
Dhammavicaya – Untersuchung als Schlüssel zur buddhistischen Einsicht
Die Rolle von Analyse und Erforschung der Phänomene auf dem Weg zur Befreiung
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Dhammavicaya – Untersuchung als Weg zur Einsicht
- Was bedeutet Dhammavicaya? Definition und Übersetzung
- Dhammavicaya als Erleuchtungsglied (Bojjhaṅga)
- Zugehörige Konzepte: Das Netzwerk der Weisheit
- Dhammavicaya in den Lehrreden (Suttas)
- Zusammenfassung und Ausblick
- Anhang: Wichtige Pali-Begriffe
- Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente
Einleitung: Dhammavicaya – Untersuchung als Weg zur Einsicht
Auf dem buddhistischen Weg zur Befreiung von Leiden (dukkha) nimmt die Entwicklung von Weisheit (paññā) eine zentrale Stellung ein. Ein entscheidendes Werkzeug auf diesem Weg ist Dhammavicaya, ein Pali-Begriff, der oft mit „Untersuchung der Lehre“ oder „Erforschung der Phänomene“ übersetzt wird. Es handelt sich hierbei nicht um eine rein intellektuelle Übung, sondern um eine aktive geistige Fähigkeit, die tief in der meditativen Praxis verwurzelt ist.
Dhammavicaya ermöglicht es dem Übenden, über oberflächliches Verständnis hinauszugehen und zur direkten, befreienden Einsicht (vipassanā) in die wahre Natur der Wirklichkeit vorzudringen. Dieser Bericht beleuchtet die Bedeutung von Dhammavicaya, seine Rolle als einer der sieben Erleuchtungsglieder (satta bojjhaṅgā) und seine Verankerung in den Lehrreden des Palikanons.
Was bedeutet Dhammavicaya? Definition und Übersetzung
Der Begriff Dhammavicaya ist ein Kompositum aus zwei Pali-Wörtern:
- Dhamma: Dieses Wort ist eines der vielschichtigsten im Buddhismus. Es kann die Lehre des Buddha, die Wahrheit, ein Naturgesetz, aber auch ein Phänomen, einen Daseinsfaktor oder einen Geisteszustand bezeichnen.
- Vicaya: Abgeleitet vom Verb vicināti (untersuchen, prüfen), bedeutet vicaya Untersuchung, Erforschung, Analyse, Unterscheidung oder Diskriminierung.
Aufgrund dieser Vielschichtigkeit gibt es eine Reihe gängiger deutscher Übersetzungen, darunter „Untersuchung der Lehre“, „Erforschung der Phänomene“, „Unterscheidung der Daseinsfaktoren“, „Prüfung der Wirklichkeit“ oder „Wahrheitssuche“. Diese Bandbreite spiegelt die Tiefe und den Anwendungsbereich des Begriffs wider.
Im Kern bezeichnet Dhammavicaya die Fähigkeit, die in der Erfahrung auftretenden Phänomene (dhammas) – insbesondere die eigenen Geisteszustände – zu analysieren und klar zu unterscheiden. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Unterscheidung zwischen:
- Heilsamen (kusala) und unheilsamen (akusala) Zuständen
- Tadelnswerten (sāvajja) und tadellosen (anavajja) Zuständen
- Geringen (hīna) und erhabenen (paṇīta) Zuständen
- Dunklen (kaṇha) und hellen (sukka) Zuständen.
Ein wesentliches Merkmal von Dhammavicaya ist seine doppelte Ausrichtung: Es bezieht sich sowohl auf die Untersuchung der Lehre Buddhas (Dhamma) im Sinne eines intellektuellen Verstehens der buddhistischen Prinzipien als auch auf die direkte, meditative Erforschung der unmittelbar erfahrenen körperlichen und geistigen Phänomene (dhammas). Der Gelehrte Rupert Gethin formulierte treffend: „Im buddhistischen Denken bedeutet, Dhamma auseinanderzunehmen, meines Erachtens, bei den dhammas zu landen. Dhammavicaya bedeutet also entweder die ‚Unterscheidung der dhammas‘ oder die ‚Erkenntnis des Dhamma‘; dhammas zu unterscheiden ist genau das, Dhamma zu erkennen.“.
