
Kamma – Handlung und ihre Folgen im frühen Buddhismus
Das Prinzip von Ursache und Wirkung als ethischer Wegweiser
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Die zentrale Rolle von Kamma im frühen Buddhismus
- Was ist Kamma? Definition und Kernprinzipien
- Schlüssel-Lehrreden zu Kamma im Majjhima Nikāya (MN)
- Kamma in weiteren Nikāyas (SN & AN)
- Verwandte Schlüsselbegriffe im Kontext von Kamma
- Zusammenfassung: Kamma als Wegweiser für ethisches Handeln und spirituelle Entwicklung
- Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente
Einleitung: Die zentrale Rolle von Kamma im frühen Buddhismus
Der Pali-Begriff Kamma (Sanskrit: Karma) stellt einen fundamentalen Pfeiler der buddhistischen Lehre dar. Er beschreibt das Prinzip, wie unsere Handlungen (kamma) unser gegenwärtiges Erleben und unsere Zukunft formen. Dieses Konzept ist weit mehr als nur eine abstrakte Gesetzmäßigkeit; es ist ein tiefgreifendes, praktisches Prinzip, das ethisches Handeln motiviert und den Weg zur Befreiung (Nibbāna) aus dem leidvollen Kreislauf der Wiedergeburten (Saṃsāra) weist. Das Verständnis von Kamma ist somit essenziell, um die buddhistische Sicht auf die Welt, die menschliche Existenz und den spirituellen Pfad nachzuvollziehen.
Dieser Bericht zielt darauf ab, den Begriff Kamma im Kontext des frühen Buddhismus zu erläutern, zentrale Lehrreden (Suttas) aus dem Palikanon vorzustellen, die dieses Konzept beleuchten, und verwandte Begriffe zu klären, um interessierten Lesern ein tieferes und fundiertes Verständnis zu ermöglichen.
Was ist Kamma? Definition und Kernprinzipien
2.1 Bedeutung und Definition (Absichtsvolle Handlung, Cetanā)
Das Wort Kamma bedeutet wörtlich „Handlung“, „Tat“ oder „Tun“. Im spezifisch buddhistischen Kontext erhält dieser Begriff jedoch eine präzisere Bedeutung: Kamma bezieht sich nicht auf jede beliebige Handlung, sondern ausschließlich auf absichtsvolle Handlungen. Der entscheidende Faktor, der eine Handlung zu Kamma im ethischen Sinne macht, ist die ihr zugrunde liegende Absicht oder Willensregung, auf Pali cetanā genannt.
Der Buddha selbst hat dies unmissverständlich klargemacht, wie es in einer oft zitierten Passage aus dem Aṅguttara Nikāya festgehalten ist: „Absicht, ihr Mönche, nenne ich Kamma. Nachdem man beabsichtigt hat, handelt man durch Körper, Rede oder Geist“ (vgl. AN 6.63). Diese Definition markiert eine signifikante Verschiebung gegenüber früheren, prä-buddhistischen Vorstellungen von Karma in Indien, die sich oft auf rituelle Handlungen oder die Erfüllung sozialer Pflichten konzentrierten. Indem der Buddha die Absicht (cetanā) in den Mittelpunkt rückt, verlagert er den Fokus von der rein äußerlichen Tat auf die innere Motivation und die Qualität des Geistes, der die Handlung hervorbringt. Es ist die psychologische Triebkraft hinter der Handlung, die karmische Konsequenzen nach sich zieht. Diese Betonung der Geisteshaltung unterstreicht die zentrale Bedeutung der Geistesschulung im Buddhismus als Weg zur Beeinflussung der eigenen karmischen Prägungen.
2.2 Ursache und Wirkung (Kamma-vipāka)
Das Prinzip des Kamma operiert untrennbar nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung: Jede absichtsvolle Handlung (Kamma) erzeugt eine entsprechende Wirkung oder Frucht (vipāka), die zu einem späteren Zeitpunkt reift. Heilsame oder gute Handlungen (kusala kamma), die von positiven Geisteszuständen wie Großzügigkeit, Mitgefühl und Weisheit getragen sind, führen zu angenehmen und wünschenswerten Ergebnissen – wie Glück, Wohlbefinden und günstigen Wiedergeburtsbedingungen. Umgekehrt führen unheilsame oder schlechte Handlungen (akusala kamma), die auf Gier, Hass und Verblendung basieren, zu leidvollen und unerwünschten Ergebnissen – wie Schmerz, Unglück und ungünstigen Wiedergeburten.
