4 Unermessliche (Brahmavihārā)

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Die Vier Unermesslichen (Brahmavihārā / Appamaññā): Herzensqualitäten und Pfad zur Befreiung im frühen Buddhismus

Eine Einführung in die vier zentralen Herzqualitäten des Buddhismus und ihre Bedeutung für den Befreiungsweg.

Einleitung: Die Vier Unermesslichen – Herzqualitäten auf dem buddhistischen Pfad

Der buddhistische Weg zur Befreiung vom Leiden (Dukkha) ist nicht allein ein intellektuelles Unterfangen, sondern betont maßgeblich die Kultivierung des Herzens und heilsamer Geisteszustände. Eine zentrale Rolle spielen dabei die sogenannten Vier Unermesslichen oder Göttlichen Verweilzustände, auf Pali als Brahmavihārā oder Appamaññā bezeichnet. Diese vier Qualitäten – Liebende Güte (Mettā), Mitgefühl (Karuṇā), Mitfreude (Muditā) und Gleichmut (Upekkhā) – stellen eine tiefgreifende Praxis dar, die darauf abzielt, das Herz zu öffnen, negative Geisteszustände zu überwinden und eine Grundlage für tiefere Einsicht und Weisheit zu schaffen.

Die Kultivierung dieser Zustände ist von immenser Bedeutung sowohl für das persönliche Wohlbefinden als auch für die Gestaltung harmonischer zwischenmenschlicher Beziehungen. Sie sind mehr als nur flüchtige Emotionen; sie repräsentieren stabile, kultivierte Geisteshaltungen, die aktiv entwickelt werden können. Es handelt sich dabei nicht um rein meditative Übungen, die auf das Sitzkissen beschränkt bleiben. Vielmehr sollen diese Qualitäten zu aktiven Tugenden werden, die das ethische Verhalten im Alltag durchdringen und motivieren. Sie bilden somit eine essentielle Brücke zwischen der formalen Meditationspraxis und dem gelebten Leben, indem sie eine Integration von Herzensqualitäten und ethischem Handeln fördern. Obwohl sie als „göttlich“ oder „erhaben“ bezeichnet werden, verweisen diese Begriffe weniger auf eine exklusive Domäne von Göttern als vielmehr auf die reine, unbegrenzte und erhabene Qualität dieser Geisteszustände. Sie stellen universell menschliche Potenziale dar, die prinzipiell von jedem Menschen, unabhängig von spezifischen Glaubenssystemen, entwickelt werden können und als innerer Reichtum gelten.

Begriffsbestimmung: Brahmavihārā und Appamaññā

Im Pali-Kanon werden für diese vier Herzensqualitäten hauptsächlich zwei Begriffe verwendet, die oft synonym gebraucht werden, aber leicht unterschiedliche Konnotationen tragen: Brahmavihārā und Appamaññā.

Brahmavihārā (ब्रह्मविहार) setzt sich zusammen aus Brahma und Vihāra. Vihāra bedeutet „Wohnstätte“, „Aufenthaltsort“ oder „Verweilzustand“. Brahma bezieht sich auf die höchste Gottheit im brahmanischen Pantheon oder allgemeiner auf das Göttliche, Erhabene. Übersetzungen lauten daher „Göttliche Verweilzustände“, „Himmlische Wohnstätten“ oder „Erhabene Haltungen“. Der Bezug zu Brahma kann auf zweierlei Weise verstanden werden: Einerseits als Ideal einer reinen, von Hass und Übelwollen freien Geisteshaltung, wie sie den Brahma-Göttern zugeschrieben wird. Andererseits verweist er auf den kosmologischen Kontext des alten Indien, wonach die intensive Praxis dieser Zustände zur Wiedergeburt in den Brahma-Welten führen kann. Historisch betrachtet handelt es sich bei den Brahmavihārā um ein prä-buddhistisches Konzept, das der Buddha aufgriff und neu interpretierte. Der Indologe Richard Gombrich vertritt die Ansicht, dass der Begriff ursprünglich einen erwachten Geisteszustand beschrieb, der dem „Leben mit Brahman“ hier und jetzt entsprach, und erst später stärker kosmologisch als Weg zur Wiedergeburt in der Brahma-Welt gedeutet wurde.