Diese scheinbare Ambivalenz des Begriffs – bezieht er sich nun auf die Lehre oder auf die Phänomene? – ist kein Zeichen mangelnder Präzision. Vielmehr spiegelt sie ein fundamentales Prinzip der buddhistischen Praxis wider: Das theoretische Verständnis der Lehre (pariyatti) muss durch die praktische Anwendung in der Meditation (paṭipatti) und die daraus resultierende durchdringende Einsicht (paṭivedha) verwirklicht werden. Die Lehre dient als Landkarte, doch die eigentliche Reise geschieht durch die direkte Untersuchung der eigenen Erfahrung. Dhammavicaya ist das entscheidende Instrument, das diese Brücke zwischen Theorie und direkter Erfahrung schlägt, indem es die in der Meditation beobachteten Phänomene im Licht der Lehre analysiert und umgekehrt die Lehre durch die eigene Erfahrung validiert.
Dhammavicaya als Erleuchtungsglied (Bojjhaṅga)
Dhammavicaya ist nicht nur ein allgemeines Prinzip, sondern auch ein spezifischer Faktor innerhalb einer der wichtigsten Lehrgruppen des Palikanons: den Sieben Erleuchtungsgliedern (satta bojjhaṅgā). Diese Gruppe beschreibt sieben geistige Qualitäten, die, wenn sie kultiviert werden, zur vollen Erleuchtung (bodhi) führen. Bojjhaṅga bedeutet wörtlich „Faktor“ (aṅga) der „Erleuchtung“ (bodhi).
Die Sieben Erleuchtungsglieder (satta bojjhaṅgā)
Nr. | Pali-Begriff | Deutsche Übersetzung | Kurzbeschreibung |
---|---|---|---|
1 | Sati | Achtsamkeit | Gegenwärtiges Gewahrsein der Realität (Körper, Gefühle, Geist, Geistesobjekte) |
2 | Dhammavicaya | Untersuchung der Phänomene/Lehre | Aktive Analyse und Unterscheidung der erfahrenen Zustände (heilsam/unheilsam) |
3 | Viriya | Energie, Willenskraft, Anstrengung | Beharrliche Bemühung auf dem Weg, Rechte Anstrengung |
4 | Pīti | Freude, Verzückung | Freudiges Interesse und Wohlgefühl, das durch die Praxis entsteht |
5 | Passaddhi | Ruhe, Stille | Beruhigung und Gelassenheit von Körper und Geist |
6 | Samādhi | Konzentration, Sammlung des Geistes | Einspitzigkeit des Geistes, Fähigkeit zur tiefen Versenkung |
7 | Upekkhā | Gleichmut | Ausgeglichenheit, Nicht-Anhaften, Akzeptanz der Realität ohne Begierde/Abneigung |
Innerhalb dieser Sequenz nimmt Dhammavicaya die zweite Position ein. Es entsteht typischerweise, nachdem Achtsamkeit (sati) etabliert wurde. Sati nimmt die Phänomene wahr, die im Bewusstseinsstrom auftauchen, und Dhammavicaya übernimmt dann die Aufgabe, diese wahrgenommenen Objekte oder Zustände aktiv zu untersuchen, zu analysieren und zu unterscheiden. Diese Untersuchung ebnet den Weg für den dritten Faktor, die Energie (viriya), die dann gezielt eingesetzt werden kann, um heilsame Zustände zu fördern und unheilsame zu überwinden.