Es ist dabei wichtig, die Begriffe klar zu unterscheiden: Kamma bezeichnet die absichtsvolle Handlung selbst (die Ursache), während Vipāka das daraus resultierende Ergebnis oder die Frucht (die Wirkung) ist. Eine häufige Verwechslung dieser Begriffe kann zu Missverständnissen führen.
Das Kamma-Vipāka-Prinzip wird im Buddhismus als ein universelles, natürliches Gesetz verstanden, ähnlich wie physikalische Gesetze. Es funktioniert eigenständig, ohne dass eine externe Instanz wie ein Gott als Richter oder Belohner eingreifen müsste. Es ist ein Gesetz der moralischen Kausalität, das die Verantwortung für das eigene Erleben und die eigene Zukunft fest beim handelnden Individuum verankert. Dadurch wird deutlich, dass jeder Mensch durch seine bewussten Entscheidungen und Handlungen die Macht hat, sein eigenes Schicksal zu gestalten und den Verlauf seines Lebens positiv zu beeinflussen.
2.3 Handlungstore (Körper, Rede, Geist)
Absichtsvolle Handlungen (Kamma) manifestieren sich durch drei sogenannte „Tore“ oder Kanäle:
- Körperliche Handlungen (kāya kamma): Taten, die mit dem Körper ausgeführt werden, wie Geben, Nehmen, Verletzen oder Helfen.
- Verbale Handlungen (vacī kamma): Worte, die gesprochen werden, wie wahrheitsgemäße Rede, Lügen, freundliche oder verletzende Worte.
- Mentale Handlungen (mano kamma): Gedanken, Absichten, Wünsche und Geisteshaltungen, die im Geist entstehen, auch wenn sie sich nicht äußerlich manifestieren.
Besonders hervorzuheben ist, dass auch rein geistige Akte – wie das Fassen einer Absicht, das Nähren von Groll oder das Kultivieren von Mitgefühl – als Kamma gelten und karmische Konsequenzen haben. Oftmals wird der mentalen Handlung sogar die größte Bedeutung beigemessen, da sie die Wurzel für körperliche und verbale Handlungen bildet.
2.4 Heilsam (kusala) vs. Unheilsam (akusala)
Die ethische Qualität einer Handlung wird im frühen Buddhismus primär mit den Begriffen kusala und akusala bewertet.
- Kusala bedeutet wörtlich „geschickt“, „intelligent“, „gesund“ oder „tadellos“. Es bezeichnet Handlungen, die heilsam sind, weil sie auf Nicht-Gier (alobha), Nicht-Hass (adosa) und Nicht-Verblendung (amoha) basieren. Solche Handlungen fördern das eigene Wohl und das Wohl anderer, führen zu Glück und begünstigen den Weg zur Befreiung.
- Akusala bedeutet „ungeschickt“, „unintelligent“, „ungesund“ oder „fehlerhaft“. Es bezeichnet Handlungen, die unheilsam sind, da sie in den Wurzeln Gier (lobha), Hass (dosa) und Verblendung (moha) gründen. Diese Handlungen schaden einem selbst, anderen oder beiden und führen zu Leid und ungünstigen Zuständen.
Die Übersetzung von kusala lediglich als „geschickt“ greift oft zu kurz, da der Begriff im Pali eine breitere Bedeutung hat, die sowohl technische Fertigkeit als auch moralische Güte umfasst. Diese Elastizität deutet auf eine pragmatische Ethik hin: Heilsames Handeln ist nicht nur moralisch „gut“, sondern auch „intelligent“ und „förderlich“ im Hinblick auf das Ziel der Leidensbefreiung. Ebenso umfasst akusala nicht nur aktiv „böse“ Taten, sondern auch ungeschickte oder ungesunde Geisteszustände wie Trägheit, Zerstreutheit oder Depression, die zwar leidvoll sind, aber nicht unbedingt als „böse“ im westlichen Sinne gelten. Entscheidend für die Bewertung ist letztlich, ob eine Handlung zur Überwindung des Leidens beiträgt oder dieses verlängert.
2.5 Kein Fatalismus: Kamma und menschliche Handlungsfähigkeit
Ein weit verbreitetes Missverständnis ist die Gleichsetzung der Kamma-Lehre mit einem starren Determinismus oder Fatalismus (niyati). Der Buddhismus lehnt jedoch solche fatalistischen Ansichten entschieden ab. Die Lehre von Kamma besagt nicht, dass alles im Leben unabänderlich durch vergangene Taten vorherbestimmt ist.