Appamaññā (अप्पमञ्ञा) bedeutet wörtlich „Unermesslichkeit“ oder „Grenzenlosigkeit“ (von a- „nicht“ + pamāṇa „Maß“). Die vier Zustände werden als Appamaññā bezeichnet, weil sie in ihrer idealen Ausübung grenzenlos auf alle fühlenden Wesen ausgedehnt werden sollen – ohne Ausnahme, ohne Limitierung oder parteiische Auswahl. Diese grenzenlose Ausrichtung ist ein Kernmerkmal der buddhistischen Praxis dieser Qualitäten.

Die Begriffe Brahmavihārā und Appamaññā werden in den Texten oft austauschbar verwendet und bezeichnen dieselben vier Geisteszustände: Mettā, Karuṇā, Muditā, Upekkhā. Appamaññā hebt dabei stärker den Aspekt der grenzenlosen, unparteiischen Ausrichtung hervor, während Brahmavihārā die erhabene, reine Qualität dieser Zustände betont. Die Verwendung beider Begriffe könnte die Integration eines bekannten brahmanischen Ideals (der Reinheit und Erhabenheit Brahmas) in ein spezifisch buddhistisches Rahmenwerk widerspiegeln. Der Buddha übernahm das Ideal der Brahmavihārā, betonte aber durch den Begriff Appamaññā die Notwendigkeit der grenzenlosen Ausdehnung als meditative Praxis und integrierte diese in den achtfachen Pfad mit dem Ziel der Befreiung (Nibbāna), nicht nur der himmlischen Wiedergeburt. Die Betonung der „Unermesslichkeit“ wirkt dabei direkt der menschlichen Neigung zu selektiver Zuneigung und Abneigung entgegen. Sie fordert dazu auf, die durch Egozentrismus und Anhaftung gezogenen Grenzen zu überwinden und eine universelle, unparteiische Haltung zu entwickeln, die für das Verständnis der Nicht-Selbsthaftigkeit (Anattā) und die Befreiung essentiell ist.

Die Vier Göttlichen Verweilzustände im Detail

Die vier Brahmavihārā oder Appamaññā sind im Einzelnen:

a) Mettā (Liebende Güte, Wohlwollen)

Definition: Mettā (मैत्ता) ist der aktive, aufrichtige Wunsch nach Glück, Sicherheit und Wohlergehen für alle fühlenden Wesen, ohne jegliche Ausnahme. Es ist eine Haltung bedingungsloser, wohlwollender Freundlichkeit, die oft als „Sanftheit des Herzens“ beschrieben wird. Mettā bildet die Grundlage, aus der die anderen drei Zustände erwachsen können.

Abgrenzung: Mettā ist klar von besitzergreifender, romantischer oder sinnlicher Liebe (pema, rāga) zu unterscheiden, die oft an Bedingungen geknüpft ist, etwas zurückerwartet und zu Anhaftung und Leiden führen kann. Mettā ist kühlend, nicht brennend, und unabhängig von den Reaktionen anderer.

Gegenteil/Hindernis: Das direkte Gegenteil von Mettā ist Übelwollen (Byāpāda), Hass, Ärger und Groll. Die Kultivierung von Mettā dient direkt der Überwindung dieser destruktiven Emotionen.

Nutzen: Die Praxis von Mettā reduziert Ärger und Hass, fördert positive Beziehungen, Empathie und ein Gefühl der Verbundenheit. Sie gilt als Schlüssel zum inneren und äußeren Frieden. Im Aṅguttara Nikāya (AN 11.16) werden elf spezifische Vorteile genannt, darunter guter Schlaf, angenehme Träume, Beliebtheit bei Menschen und nicht-menschlichen Wesen, Schutz durch Götter, Unverletzlichkeit durch Feuer, Gift oder Waffen, schnelle Konzentration, ein strahlendes Aussehen und ein Tod ohne Verwirrung.

b) Karuṇā (Mitgefühl)

Definition: Karuṇā (करुणा) ist der Wunsch, dass andere Wesen von ihrem Leiden und Schmerz befreit werden mögen. Es entsteht, wenn Mettā auf das Leiden trifft. Es wird oft als ein „Erschauern“ oder „Beben des Herzens“ angesichts des Leids anderer beschrieben. Karuṇā beinhaltet ein aktives Element – den Wunsch zu helfen und Leiden zu lindern, wo immer es möglich ist.