Die Kultivierung von Dhammavicaya wird gemäß den Lehrreden genährt (āhāra) durch die wiederholte Anwendung von „weiser Aufmerksamkeit“ oder „systematischem Erwägen“ (yoniso manasikāra) auf die Unterscheidung von heilsamen und unheilsamen, tadelnswerten und tadellosen, niederen und höheren, dunklen und lichten Geisteszuständen. Andere förderliche Bedingungen sind das Befragen über die Lehre, körperliche und äußere Reinheit, das Ausbalancieren der fünf spirituellen Fähigkeiten (indriya: Glaube, Energie, Achtsamkeit, Konzentration, Weisheit) und der Umgang mit weisen Personen.
Dhammavicaya spielt auch eine entscheidende Rolle beim Ausbalancieren des Geistes während der Meditation. Ist der Geist träge, schläfrig oder stumpf (Zustand von thīna-middha), soll der Meditierende gezielt Dhammavicaya zusammen mit Energie (viriya) und Freude (pīti) kultivieren, um den Geist zu beleben und zu energetisieren. Ist der Geist hingegen unruhig, aufgewühlt oder zerstreut (Zustand von uddhacca-kukkucca), sollen die beruhigenden Faktoren Ruhe (passaddhi), Konzentration (samādhi) und Gleichmut (upekkhā) entwickelt werden. Achtsamkeit (sati) wird dabei als universell nützlich betrachtet, da sie die Grundlage für die richtige Einschätzung des Geisteszustandes und die Wahl der geeigneten Faktoren bildet.
Betrachtet man die funktionale Abfolge sati → dhammavicaya → viriya, wird deutlich, dass Dhammavicaya mehr ist als nur passive Beobachtung. Es fungiert als der aktive „Intelligenzfaktor“ innerhalb der Erleuchtungsglieder. Sati liefert die Rohdaten – die reine Wahrnehmung dessen, was ist. Dhammavicaya verarbeitet diese Daten, analysiert sie im Licht der Lehre (insbesondere hinsichtlich ihrer Heilsamkeit) und trifft eine Unterscheidung. Diese Unterscheidung ist die notwendige Voraussetzung für den gezielten Einsatz von viriya im Sinne der Rechten Anstrengung: das Fördern des Heilsamen und das Überwinden des Unheilsamen. Dhammavicaya ist somit die angewandte Intelligenz, die achtsame Wahrnehmung in eine zielgerichtete, den Geist formende Aktivität übersetzt.
Zugehörige Konzepte: Das Netzwerk der Weisheit
Dhammavicaya steht nicht isoliert da, sondern ist eng verwoben mit anderen zentralen Konzepten des buddhistischen Pfades, insbesondere solchen, die mit Weisheit und Einsicht zu tun haben.
- Verbindung zu Paññā (Weisheit): In vielen Textstellen wird Dhammavicaya als eine spezifische Funktion oder sogar als Synonym für paññā (Weisheit, Einsicht, Verstehen) betrachtet. Es repräsentiert die unterscheidende, analytische Facette der Weisheit, die aktiv in der Praxis angewendet wird.
- Verbindung zu Sammā Diṭṭhi (Rechte Erkenntnis): Als unterscheidende Weisheit ist Dhammavicaya untrennbar mit der Rechten Erkenntnis (sammā diṭṭhi), dem ersten Glied des Edlen Achtfachen Pfades (ariya aṭṭhaṅgika magga), verbunden. Rechte Erkenntnis beinhaltet das korrekte Verständnis der fundamentalen Wahrheiten des Daseins – insbesondere der Vier Edlen Wahrheiten, des Prinzips von Karma und Wiedergeburt sowie der Natur der Phänomene als bedingt entstanden, unbeständig (anicca), leidhaft (dukkha) und ohne einen festen Wesenskern (anattā). Dhammavicaya ist das Werkzeug, mit dem dieses Verständnis durch direkte Untersuchung vertieft und zur persönlichen Realisierung gebracht wird.