Zwar wird der Einfluss vergangener Handlungen auf die gegenwärtige Situation anerkannt – sie schaffen die Bedingungen und Tendenzen, mit denen wir konfrontiert sind –, doch wird gleichzeitig die Freiheit und Fähigkeit des Menschen betont, durch gegenwärtige absichtsvolle Handlungen die Zukunft aktiv zu gestalten. Der Buddhismus verwirft sowohl die Vorstellung, dass alles vom Willen eines Gottes abhängt, als auch die Annahme, dass alles rein zufällig geschieht. Das Kamma-Prinzip ist vielmehr ein dynamisches Modell der Kausalität.
Altes Kamma (purāṇakamma), das Ergebnis vergangener Absichten, reift und bringt seine Früchte (vipāka) hervor, die sich oft in unseren grundlegenden Lebensumständen oder den Sinnesgrundlagen manifestieren. Gleichzeitig gibt es aber immer die Möglichkeit, durch neues Kamma (navakamma) – also gegenwärtige, bewusste Entscheidungen und Handlungen – den weiteren Verlauf zu beeinflussen und neue Ursachen für die Zukunft zu setzen. Der Edle Achtfache Pfad ist der vom Buddha gelehrte Weg, um durch die Kultivierung von Weisheit, Ethik und geistiger Sammlung heilsames Kamma zu fördern und letztlich den gesamten karmisch bedingten Kreislauf des Leidens zu durchbrechen.
Darüber hinaus lehren spätere Kommentare, dass nicht jedes Ereignis ausschließlich auf Kamma zurückzuführen ist. Es gibt auch andere Naturgesetze (pañca niyama dhamma), wie physikalische (z.B. Jahreszeiten), biologische (z.B. Vererbung) oder psychologische Gesetzmäßigkeiten, die unser Erleben mitbestimmen. Die Kamma-Lehre bietet somit keine monokausale Erklärung für alles Geschehen, sondern betont die moralische Dimension menschlichen Handelns und dessen Konsequenzen innerhalb eines komplexen Bedingungsgefüges. Sie ist kein Instrument der Resignation, sondern ein Aufruf zur aktiven Gestaltung des eigenen Lebens durch ethisches Verhalten und geistige Kultivierung.
Schlüssel-Lehrreden zu Kamma im Majjhima Nikāya (MN)
Der Majjhima Nikāya, die „Mittlere Sammlung“ des Palikanon, enthält einige der detailliertesten und grundlegendsten Lehrreden des Buddha zum Thema Kamma. Zwei davon sind besonders hervorzuheben:
3.1 MN 135: Cūḷakammavibhaṅga Sutta (Die kürzere Analyse der Handlungen)
- Referenz: MN 135, Cūḷakammavibhaṅga Sutta, „Die kürzere Analyse der Handlungen“.
- Kontext: In dieser Lehrrede wendet sich der junge Brahmane Subha Todeyyaputta an den Buddha mit der Frage, warum es unter den Menschen so große Unterschiede gibt: Warum sind manche kurzlebig, andere langlebig; manche krank, andere gesund; manche hässlich, andere schön; manche einflusslos, andere einflussreich; manche arm, andere reich; manche von niederer Geburt, andere von hoher Geburt; manche unwissend, andere weise?.
- Erklärung: Der Buddha antwortet mit der Kernaussage: „Wesen sind Eigentümer ihrer Handlungen (kamma), Erben ihrer Handlungen, ihre Handlungen sind ihr Ursprung, ihre Verwandten, ihre Zuflucht. Es ist die Handlung (kamma), die Wesen in niedere und höhere unterscheidet.“. Anschließend erläutert er detailliert, wie spezifische unheilsame Handlungen zu spezifischen negativen Folgen führen, sowohl in Bezug auf die Wiedergeburt in leidvollen Daseinsbereichen (Hölle, Tierwelt etc.) als auch auf die Lebensumstände im menschlichen Dasein. Umgekehrt werden die entsprechenden heilsamen Handlungen und ihre positiven Auswirkungen beschrieben:
- Töten von Lebewesen führt zu kurzer Lebensdauer; Enthaltung vom Töten führt zu langer Lebensdauer.
- Verletzen von Lebewesen führt zu Krankheit; Enthaltung von Verletzung führt zu Gesundheit.
- Zorn und Reizbarkeit führen zu Hässlichkeit; Geduld und Sanftmut führen zu Schönheit.
- Neid auf andere führt zu geringem Einfluss; Mitfreude und Anerkennung führen zu großem Einfluss.