Abgrenzung: Karuṇā ist nicht bloßes Mitleid (engl. pity), welches oft eine herablassende Haltung beinhaltet oder im Leid des anderen verharrt. Es bedeutet auch nicht, vom Schmerz des anderen überwältigt zu werden oder mitzuleiden, was eher zu Verzweiflung führen kann. Es ist eine aktive, stärkende Zuwendung.

Gegenteil/Hindernis: Das Gegenteil von Karuṇā ist Grausamkeit, Schädigungsabsicht oder Gewalt (Vihiṁsā).

Nutzen: Karuṇā hilft, Egozentrismus zu reduzieren und Altruismus zu fördern. Es stärkt Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und die emotionale Widerstandsfähigkeit im Umgang mit eigenem und fremdem Leid.

c) Muditā (Mitfreude, Sympathische Freude)

Definition: Muditā (मुदिता) ist die Fähigkeit, sich aufrichtig am Glück, am Erfolg und am Wohlergehen anderer zu freuen – so, als wäre es das eigene Glück. Dies gilt auch dann, wenn man selbst keinen Anteil am Zustandekommen dieses Glücks hatte. Sie basiert auf der Anerkennung der Verbundenheit aller Wesen und der Einsicht, dass das Glück eines anderen zum allgemeinen Glück beiträgt.

Abgrenzung: Muditā ist das Gegenteil von Schadenfreude.

Gegenteil/Hindernis: Der „ferne Feind“ von Muditā ist Neid, Eifersucht, Missgunst und Unzufriedenheit (Arati) über die Erfolge oder das Glück anderer.

Nutzen: Die Praxis von Muditā hilft, Neid und Ressentiments aufzulösen. Sie fördert ein positives, unterstützendes Umfeld, stärkt soziale Bindungen und trägt zum eigenen Glück bei, indem sie eine großzügige und offenherzige Haltung kultiviert.

d) Upekkhā (Gleichmut, Gelassenheit)

Definition: Upekkhā (उपेक्षा) ist ein Zustand des inneren Gleichgewichts, der Gelassenheit und der Unparteilichkeit gegenüber allen Wesen, unabhängig davon, ob sie als Freunde, Feinde oder neutral betrachtet werden. Es ist eine ruhige, klare Geisteshaltung, frei von Anhaftung und Abneigung, die nicht von äußeren Umständen oder inneren Schwankungen überwältigt wird. Upekkhā ist tief in Einsicht verwurzelt, insbesondere in das Verständnis des Gesetzes von Kamma – dass alle Wesen Eigentümer und Erben ihrer Handlungen sind. Sie beinhaltet die Fähigkeit, die Dinge so anzunehmen, wie sie sind, ohne inneren Widerstand.

Abgrenzung: Upekkhā darf nicht mit Gleichgültigkeit oder Indifferenz verwechselt werden. Gleichgültigkeit verschließt das Herz und ist passiv, während Gleichmut ein Zustand wacher Präsenz, innerer Stärke und Weisheit ist, der das Herz offen hält.

Gegenteil/Hindernis: Die Hindernisse, die Upekkhā entgegenwirken, sind Begierde und Anhaftung (Rāga) sowie Abneigung, Widerstand und Hass (Paṭigha), aber auch Voreingenommenheit und Parteilichkeit.

Nutzen: Gleichmut überwindet Anhaftung und Ablehnung. Er bringt Balance, Weisheit und Stabilität in die Praxis der anderen drei Brahmavihārās und verhindert, dass diese in ihre „nahen Feinde“ (wie Sentimentalität oder Mitleid) abgleiten. Upekkhā ist besonders wichtig im Umgang mit Situationen, die außerhalb unserer Kontrolle liegen, und bildet eine wesentliche Grundlage für tiefe Einsicht (Vipassanā).