- Zusammenspiel mit Sati und Viriya: Wie bereits erwähnt, bildet Dhammavicaya das Bindeglied zwischen Achtsamkeit (sati) und Energie/Anstrengung (viriya). Sati stellt die Beobachtung bereit, Dhammavicaya analysiert und bewertet sie (insbesondere hinsichtlich Heilsamkeit), und Viriya setzt die gewonnene Einsicht in die Tat um, indem es heilsame Qualitäten kultiviert und unheilsame aufgibt (im Sinne der Vier Rechten Anstrengungen: Vermeiden von neuem Unheilsamen, Überwinden von vorhandenem Unheilsamen, Entfalten von neuem Heilsamen, Bewahren von vorhandenem Heilsamen).
- Objekte der Untersuchung: Die „Phänomene“ (dhammas), die Gegenstand der Untersuchung durch Dhammavicaya sind, umfassen ein breites Spektrum der buddhistischen Lehre und der menschlichen Erfahrung. Dazu gehören nicht nur die bereits genannten heilsamen und unheilsamen Geisteszustände, sondern auch grundlegende Analysekategorien der Wirklichkeit wie die Fünf Aggregate des Anhaftens (pañca upādānakkhandhā: Form, Gefühl, Wahrnehmung, Geistesformationen, Bewusstsein), die Sechs inneren und äußeren Sinnengrundlagen (saḷāyatana), die Sieben Erleuchtungsglieder selbst, die Vier Edlen Wahrheiten (ariya-sacca), die drei Daseinsmerkmale (tilakkhaṇa: Unbeständigkeit, Leidhaftigkeit, Nicht-Selbst) und das Gesetz des Bedingten Entstehens (paṭiccasamuppāda).
- Vorkommen in anderen Lehrgruppen: Die Funktion der untersuchenden Weisheit findet sich auch in anderen wichtigen Lehrgruppen innerhalb der 37 Erleuchtungsflügel (bodhipakkhiyā dhammā). In den Vier Grundlagen der Kraft (cattāro iddhipādā) erscheint sie als vīmaṁsā (Erforschung, Untersuchung). In den Fünf Fähigkeiten (pañca indriyāni) und den Fünf Kräften (pañca balāni) ist sie als paññā (Weisheit) vertreten.
Diese vielfältigen Bezüge zeigen, dass Dhammavicaya nicht nur ein isolierter Faktor ist, sondern ein universelles Prinzip der „angewandten Weisheit“ darstellt, das für den Fortschritt auf dem gesamten buddhistischen Pfad unerlässlich ist. Es taucht in verschiedenen Schlüssel-Lehrformulierungen unter leicht variierenden Namen auf (dhammavicaya, vīmaṁsā, paññā, sammā diṭṭhi), was seine fundamentale Bedeutung unterstreicht. Es ist stets die Fähigkeit, die Realität durch Unterscheidung und Analyse zu durchdringen und die Praxis entsprechend auszurichten, die als Bindeglied zwischen achtsamer Wahrnehmung, energetischer Anstrengung und letztlich befreiender Einsicht fungiert.
Dhammavicaya in den Lehrreden (Suttas)
Die Bedeutung und Anwendung von Dhammavicaya wird in zahlreichen Lehrreden des Palikanons erläutert. Die folgenden Beispiele aus den großen Sammlungen (Nikāyas) illustrieren seine Rolle besonders gut. Alle Zitate und Referenzen beziehen sich auf die Texte, wie sie auf SuttaCentral.net zugänglich sind.
Dīgha Nikāya (DN) – Die Sammlung der langen Lehrreden:
- DN 22 – Mahāsatipaṭṭhāna Sutta (Die Große Lehrrede über die Grundlagen der Achtsamkeit): Diese berühmte Lehrrede ist eine der grundlegendsten Anleitungen zur Meditationspraxis. Dhammavicaya spielt hier eine Schlüsselrolle im vierten Bereich der Achtsamkeitsmeditation, der Betrachtung der Geistobjekte oder Phänomene (Dhammānupassanā). In diesem Abschnitt wird der Praktizierende angeleitet, verschiedene Kategorien von Phänomenen mit Achtsamkeit zu betrachten und ihre Natur zu untersuchen. Dazu gehören:
- Die Fünf Hindernisse (nīvaraṇa)
- Die Fünf Aggregate des Anhaftens (khandha)
- Die Sechs inneren und äußeren Sinnengrundlagen (āyatana)
- Die Sieben Erleuchtungsglieder (bojjhaṅga) selbst
- Die Vier Edlen Wahrheiten (ariya-sacca).