- Geiz und mangelnde Großzügigkeit führen zu Armut; Gebefreudigkeit führt zu Reichtum.
- Starrsinn und Arroganz führen zu niederer Geburt/sozialem Status; Bescheidenheit und Respekt führen zu hoher Geburt/Status.
- Mangelndes Fragen und Lernen bei Weisen führt zu Dummheit; Wissbegierde und das Aufsuchen von Weisen führen zu Weisheit.
- Bedeutung: Das Cūḷakammavibhaṅga Sutta ist eine der populärsten und anschaulichsten Darstellungen des Kamma-Prinzips. Es veranschaulicht auf sehr konkrete Weise den direkten Zusammenhang zwischen ethischem Verhalten (kamma) und den daraus resultierenden Lebenserfahrungen (vipāka). Es dient somit als eindringliche ethische Unterweisung und Motivation, heilsame Handlungen zu pflegen und unheilsame zu meiden.
3.2 MN 136: Mahākammavibhaṅga Sutta (Die größere Analyse der Handlungen)
- Referenz: MN 136, Mahākammavibhaṅga Sutta, „Die größere Analyse der Handlungen“.
- Kontext: Diese Lehrrede entsteht als Reaktion auf eine Diskussion zwischen dem Mönch Samiddhi und dem Wanderer Potaliputta. Potaliputta behauptet, vom Buddha gehört zu haben, dass körperliche und verbale Handlungen bedeutungslos seien und nur geistige Handlungen zählten – eine Aussage, die der Buddha nie gemacht hat. Samiddhi versucht, den Buddha zu verteidigen, gibt aber eine unzureichende Antwort. Als der Buddha davon erfährt, tadelt er beide für die Verwirrung und nutzt die Gelegenheit für eine tiefere Darlegung der Wirkungsweise von Kamma.
- Erklärung: Der Buddha stellt vier mögliche Szenarien dar, die die Komplexität der Kamma-Wirkung illustrieren:
- Eine Person, die unheilsame Taten (Töten, Stehlen, Lügen etc.) begeht, wird nach dem Tod in einem leidvollen Zustand (z.B. Hölle) wiedergeboren.
- Eine Person, die unheilsame Taten begeht, wird nach dem Tod in einem glücklichen Zustand (z.B. Himmel) wiedergeboren.
- Eine Person, die heilsame Taten (Enthaltung von Töten, Geben etc.) begeht, wird nach dem Tod in einem glücklichen Zustand wiedergeboren.
- Eine Person, die heilsame Taten begeht, wird nach dem Tod in einem leidvollen Zustand wiedergeboren.
Der Buddha erklärt weiter, dass jemand, der nur einen dieser Fälle (z.B. Fall 1) durch meditative Schau wahrnimmt und dies verallgemeinert („Alle Übeltäter kommen in die Hölle“), einer dogmatischen und falschen Sichtweise verfällt, weil er die anderen Möglichkeiten ignoriert. Die scheinbaren Widersprüche (Fall 2 und 4) lassen sich dadurch erklären, dass entweder ein früheres starkes Kamma (gut oder schlecht) zur Reife kommt, oder dass eine bestimmte heilsame oder unheilsame Handlung zum Zeitpunkt des Todes (maraṇāsanna kamma) den Ausschlag für die unmittelbare Wiedergeburt gibt, auch wenn das generelle Verhalten im Leben anders war.
- Bedeutung: Das Mahākammavibhaṅga Sutta dient als wichtige Ergänzung und Korrektur zu einer potenziell zu vereinfachten oder mechanistischen Interpretation des Kamma-Gesetzes, wie sie aus MN 135 abgeleitet werden könnte. Während MN 135 klare Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge aufzeigt, warnt MN 136 eindringlich davor, diese als absolute, ausnahmslose und unmittelbar für jeden Einzelfall gültige Regeln zu betrachten. Es unterstreicht die Komplexität karmischer Prozesse, die sich über viele Leben erstrecken und durch das Zusammenspiel verschiedener Handlungen (früherer, späterer, todesnaher) beeinflusst werden. Diese Komplexität verhindert deterministische Schlussfolgerungen und macht deutlich, dass die spezifische karmische Frucht (vipāka) zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht immer leicht vorhersehbar ist. Das Sutta mahnt zur Vorsicht bei Urteilen über das Schicksal anderer und betont die Grenzen oberflächlicher Beobachtung.