Die Reihenfolge, in der die vier Zustände oft genannt werden (Mettā, Karuṇā, Muditā, Upekkhā), scheint einer inneren Logik zu folgen: Mettā als universelles Fundament des Wohlwollens; Karuṇā und Muditā als spezifische, mitfühlende bzw. mitfreudige Antworten auf die konkreten Erfahrungen von Leid und Glück in der Welt; und Upekkhā als die höchste, ausbalancierende Qualität, die auf Weisheit beruht und die anderen drei davor bewahrt, von Anhaftung oder Ablehnung gefärbt zu werden. Die klare Unterscheidung von den „nahen Feinden“ (z.B. Mitleid statt Mitgefühl, Gleichgültigkeit statt Gleichmut) ist dabei essentiell, da nur die authentischen Brahmavihārās die befreiende Qualität besitzen und auf Weisheit basieren, nicht auf unreflektierten, anhaftenden Emotionen.

Die Kultivierung der Brahmavihārās: Meditation und Praxis

Die Brahmavihārās werden nicht nur als wünschenswerte Haltungen betrachtet, sondern auch aktiv durch spezifische Meditationspraktiken (Bhāvanā) kultiviert. Die Methode, die in den Suttas beschrieben wird, folgt einem systematischen Ansatz der Ausstrahlung dieser Geisteszustände.

Die Praxis (hier genauer beschrieben) beginnt oft mit der Ausrichtung auf sich selbst (eine Ausnahme bildet Muditā, wo die Selbstbezogenheit hinderlich sein kann), gefolgt von einer schrittweisen Erweiterung des Fokus: auf eine wohlwollende Person (Wohltäter, Lehrer), einen guten Freund, eine neutrale Person, eine schwierige Person und schließlich auf alle Wesen ohne Unterschied. Diese Ausdehnung erfolgt räumlich in alle Richtungen: die vier Himmelsrichtungen (Osten, Süden, Westen, Norden), nach oben, nach unten und ringsum, bis die ganze Welt mit dem jeweiligen Geisteszustand durchdrungen ist. Zur Unterstützung können formelhafte Sätze verwendet werden, wie „Mögen alle Wesen glücklich sein“ (Sabbe sattā bhavantu sukhitattā) für Mettā oder „Mögen alle Wesen frei sein von Leiden“ für Karuṇā.

Das unmittelbare Ziel dieser Praxis ist es, den Geisteszustand „unermesslich“ (appamāṇa), weit, erhaben, frei von Feindseligkeit und Übelwollen werden zu lassen. Dies führt zur Beruhigung des Geistes, zur Überwindung der fünf geistigen Hindernisse (Nīvaraṇa – Sinnesbegehren, Übelwollen, Trägheit/Müdigkeit, Unruhe/Sorge, Zweifel) und kann zur Erlangung tiefer meditativer Konzentration (Samādhi) bis hin zu den Vertiefungszuständen (Jhāna) führen.

Die durch die Brahmavihāra-Meditation erreichte geistige Reinheit, Ruhe und Stabilität bildet eine ausgezeichnete Grundlage für die Entwicklung von Einsicht (Vipassanā) in die wahre Natur der Phänomene – ihre Vergänglichkeit (Anicca), Leidhaftigkeit (Dukkha) und Nicht-Selbsthaftigkeit (Anattā). Die Praxis ist somit nicht nur ein Weg zur Herzensbildung, sondern auch ein tiefgreifendes Training zur Transformation der Wahrnehmung. Indem der Geist geübt wird, über egozentrische Grenzen hinauszugehen und universelle Qualitäten zu entwickeln, wird die Identifikation mit einem festen, getrennten Selbst (Attā) untergraben. Selbst diese erhabenen Geisteszustände müssen jedoch als bedingt und willentlich erzeugt (abhisaṅkhataṁ abhisañcetayitaṁ) erkannt werden, um zur endgültigen Befreiung zu führen.

Die Brahmavihārās stehen in einer dynamischen Wechselwirkung mit anderen zentralen Elementen des buddhistischen Pfades. Sie sind eng verbunden mit Achtsamkeit (Sati), Konzentration (Samādhi) und insbesondere mit den sieben Erweckungsgliedern (Bojjhaṅga). Wie in SN 46.54 dargelegt, nähren die Brahmavihārās die Entwicklung von Achtsamkeit, Energie, Freude, Ruhe, Konzentration und Gleichmut, und werden umgekehrt durch diese Faktoren gestärkt und zur vollen Entfaltung gebracht. Sie sind somit keine isolierte Praxis, sondern integraler Bestandteil des achtfachen Pfades.

