine Realität, die weder von einem permanenten Selbst noch von einem externen Schöpfer gesteuert wird, sondern durch ein komplexes Netz von Ursachen und Wirkungen funktioniert.
Die Kernbotschaft dieser Lehre ist befreiend: Da Leiden bedingt entsteht, kann es auch durch das Aufheben dieser Bedingungen beendet werden. Das Verständnis dieses Prinzips ist der Schlüssel zur Entwicklung von Weisheit (paññā) und letztlich zur Befreiung (nibbāna). Es ermöglicht, die grundlegende Unwissenheit (avijjā) zu durchschauen und das Leiden verursachende Begehren (taṇhā) an seiner Wurzel zu durchtrennen.
Dieser Bericht kann nur eine Einführung bieten. Die hier genannten Lehrreden (Suttas) aus dem Dīgha Nikāya, Majjhima Nikāya, Samyutta Nikāya und Aṅguttara Nikāya sind wertvolle Wegweiser für ein tiefergehendes Studium. Es sei jeder interessierten Leserin und jedem interessierten Leser empfohlen, diese Originaltexte, zugänglich gemacht durch Ressourcen wie SuttaCentral.net, als Ausgangspunkt für die eigene Untersuchung und Reflexion zu nutzen. Die direkte Auseinandersetzung mit den Worten des Buddha ist der fruchtbarste Weg, um die Tiefe und befreiende Kraft der Lehre vom Bedingten Entstehen zu erfahren.
Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente
Ausgewählte Referenzen (Domains):
- Paticcasamuppada, Paticca-samuppada, Paṭiccasamuppāda: 9 definitions
- Dependent Origination (Paṭicca-Samuppāda) – Abhidhamma.com
- Paṭicca Samuppāda – “Pati+ichcha” + “Sama+uppāda” – Pure Dhamma
- Bedingtes Entstehen des Leidens – Theravadanetz
- Dependent Origination – Ajahn Brahm – Wisdom & Wonders
- pratītya-samutpāda – Dictionary | Buddhistdoor
- Paticca-samuppada | Buddhist Doctrine of Dependent Origination … – Britannica
- Transzendentes bedingtes Entstehen – Dhamma Dana
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Avijjā (Unwissenheit – 1. Glied)
Alles beginnt mit Avijjā, der Unwissenheit. Dies ist nicht nur mangelndes Wissen, sondern eine fundamentale Verblendung bezüglich der wahren Natur der Realität – insbesondere der Vier Edlen Wahrheiten und der Merkmale von Vergänglichkeit (anicca), Leiden (dukkha) und Nicht-Selbst (anattā). Entdecke, warum diese Unwissenheit als die tiefste Wurzel des gesamten Leidenszyklus gilt und wie sie das nächste Glied bedingt.