Der wiederkehrende Refrain in der Sutta betont, dass man diese Phänomene „in sich selbst“ (ajjhattaṃ), „außerhalb“ (bahiddhā) und „sowohl innen als auch außen“ (ajjhattabahiddhā) betrachtet und dabei ihre Natur des Entstehens (samudaya-dhamma) und Vergehens (vaya-dhamma) erkennt. Diese Analyse des Entstehens und Vergehens ist eine direkte Anwendung von Dhammavicaya, die zur Einsicht in die Unbeständigkeit (anicca), Leidhaftigkeit (dukkha) und Nicht-Selbst-Natur (anattā) führt.
Quelle: DN 22, Mahāsatipaṭṭhāna Sutta (Große Lehrrede über die Grundlagen der Achtsamkeit), via SuttaCentral.net.
Majjhima Nikāya (MN) – Die Sammlung der mittleren Lehrreden:
- MN 10 – Satipaṭṭhāna Sutta (Lehrrede über die Grundlagen der Achtsamkeit): Diese Lehrrede ist inhaltlich weitgehend identisch mit DN 22, jedoch etwas kürzer (sie enthält z.B. keine ausführliche Analyse der Vier Edlen Wahrheiten). Auch hier ist Dhammavicaya für die vierte Grundlage, die Betrachtung der Geistobjekte (Dhammānupassanā), essentiell. Die Untersuchung der Phänomene hinsichtlich ihres Entstehens und Vergehens ist integraler Bestandteil der Praxis.
Quelle: MN 10, Satipaṭṭhāna Sutta (Lehrrede über die Grundlagen der Achtsamkeit), via SuttaCentral.net. - MN 118 – Ānāpānasati Sutta (Lehrrede über die Achtsamkeit auf den Atem): Diese wichtige Lehrrede beschreibt detailliert, wie die sechzehnstufige Praxis der Achtsamkeit auf den Atem (ānāpānasati) zur vollständigen Entwicklung der vier Grundlagen der Achtsamkeit (satipaṭṭhāna) führt, und wie diese wiederum die sieben Erleuchtungsglieder (bojjhaṅgā) zur Reife bringen. Die Sutta erklärt explizit den Übergang von Achtsamkeit zu Untersuchung: Wenn Achtsamkeit (sati) etabliert ist, beginnt der Praktizierende, den beobachteten Zustand (z.B. den Atem, Gefühle, Geisteszustände oder spezifische dhammas wie Unbeständigkeit) mit Weisheit (paññāya) zu untersuchen (pavicināti), zu prüfen (pavicarati) und einer vollständigen Erforschung (parivīmaṁsaṁ āpajjati) zu unterziehen. In diesem Moment wird das Erleuchtungsglied Dhammavicaya geweckt und entwickelt.
Quelle: MN 118, Ānāpānasati Sutta (Lehrrede über die Achtsamkeit auf den Atem), via SuttaCentral.net.
Samyutta Nikāya (SN) – Die Sammlung der verbundenen Lehrreden:
- SN 46 – Bojjhaṅga Saṃyutta (Sammlung über die Erleuchtungsglieder): Dies ist die umfangreichste und detaillierteste Quelle zu den satta bojjhaṅgā im Palikanon. Dieses Kapitel (Saṃyutta) versammelt Dutzende von kurzen Lehrreden, die sich ausschließlich mit den sieben Faktoren beschäftigen. Hier finden sich:
- Definitionen (z.B. SN 46.5: Sie heißen bojjhaṅgā, weil sie zur Erleuchtung führen).
- Bedingungen für ihr Entstehen und ihre Nahrung (āhāra), z.B. in SN 46.2 und SN 46.51 wird yoniso manasikāra bezüglich heilsamer/unheilsamer Zustände als Nahrung für Dhammavicaya genannt.