Die Früchte dieser Praxis sind vielfältig. Wenn sie nicht mit tieferer Einsicht verbunden wird, kann sie zu einer günstigen Wiedergeburt führen, insbesondere in den himmlischen Brahma-Welten. Wenn sie jedoch mit Weisheit und Einsicht in die Natur der Realität kultiviert wird, kann sie zur Nicht-Wiederkehr (für Anāgāmīs) oder zur vollständigen Befreiung (Nibbāna) führen.

Schlüssel-Lehrreden (Suttas) zu den Brahmavihārās

Der Pali-Kanon enthält zahlreiche Lehrreden, die die Brahmavihārās behandeln oder erwähnen. Einige der zentralsten Texte, insbesondere aus den Sammlungen der längeren (Dīgha Nikāya, DN) und mittleren (Majjhima Nikāya, MN) Lehrreden, sowie wichtige Hinweise aus den gruppierten (Samyutta Nikāya, SN) und angereihten (Aṅguttara Nikāya, AN) Lehrreden werden im Folgenden vorgestellt. (Links zu den Reden weiter unten in der Tabelle)

Lehrreden aus Dīgha Nikāya (DN) und Majjhima Nikāya (MN):

DN 13: Tevijjasutta (Die drei Wissenden / Kenner der drei Veden): Dieses Sutta ist von besonderer Bedeutung, da es die Praxis der vier Brahmavihārās detailliert als den vom Buddha gelehrten Weg zur „Gemeinschaft mit Brahma“ beschreibt – im Kontrast zu den ritualistischen Praktiken der Brahmanen seiner Zeit. Es enthält die klassische Formel der Ausstrahlung von Mettā, Karuṇā, Muditā und Upekkhā in alle sechs Richtungen, um die ganze Welt zu durchdringen. Es ist wichtig zu verstehen, dass der Buddha hier an das den Brahmanen vertraute Ideal der Brahma-Gemeinschaft anknüpft, um seine eigene, überlegene Methode der Geistesschulung darzulegen, die letztlich über dieses Ziel hinaus zur Befreiung führt.

MN 21: Kakacūpamasutta (Das Gleichnis von der Säge): Diese Lehrrede legt den Fokus eindringlich auf die Kultivierung unerschütterlicher Liebender Güte (Mettā) und Geduld, selbst unter extremsten Provokationen und Angriffen. Der Buddha ermahnt die Mönche, ihren Geist selbst dann nicht von Hass erfüllen zu lassen, wenn Banditen sie mit einer Säge Glied für Glied zersägen würden. Stattdessen sollen sie einen Geisteszustand wie die Erde (die alles trägt), wie den leeren Raum (der unberührt bleibt) oder wie einen geschmeidigen Katzenfellbeutel (der keinen Widerstand bietet) entwickeln und die Welt mit Mettā durchdringen.

MN 52: Aṭṭhakanāgarasutta (Der Mann aus Aṭṭhakanāgara): In diesem Sutta erklärt der Ehrwürdige Ānanda dem Hausbesitzer Dasama elf verschiedene „Tore zur Todlosigkeit“ (Amatadvāra). Vier davon sind die vier Herzensbefreiungen (Cetovimutti) durch Mettā, Karuṇā, Muditā und Upekkhā, die hier gleichwertig neben den vier Jhānas und den drei höheren formlosen Errungenschaften genannt werden. Entscheidend ist die Betonung, dass diese Zustände – wie auch die Jhānas – „bedingt und willentlich erzeugt“ (abhisaṅkhataṁ abhisañcetayitaṁ) sind. Nur wenn der Praktizierende dies erkennt und Einsicht in ihre Vergänglichkeit und Bedingtheit entwickelt, kann er durch sie die Zerstörung der Triebe (Āsavakkhaya) und damit die Befreiung erlangen. Andernfalls führen sie zur Wiedergeburt in höheren Daseinsbereichen und zur Nicht-Wiederkehr.

Hinweis auf Samyutta Nikaya (SN):

Obwohl der Samyutta Nikaya Lehrreden nach Themen gruppiert, gibt es kein eigenes Kapitel (Saṃyutta), das ausschließlich den Brahmavihārās gewidmet ist. Es existiert zwar ein Brahma Saṃyutta (SN 6), dieses behandelt jedoch Begegnungen des Buddha mit Brahma-Gottheiten und nicht die Meditationspraxis der Brahmavihārās.