Kamma in weiteren Nikāyas (SN & AN)
Neben dem Majjhima Nikāya finden sich auch im Samyutta Nikāya (SN) und Aṅguttara Nikāya (AN) wichtige Lehrreden, die das Verständnis von Kamma vertiefen.
4.1 Samyutta Nikāya (SN): Kein eigenes Kamma Saṃyutta
Eine Durchsicht der Struktur des Samyutta Nikāya zeigt, dass es kein eigenes Kapitel (saṃyutta) gibt, das explizit den Titel „Kamma Saṃyutta“ trägt. Die Lehrreden im SN sind thematisch geordnet, und das Thema Kamma wird in verschiedenen Kapiteln im Zusammenhang mit anderen zentralen Lehren behandelt. Besonders relevant sind hier das Nidāna Saṃyutta (SN 12), das sich mit dem Bedingten Entstehen (paṭiccasamuppāda) befasst, und das Saḷāyatana Saṃyutta (SN 35), das die sechs Sinnesgrundlagen thematisiert.
Ein Beispiel für eine Lehrrede aus dem SN, die Kamma direkt anspricht, ist:
- Referenz: SN 35.146, Kammanirodha Sutta, „Das Aufhören der Handlungen“ (oder „Handlungs-Aufhebung“).
- Erklärung: In diesem Sutta lehrt der Buddha über „altes Kamma“ (purāṇakamma) und „neues Kamma“ (navakamma). Das alte Kamma wird mit den sechs inneren Sinnesgrundlagen (Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper, Geist) identifiziert. Diese sind als Ergebnis früherer absichtsvoller Handlungen entstanden und als etwas zu Erfahrendes (vedaniya) zu betrachten. Das neue Kamma sind die Handlungen, die man gegenwärtig durch Körper, Rede und Geist ausführt. Das Aufhören des Kamma (kammanirodha) wird als die Befreiung (vimutti) beschrieben, die durch das Aufhören von körperlichen, verbalen und mentalen Handlungen erreicht wird. Der Weg, der zum Aufhören des Kamma führt (kammanirodhagāminī paṭipadā), ist der Edle Achtfache Pfad (Rechte Ansicht, Rechte Absicht, etc.).
- Bedeutung: Dieses Sutta verknüpft die Lehre von Kamma aufschlussreich mit der Analyse der Sinneswahrnehmung und dem buddhistischen Praxisweg. Es zeigt, wie unsere gegenwärtige Erfahrungswelt (die Sinnesgrundlagen) durch vergangenes Kamma konditioniert ist, betont aber gleichzeitig, dass durch gegenwärtige Praxis auf dem Achtfachen Pfad neues, leidvolles Kamma vermieden und der gesamte Prozess zum Stillstand gebracht werden kann.
4.2 Aṅguttara Nikāya (AN): Eine zentrale Lehrrede
Der Aṅguttara Nikāya, die „Angereihte Sammlung“, enthält ebenfalls zahlreiche Suttas zu Kamma. Eine besonders hervorzuhebende und oft zitierte Lehrrede ist:
- Referenz: AN 6.63, Nibbedhika Sutta, „Die durchdringende Lehrrede“ (oder „Lehrrede, die zum Durchdringen führt“).
- Erklärung: Dieses Sutta ist berühmt für die eingangs erwähnte prägnante Definition: „Absicht (cetanā), ihr Mönche, nenne ich Kamma.“. Es bietet eine systematische Analyse von sechs zentralen Themen des buddhistischen Pfades: Sinnlichkeit (kāma), Gefühl (vedanā), Wahrnehmung (saññā), Triebe/Verunreinigungen (āsava), Handlung (kamma) und Leiden (dukkha). Jedes dieser Themen wird nach dem Muster der Vier Edlen Wahrheiten untersucht:
- Was ist es (Definition)?
- Was ist seine Ursache/sein Ursprung (nidānasambhavo)?
- Was ist seine Vielfalt/Mannigfaltigkeit (vemattatā)?
- Was ist sein Ergebnis/seine Frucht (vipāko)?
- Was ist sein Aufhören (nirodho)?
- Was ist der Weg, der zu seinem Aufhören führt (nirodhagāminī paṭipadā)?