- Beschreibungen ihrer Entwicklung und ihres Zusammenspiels.
- Zahlreiche Metaphern, z.B. die Flüsse, die zum Ozean fließen (SN 46.1), das Giebelhaus, dessen Sparren zum First streben (SN 46.7), oder der Vergleich mit verschiedenfarbigen Gewändern, die man nach Belieben anlegen kann (SN 46.4).
- Praktische Anleitungen, wie die berühmte Feuer-Analogie in SN 46.53, die erklärt, wann welche Faktoren (die energetisierenden um Dhammavicaya oder die beruhigenden um Passaddhi) zu kultivieren sind, um den Geist auszubalancieren.
Quelle: SN 46, Bojjhaṅga Saṃyutta (Sammlung über die Erleuchtungsglieder), via SuttaCentral.net.
Aṅguttara Nikāya (AN) – Die Sammlung der angereihten Lehrreden:
Während das SN das dedizierte Kapitel zu den Bojjhaṅgā enthält, finden sich auch im AN relevante Lehrreden, die Aspekte von Dhammavicaya oder verwandte Konzepte beleuchten. Eine spezifische, herausragende Lehrrede, die Dhammavicaya umfassend definiert, ist hier jedoch weniger prominent als im SN.
- AN 7.67 (oft als 7.63 zitiert) – Nagaropama Sutta (Gleichnis von der Grenzfeste): Diese Lehrrede verwendet eine ausführliche Metapher einer gut gesicherten Grenzfeste, um die sieben „wahren Qualitäten“ (satta saddhamma) eines edlen Schülers zu illustrieren. Diese Qualitäten schützen den Praktizierenden vor den Angriffen der „Feinde“ (Begierde, Hass, Verblendung). Die siebte und letzte dieser Qualitäten, die als starke, hohe und verputzte Mauer beschrieben wird, ist Weisheit (paññā). Da Dhammavicaya eine zentrale Funktion von paññā ist, illustriert diese Sutta eindrücklich die schützende und stabilisierende Rolle der untersuchenden Weisheit im Gesamtkontext des buddhistischen Pfades, auch wenn sie Dhammavicaya nicht namentlich in diesem Detailgrad behandelt.
Quelle: AN 7.67 (oder 7.63), Nagaropama Sutta (Gleichnis von der Grenzfeste), via SuttaCentral.net.
Die Betrachtung dieser Lehrreden macht deutlich, dass Dhammavicaya weit mehr ist als ein abstraktes Konzept. Es wird als eine dynamische, meditative Praxis dargestellt, die sich aus der Achtsamkeit entwickelt (Ānāpānasati Sutta), in spezifischen meditativen Rahmenwerken angewendet wird (Satipaṭṭhāna Sutta) und aktiv zur Formung und Ausbalancierung des Geistes beiträgt (Bojjhaṅga Saṃyutta). Es ist ein prozessorientiertes Werkzeug zur Kultivierung von Einsicht, kein statischer Zustand.
Zusammenfassung und Ausblick
Dhammavicaya, die Untersuchung der Lehre und der Phänomene, ist eine essentielle geistige Fähigkeit auf dem buddhistischen Weg. Sie repräsentiert die aktive, unterscheidende Weisheit (paññā), die sowohl auf das intellektuelle Verständnis der Lehre (Dhamma) als auch auf die direkte, meditative Erfahrung der körperlichen und geistigen Prozesse (dhammas) angewendet wird.
Als zweites der Sieben Erleuchtungsglieder (satta bojjhaṅgā) spielt Dhammavicaya eine zentrale Rolle: Es analysiert die durch Achtsamkeit (sati) präsentierten Erfahrungen, unterscheidet zwischen heilsam und unheilsam und gibt so die Richtung für den Einsatz von Energie (viriya) vor. Es ist eng verbunden mit der Rechten Erkenntnis (sammā diṭṭhi) und dient als Werkzeug zur Realisierung der grundlegenden Wahrheiten des Buddhismus.