SN 46.54: Mettāsahagatasutta (Begleitet von Liebender Güte) / (Haliddavasana-)Sutta: Dieses Sutta findet sich innerhalb des Bojjhaṅga Saṃyutta (SN 46 – Verbundene Lehrreden über die Erweckungsglieder). Es ist von großer Bedeutung, da es die Praxis der Brahmavihārās direkt mit der Kultivierung der sieben Erweckungsglieder (Bojjhaṅga) verknüpft. Der Buddha erklärt hier auf Nachfrage von Mönchen, die von Andersgläubigen angesprochen wurden, den Unterschied: Während andere Asketengruppen ebenfalls die Brahmavihārās lehren mögen, lehrt der Buddha deren vollständige Entwicklung in Verbindung mit den Bojjhaṅgas, was zur höchsten Entfaltung und zur Befreiung führt. Dies legt nahe, dass die Brahmavihārās im SN weniger als isoliertes Thema, sondern eher als eine grundlegende Qualität betrachtet werden, die den gesamten Befreiungsweg durchdringt und mit anderen zentralen Faktoren wie den Bojjhaṅgas synergetisch wirkt.

Wichtige Lehrreden aus dem Aṅguttara Nikāya (AN):

Der Aṅguttara Nikāya, die Sammlung der angereihten Lehrreden, enthält mehrere wichtige Suttas zu den Brahmavihārās:

AN 4.125 & AN 4.126: (Paṭhama/Dutiya) Mettāsutta (Erste/Zweite Lehrrede über Liebende Güte): Diese beiden kurzen Suttas beschreiben vier mögliche karmische Konsequenzen der Brahmavihāra-Praxis, abhängig vom Grad der Entwicklung und der erreichten Einsicht. Sie reichen von der Wiedergeburt in verschiedenen himmlischen Bereichen (entsprechend den ersten vier Jhānas, obwohl diese direkte Zuordnung manchmal als etwas konstruiert betrachtet wird) bis hin zur endgültigen Befreiung (Nibbāna) in eben jener Existenz für einen edlen Schüler.

AN 10.208: Brahmavihāra Sutta (Die Göttlichen Verweilzustände): (In manchen Editionen als AN 10.218 nummeriert). Dieses Sutta gibt eine detaillierte Beschreibung der Ausstrahlungspraxis für Mettā, Karuṇā, Muditā und Upekkhā. Es betont die ethische und karmische Dimension: Wer diese Haltungen von Jugend an kultiviert, würde keine üble Tat begehen und daher kein Leiden erfahren. Für einen Mönch, der hier Gnosis erlangt hat, aber keine höhere Befreiung durchdringt, führt die entwickelte Herzensbefreiung durch Mettā oder Upekkhā zur Nicht-Wiederkehr.

AN 11.16: Mettānisaṁsa Sutta (Lehrrede über die Vorteile von Liebender Güte): (Manchmal als AN 11.15 gezählt). Dieses populäre Sutta listet elf konkrete Vorteile auf, die aus der gut entwickelten Praxis der Liebenden Güte (Mettā) resultieren (siehe Abschnitt 3a).

Übersicht ausgewählter Schlüssel-Lehrreden:

Sutta-Nr. Pali-Name Gebräuchlicher Deutscher Name Relevanz für Brahmavihārās SuttaCentral Link (DE/EN)
DN 13 Tevijjasutta Die drei Wissenden Beschreibt Praxis der Ausstrahlung als Weg zur Brahma-Gemeinschaft; klassische Formel. DN 13 (DE) / DN 13 (EN)
MN 21 Kakacūpamasutta Gleichnis von der Säge Betonung von Mettā und Geduld bei Widrigkeiten; eindringliche Gleichnisse. MN 21 (DE) / MN 21 (EN)
MN 52 Aṭṭhakanāgarasutta Der Mann aus Aṭṭhakanāgara „Appamaññā als „“Tore zur Todlosigkeit““; bedingt & willentlich erzeugt; erfordert Einsicht. MN 52 (DE) / MN 52 (EN)
SN 46.54 Mettāsahagatasutta Begleitet von Liebender Güte Verbindung von Brahmavihārās und Erweckungsgliedern (Bojjhaṅga); Unterscheidung von anderen. SN 46.54 (DE) / SN 46.54 (EN)
AN 4.125 Paṭhamamettāsutta Erste Lehrrede über Liebende Güte Verbindung zu Wiedergeburt entsprechend Jhāna-Stufen oder Befreiung für Edle. AN 4.125 (DE) / AN 4.125 (EN)
AN 10.208 Brahmavihāra Sutta Die Göttlichen Verweilzustände Detaillierte Praxisbeschreibung; karmische Früchte (kein Leid); Nicht-Wiederkehr. AN 10.208 (DE) / AN 10.208 (EN) (ggf. AN 10.218 suchen)
AN 11.16 Mettānisaṁsa Sutta Vorteile von Liebender Güte Auflistung von elf konkreten Vorteilen der Mettā-Praxis. AN 11.16 (DE) / AN 11.16 (EN) (ggf. AN 11.15 suchen)