Bezogen auf Kamma wird in diesem strukturierten Rahmen (basierend auf dem Muster des Suttas und parallelen Texten/Kommentaren) dargelegt: Kamma ist zu erkennen und zu verstehen. Die Ursache von Kamma (im Sinne des Auslösers für absichtsvolles Handeln) ist Berührung (phassa) – der Kontakt zwischen Sinnesorgan, Sinnesobjekt und Bewusstsein, der Gefühle und nachfolgende Willensregungen auslöst. Die Vielfalt des Kamma zeigt sich darin, dass Handlungen zu Wiedergeburten in unterschiedlichen Daseinsbereichen führen können (Höllen, Tierwelt, Menschenwelt, Götterwelten etc.). Das Ergebnis (vipāka) von Kamma kann sich auf drei Arten manifestieren: Reifung in diesem Leben, im unmittelbar nächsten Leben oder in späteren Existenzen. Das Aufhören von Kamma (im Sinne des Nicht-Erzeugens neuen, zur Wiedergeburt führenden Kammas) geschieht durch das Aufhören der Berührung (phassa) bzw. der darauf folgenden Reaktionskette von Gefühl, Begehren und Anhaften. Der Weg zum Aufhören des Kamma ist der Edle Achtfache Pfad.
- Bedeutung: Das Nibbedhika Sutta liefert nicht nur die maßgebliche Definition von Kamma als Cetanā, sondern integriert das Kamma-Verständnis tief in den soteriologischen Kern der buddhistischen Lehre. Indem es Kamma durch die Linse der Vier Edlen Wahrheiten analysiert, wird deutlich, dass es nicht nur um eine Beschreibung von Ursache und Wirkung geht. Vielmehr wird Kamma als integraler Bestandteil des Leidensprozesses (dukkha) dargestellt, dessen Ursprung (samudaya) im Zusammenspiel von Berührung, Gefühl und Absicht liegt, und dessen Überwindung (nirodha) durch die Praxis des Achtfachen Pfades (magga) möglich ist. Der Titel „Nibbedhika“ deutet darauf hin, dass dieses Verständnis zu einer tiefen Einsicht führt, die Ernüchterung (nibbidā) gegenüber dem Kreislauf von Handlung und Wirkung bewirkt und zur Abwendung motiviert.
4.3. Tabelle der Schlüssel-Suttas
Die folgende Tabelle fasst die vorgestellten zentralen Lehrreden zu Kamma aus den Nikāyas übersichtlich zusammen und dient als Schnellreferenz für das weitere Studium:
Nikāya | Sutta Nr. | Pali Name | Deutscher Titel (gebräuchlich) | Kernaspekt zu Kamma |
---|---|---|---|---|
MN | 135 | Cūḷakammavibhaṅga Sutta | Die kürzere Analyse der Handlungen | Spezifische Handlungen & ihre Folgen im Leben/Wiedergeburt |
MN | 136 | Mahākammavibhaṅga Sutta | Die größere Analyse der Handlungen | Komplexität der Kamma-Wirkung, 4 Fälle |
SN | 35.146 | Kammanirodha Sutta | Das Aufhören der Handlungen | Altes vs. Neues Kamma, Aufhören durch 8f. Pfad |
AN | 6.63 | Nibbedhika Sutta | Die durchdringende Lehrrede | Cetanā ist Kamma, Systematische Analyse (4 Wahrheiten) |
Verwandte Schlüsselbegriffe im Kontext von Kamma
Das Verständnis von Kamma ist eng mit weiteren zentralen Begriffen des frühen Buddhismus verknüpft:
5.1 Vipāka (Frucht/Ergebnis)
- Definition: Vipāka bezeichnet das Reifen, die Frucht oder das Ergebnis einer vergangenen absichtsvollen Handlung (kamma). Es ist die Konsequenz, die sich aus einer Ursache (der Handlung) ergibt.
- Natur: Ein wichtiger Punkt ist, dass Vipāka selbst karmisch neutral ist, also weder kusala noch akusala. Es ist die passive Erfahrung der Wirkung einer früheren Tat, z.B. das Erleben von angenehmen oder unangenehmen Gefühlen, die Art der Wahrnehmung oder die Bedingungen der Wiedergeburt. Die Handlung (kamma) ist aktiv und ethisch qualifiziert, das Ergebnis (vipāka) ist die passive, neutrale Erfahrung dieser Qualität.
- Wichtig: Es ist ein Irrtum zu glauben, dass alles, was man erlebt, ausschließlich das Vipāka vergangenen Kammas ist. Gegenwärtige Bedingungen, eigene aktuelle Handlungen und andere Naturgesetze beeinflussen das Erleben ebenfalls.
5.2 Saṃsāra (Kreislauf der Wiedergeburten)
- Definition: Saṃsāra (wörtlich „beständiges Wandern“) bezeichnet den anfanglosen und leidvollen Kreislauf von Geburt, Altern, Krankheit, Tod und Wiedergeburt, dem alle nicht-erleuchteten Wesen unterworfen sind.