Die Lehrreden des Palikanons, insbesondere die Satipaṭṭhāna Suttas (DN 22, MN 10), die Ānāpānasati Sutta (MN 118) und die Texte des Bojjhaṅga Saṃyutta (SN 46), zeigen Dhammavicaya als eine dynamische Praxis, die in der Meditation kultiviert wird, um den Geist zu klären, auszubalancieren und zur befreienden Einsicht zu führen.
Für alle, die ihr Verständnis dieses wichtigen Aspekts der buddhistischen Praxis vertiefen möchten, sei das Studium der hier genannten Lehrreden auf SuttaCentral.net empfohlen. Die direkte Auseinandersetzung mit den Worten des Buddha bietet die reichhaltigste Quelle für Inspiration und Einsicht.
Anhang: Wichtige Pali-Begriffe
- Ānāpānasati: Achtsamkeit auf den Atem
- Bojjhaṅga: Erleuchtungsglied (Faktor der Erleuchtung)
- Dhamma: Lehre, Wahrheit, Naturgesetz, Phänomen, Geisteszustand, Daseinsfaktor
- Dhammavicaya: Untersuchung der Lehre/Phänomene, Unterscheidung von Geisteszuständen/Daseinsfaktoren, Prüfung der Wirklichkeit
- Khandha: Aggregat, Daseinsgruppe (Form, Gefühl, Wahrnehmung, Geistesformationen, Bewusstsein)
- Kusala / Akusala: Heilsam / Unheilsam (ethisch und psychologisch förderlich/hinderlich für die Befreiung)
- Magga: Pfad (hier: Edler Achtfacher Pfad)
- Nikāya: Sammlung (von Lehrreden im Palikanon)
- Paññā: Weisheit, Einsicht, Verstehen
- Passaddhi: Ruhe, Stille, Gelassenheit (von Körper und Geist)
- Pīti: Freude, Verzückung, freudiges Interesse
- Saṃyutta: Verbundene Sammlung (ein Kapitel im Samyutta Nikāya)
- Samādhi: Konzentration, Sammlung des Geistes, Einspitzigkeit
- Sammā Diṭṭhi: Rechte Erkenntnis, Rechte Ansicht
- Sati: Achtsamkeit, Gewahrsein, Gegenwärtigkeit des Geistes, Erinnerungsvermögen (im Sinne von Präsenz)
- Satipaṭṭhāna: Grundlage/Vergegenwärtigung/Etablierung der Achtsamkeit
- Sutta: Lehrrede des Buddha oder eines seiner Hauptschüler
- Upekkhā: Gleichmut, Ausgeglichenheit
- Viriya: Energie, Anstrengung, Bemühung, Willenskraft
- Yoniso Manasikāra: Weise Aufmerksamkeit, systematisches Erwägen, Betrachtung der Ursachen
Quellenverzeichnis
Primärquelle für Lehrredentexte und -übersetzungen (sofern nicht anders angegeben):
- SuttaCentral (https://suttacentral.net/) – Frühe buddhistische Texte, Übersetzungen und Parallelen.
Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente
- Wikipedia (Dhamma vicaya)
- Access to Insight (Investigation)
- Wisdom Library (Dhammavicaya)
- OB Ontology (Dhamma-Vicaya)
- Wisdom Library (Investigation Factor)
- Wikiwand (Dhamma vicaya)
- SuttaCentral Definitions (dhammavicaya)
- Encyclopedia of Buddhism (Dharmapravicaya)
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Energie (Vīriya – Bojjhaṅga)
Vīriya bezeichnet die Energie, Willenskraft oder das rechte Bemühen. Aus der klaren Untersuchung erwächst die Entschlossenheit, den Pfad beharrlich zu verfolgen und Hindernisse wie Trägheit und Mattigkeit (Thīna-middha) zu überwinden. Lerne hier mehr über die drei Aspekte von Vīriya (Beginn, Aufrechterhaltung, Vollendung) und ihre zentrale Rolle für den Fortschritt.