Diese Auswahl bietet einen guten Einstiegspunkt für Interessierte, die die Lehren zu den Brahmavihārās in den ursprünglichen Texten vertiefen möchten.

Verwandte Konzepte im buddhistischen Kontext

Die Brahmavihārās sind tief in das Gesamtgefüge der buddhistischen Lehre und Praxis eingebettet und stehen in engem Zusammenhang mit anderen zentralen Konzepten:

Ethik (Sīla): Eine ethische Lebensführung ist die Grundlage für die Entwicklung von Geisteszuständen wie den Brahmavihārās. Die Vermeidung von schädlichen Handlungen (Nicht-Töten, Nicht-Stehlen etc.) schafft die Voraussetzung für inneren Frieden und erleichtert die Kultivierung von Wohlwollen und Mitgefühl. Umgekehrt motiviert die Praxis von Mettā und Karuṇā zu ethischem Verhalten und gibt den ethischen Regeln (z.B. den Fünf Silas) eine tiefere, herzensbasierte Bedeutung.

Konzentration (Samādhi) / Vertiefung (Jhāna): Die Brahmavihārās dienen häufig als Meditationsobjekte zur Entwicklung von geistiger Sammlung und Ruhe (Samatha). Die systematische Ausstrahlung von Mettā etc. kann den Geist so sehr beruhigen und fokussieren, dass er in die meditativen Vertiefungen (Jhāna) eintreten kann. Ein stabiler, konzentrierter Geist ist wiederum notwendig, um die Brahmavihārās in ihrer vollen Tiefe und Unermesslichkeit zu entfalten.

Weisheit (Paññā): Während Mettā, Karuṇā und Muditā primär emotionale Qualitäten sind, ist Upekkhā (Gleichmut) untrennbar mit Weisheit und Einsicht verbunden. Die durch die Brahmavihāra-Praxis erlangte geistige Klarheit, Reinheit und Ruhe schafft zudem eine ideale Basis für die Entwicklung von Einsicht (Vipassanā) in die drei Daseinsmerkmale (Anicca, Dukkha, Anattā). Die Brahmavihārās allein führen nicht zur Befreiung; erst die Verbindung mit Weisheit (Paññāvimutti) vollendet den Pfad.

Befreiung (Vimutti / Nibbāna): Das letztendliche Ziel des buddhistischen Pfades ist die Befreiung vom Leiden. Die Brahmavihārās werden im Kanon als „Herzensbefreiungen“ (Cetovimutti) bezeichnet. Sie befreien das Herz von Hass, Grausamkeit, Neid und Unruhe. In Synergie mit der „Befreiung durch Weisheit“ (Paññāvimutti) führen sie zur vollständigen Erlösung (Nibbāna).

Hindernisse (Nīvaraṇa): Die fünf Hindernisse (Nīvaraṇa) blockieren den meditativen Fortschritt und geistige Klarheit. Die Kultivierung der Brahmavihārās wirkt diesen direkt entgegen: Mettā überwindet Übelwollen (Byāpāda); Karuṇā wirkt Grausamkeit (Vihiṁsā) entgegen; Muditā bekämpft Neid und Unzufriedenheit (Arati, verwandt mit Uddhacca-Kukkucca); Upekkhā neutralisiert Anhaftung (Kāmacchanda) und Ablehnung (Byāpāda in feinerer Form). Sie fungieren somit als wirksame psychologische „Gegenmittel“ zu unheilsamen Geisteszuständen.