- Charakteristik: Dieser Kreislauf wird grundlegend als unbefriedigend und leidhaft (dukkha) erfahren. Er ist gekennzeichnet durch Unbeständigkeit (anicca) und das Fehlen eines permanenten, unveränderlichen Selbst oder einer Seele (anattā).
- Mechanismus: Saṃsāra wird durch grundlegende Ursachen wie Unwissenheit (avijjā) über die wahre Natur der Realität, Begehren (taṇhā) und Abneigung/Hass (dosa) angetrieben. Kamma ist der Motor, der diesen Kreislauf in Bewegung hält: Die absichtsvollen Handlungen eines Wesens bestimmen die Qualität und die Umstände seiner nächsten Wiedergeburt innerhalb der verschiedenen Daseinsbereiche (von Höllenwelten bis zu Götterhimmeln).
- Ziel: Das Ziel des buddhistischen Pfades ist die Befreiung (Nibbāna) aus diesem Kreislauf. Dies wird erreicht durch das Auslöschen der antreibenden Ursachen (Gier, Hass, Verblendung) und die Entwicklung von Weisheit durch die Praxis des Edlen Achtfachen Pfades.
5.3 Puñña (Verdienst)
- Definition: Puñña bedeutet Verdienst, gute Tat, heilsame Kraft. Es ist das positive Potenzial, das durch gute, heilsame Handlungen angesammelt wird. Wörtlich kann es als „das, was reinigt“ oder „läutert“ (nämlich den Geist oder die Lebenskontinuität) verstanden werden.
- Grundlagen: Die klassischen Texte nennen drei Hauptwege zur Ansammlung von Verdienst (puññakiriyā-vatthu):
- Geben oder Großzügigkeit (dāna)
- Tugendhaftes Verhalten oder Sittlichkeit (sīla)
- Geistige Kultivierung oder Meditation (bhāvanā).
- Wirkung: Puñña führt zu positiven und angenehmen Ergebnissen (vipāka) innerhalb des Saṃsāra, wie Glück, Wohlstand, Gesundheit, langes Leben und eine günstige Wiedergeburt in menschlichen oder himmlischen Welten. Es wird als eine Art spirituelles Kapital betrachtet, das angesammelt, aber auch wieder aufgebraucht werden kann. In vielen buddhistischen Kulturen spielt das „Verdienstsammeln“ eine wichtige Rolle im Laienleben.
- Abgrenzung zu Kusala: Obwohl puñña eng mit kusala (heilsam) verwandt ist, gibt es eine subtile Unterscheidung. Puñña bezieht sich oft auf Handlungen, deren primäres Ziel gute Ergebnisse innerhalb des Saṃsāra sind (z.B. eine bessere Wiedergeburt). Kusala wird häufiger im Kontext des direkten Weges zur Befreiung (Nibbāna) verwendet und betont die „Geschicklichkeit“ der Handlung im Sinne der Überwindung von Leiden. Ein vollständig Erleuchteter (Arahant) handelt jenseits von Verdienst und Schuld (puñña und pāpa/apuñña), da seine Handlungen keine karmischen Früchte mehr hervorbringen, die an Saṃsāra binden.
5.4 Pāpa (Schlechtes/Unheilsames)
- Definition: Pāpa bedeutet wörtlich „schlecht“, „böse“, „übel“ oder „unheilvoll“. Es bezeichnet unheilsame, schädliche Handlungen und deren negative Konsequenzen. Es wird oft als Gegenstück oder Synonym zu apuñña („Nicht-Verdienst“, „Schuld“) verwendet.
- Bezug zu Akusala: Während akusala der allgemeine Begriff für alle unheilsamen oder ungeschickten Handlungen ist, die auf Gier, Hass oder Verblendung basieren, scheint pāpa oft besonders schwerwiegende oder moralisch verwerfliche Taten zu bezeichnen. Diese pāpa kamma (schlechten Handlungen) wurzeln oft in tiefer Verblendung (moha) und falschen Ansichten (micchā diṭṭhi), wie z.B. der Leugnung des Kamma-Prinzips selbst. Solche Handlungen führen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu leidvollen Wiedergeburten in den unteren Daseinsbereichen (apāya). Im Gegensatz dazu können akusala kamma auch aus leichterer Unwissenheit (avijjā) entstehen und müssen nicht zwangsläufig die Schwere von pāpa kamma erreichen.