Erweckungsglieder (Bojjhaṅga): Wie in SN 46.54 gezeigt, besteht eine enge Wechselwirkung zwischen den Brahmavihārās und den sieben Faktoren, die zum Erwachen führen (Bojjhaṅga: Achtsamkeit, Wirklichkeitsergründung, Energie, Freude, Ruhe, Sammlung, Gleichmut). Die Praxis der Unermesslichen nährt die Entstehung und Stärkung der Bojjhaṅgas, und die entwickelten Bojjhaṅgas wiederum verfeinern und vertiefen die Brahmavihārās.

Diese Verbindungen zeigen, dass die Brahmavihārās keine isolierte Technik darstellen, sondern als ein zentrales Bindeglied innerhalb des achtfachen Pfades fungieren. Sie wurzeln in ethischem Verhalten (Sīla), werden durch meditative Konzentration (Samādhi) kultiviert und bereiten den Geist optimal auf die Entwicklung befreiender Weisheit (Paññā) vor.

Zusammenfassung und Ausblick

Die Vier Unermesslichen oder Göttlichen Verweilzustände – Brahmavihārā oder Appamaññā – stellen eine zentrale und tiefgründige Praxis im frühen Buddhismus dar. Sie umfassen Liebende Güte (Mettā), Mitgefühl (Karuṇā), Mitfreude (Muditā) und Gleichmut (Upekkhā). Diese vier Qualitäten sind mehr als nur positive Emotionen; sie sind kultivierbare Geisteshaltungen, die durch systematische Meditation grenzenlos auf alle Wesen ausgedehnt werden sollen.

Die Praxis der Brahmavihārās dient der Überwindung negativer Geisteszustände wie Hass, Grausamkeit, Neid und Anhaftung/Ablehnung. Sie fördert ethisches Verhalten (Sīla), entwickelt geistige Sammlung (Samādhi) und schafft eine stabile Grundlage für das Entstehen von Weisheit (Paññā).

Die Suttas des Pali-Kanons, insbesondere Texte wie das Tevijjasutta (DN 13), das Kakacūpamasutta (MN 21), das Aṭṭhakanāgarasutta (MN 52), das Mettāsahagatasutta (SN 46.54) sowie verschiedene Lehrreden im Aṅguttara Nikāya (AN 4.125, AN 10.208, AN 11.16), beleuchten unterschiedliche Aspekte dieser Praxis – von der meditativen Methode über ihre karmischen Früchte bis hin zu ihrer Rolle als direktes Tor zur Befreiung.

Die Brahmavihārās bieten sowohl einen Weg zu relativem Glück, innerem Frieden und einer günstigen Wiedergeburt als auch einen integralen Bestandteil des Pfades zur höchsten Befreiung, Nibbāna. Ihre volle transformative Kraft entfalten sie jedoch erst im Zusammenspiel mit der Einsicht in die wahre Natur der Wirklichkeit. Sie sind somit ein Ausdruck der untrennbaren Verbindung von Herz und Geist auf dem buddhistischen Weg.

Die Beschäftigung mit den Lehrreden und die Integration dieser vier Herzensqualitäten in die eigene Meditationspraxis und den Alltag können zu tiefgreifenden positiven Veränderungen führen und besitzen einen universellen Wert, der weit über den spezifisch buddhistischen Kontext hinausreicht. Sie laden dazu ein, das eigene Herz als Quelle von unermesslichem Wohlwollen, Mitgefühl, Freude und Gelassenheit zu entdecken und zu kultivieren.

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Zusätzliche Informationen zum Thema

Anleitung Brahmavihara
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Praxis der Brahmavihārā: Eine Anleitung zur Entfaltung des Herzens
Die Brahmavihārā sind die vier unermesslichen Geisteshaltungen: Liebende Güte (Mettā), Mitgefühl (Karuṇā), Mitfreude (Muditā) und Gleichmut (Upekkhā). In diesem Abschnitt lernst du, wie du diese Qualitäten in deinem Herzen entfaltest, deine Beziehungen transformierst und eine tiefere Verbindung zu allen Lebewesen aufbaust. Schritt für Schritt führen wir dich von den Grundlagen bis zur fortgeschrittenen Praxis.