- Beispiele: Die zehn unheilsamen Handlungspfade (dasa akusala-kammapatha) – die drei körperlichen (Töten, Stehlen, sexueller Fehltritt), die vier verbalen (Lügen, Verleumden, harte Rede, leeres Geschwätz) und die drei geistigen (Begehrlichkeit, Übelwollen, falsche Ansichten) – können als pāpa kamma gelten, insbesondere wenn sie gewohnheitsmäßig, vorsätzlich und mit starker negativer Motivation ausgeführt werden.
Zusammenfassung: Kamma als Wegweiser für ethisches Handeln und spirituelle Entwicklung
Die Lehre von Kamma, dem Gesetz der absichtsvollen Handlung und ihrer Folgen, ist ein zentrales Element im frühen Buddhismus. Sie erklärt nicht nur die Ursachen für die Ungleichheiten und das Leiden in der Welt, sondern liefert auch eine tiefgreifende Grundlage für die buddhistische Ethik und den Weg zur Befreiung.
Kamma ist keine Lehre des Schicksals, sondern betont die Kraft der Absicht (cetanā) und die Verantwortung jedes Einzelnen für sein Handeln durch Körper, Rede und Geist. Das Verständnis, dass heilsame Handlungen (kusala, puñña) zu Glück und günstigen Bedingungen führen, während unheilsame Handlungen (akusala, pāpa) Leid verursachen, motiviert zur Kultivierung ethischen Verhaltens und positiver Geisteszustände.
Die vorgestellten Lehrreden aus dem Majjhima Nikāya (MN 135, MN 136), Samyutta Nikāya (SN 35.146) und Aṅguttara Nikāya (AN 6.63) illustrieren die Funktionsweise von Kamma und Vipāka auf unterschiedliche Weise – von konkreten Beispielen bis hin zu komplexen Analysen und der Einbettung in den Gesamtpfad.
Letztlich weist die Lehre von Kamma jedoch über sich selbst hinaus. Sie ist nicht nur eine Erklärung für die Funktionsweise von Saṃsāra, sondern auch ein Wegweiser zur Überwindung dieses Kreislaufs. Der Edle Achtfache Pfad stellt das Mittel dar, um die Wurzeln unheilsamen Kammas zu beseitigen, heilsames Kamma zu kultivieren und schließlich einen Zustand zu erreichen, der jenseits von Kamma und seinen Früchten liegt – Nibbāna, die endgültige Befreiung vom Leiden. Das Verständnis von Kamma ist somit kein Selbstzweck, sondern ein integraler Bestandteil des Weges zu Weisheit, Mitgefühl und innerem Frieden.
Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente
Ausgewählte Referenzen:
- Karma in Buddhism – Wikipedia
- THE LAW OF KAMMA (CAUSE AND EFFECT): A BUDDHIST PERSPECTIVE – srjis.com
- The meaning of Kamma in early Buddhism – Buddhistdoor Global
- Saṃsāra (Buddhism) – Wikipedia
- AN ANALYTICAL STYDY OF ACTION (KAMMA) IN THERAVADA BUDDHISM – Mahachulalongkornrajavidyalaya University
- Dda.o Pha^.t Nga`y Nay, default page-english – Buddhism Today
- AN 6.63: Nibbedhikasutta—Bhikkhu Sujato – SuttaCentral
- (another)Translation request – Two Agama parallels to Nibbedhika Sutta AN 6.63 (Cetana/Kamma) – SuttaCentral
- Kamma before the Buddha | Sujato’s Blog – WordPress.com
- Buddhist rebirth in different planes of existence – Asian and African studies blog
- Vipāka – Wikipedia
- vipāka – Dictionary | Buddhistdoor
- Definitions for: vipāka – SuttaCentral
- Kusala and Akusala as Criteria of Buddhist Ethics – Buddhivihara.org
- Kuśala – Encyclopedia of Buddhism
Weiter in diesem Bereich mit …
Punabbhava – Wiedergeburt, Wiederwerden, Wiederdasein
Tauche ein in das Konzept von Punabbhava, dem „Wieder-Werden“ oder der Wiedergeburt. Anders als die Vorstellung einer festen Seele, die wandert, erklärt der Buddhismus, wie der durch Kamma angetriebene Bewusstseinsstrom nach dem Tod zu einer neuen Existenz in einem der Daseinsbereiche des Saṃsāra führt. Verstehe, warum dieser Zyklus als leidhaft gilt und das Ziel die Befreiung daraus ist.