
Die Lehre Greifen
Das richtige Verständnis und die Anwendung des Dhamma vermeiden (Schlangengleichnis)
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Ein kostbares Werkzeug richtig nutzen
Der Dhamma ist wie ein kostbares Werkzeug oder eine Landkarte, die dir den Weg zur Befreiung weisen kann. Aber wie bei jedem mächtigen Werkzeug kommt es darauf an, wie du es benutzt. Ein falscher Umgang kann nicht nur nutzlos sein, sondern sogar schaden. Wie kannst du also sicherstellen, dass du die Lehre des Buddha auf eine Weise „greifst“, die dir wirklich hilft und dich deinem Ziel näherbringt?
Die Gefahr des falschen Greifens: Das Schlangengleichnis (MN 22)
Der Buddha selbst warnte eindringlich vor einem falschen Verständnis und einer falschen Anwendung seiner Lehre. Im Majjhima Nikāya 22 (Alagaddūpama Sutta – Die Lehrrede vom Gleichnis der Schlange) wird die Geschichte des Mönchs Ariṭṭha erzählt. Ariṭṭha hatte die Lehren falsch interpretiert und behauptete hartnäckig: „So wie ich den vom Erhabenen gelehrten Dhamma verstehe, sind jene Dinge, die vom Erhabenen als Hindernisse bezeichnet werden, nicht in der Lage, denjenigen zu behindern, der sich ihnen hingibt“. Er meinte damit vermutlich sinnliche Vergnügungen.
Die anderen Mönche versuchten, ihn von dieser gefährlichen Fehlinterpretation abzubringen, aber Ariṭṭha blieb stur. Als der Buddha davon erfuhr, rief er Ariṭṭha zu sich und wies ihn scharf zurecht: „Wertloser Mann, von wem hast du verstanden, dass der von mir gelehrte Dhamma auf diese Weise gelehrt wurde? Wertloser Mann, habe ich nicht auf vielfältige Weise obstruktive Handlungen beschrieben? Und wenn man sich ihnen hingibt, sind sie echte Hindernisse… Aber du, wertloser Mann, hast durch dein eigenes falsches Greifen [des Dhamma] uns sowohl falsch dargestellt als auch dich selbst verletzt und dir viel Schaden angehäuft, denn das wird zu deinem langfristigen Schaden und Leiden führen“.
Um die Gefahr des falschen Greifens zu verdeutlichen, erzählte der Buddha das berühmte Schlangengleichnis:
Stell dir vor, ein Mann sucht eine Schlange. Er sieht eine große Wasserschlange und packt sie ungeschickt am Körper oder am Schwanz. Die Schlange wird sich umdrehen und ihn in die Hand, den Arm oder ein anderes Glied beißen. Dadurch wird er den Tod oder todesähnliches Leid erfahren. Warum? Wegen des falschen Greifens der Schlange.
„Ebenso, ihr Mönche,“ fuhr der Buddha fort, „gibt es hier einige wertlose Männer, die den Dhamma studieren – Lehrreden, Mischprosa, Erklärungen, Verse… Nachdem sie ihn studiert haben, untersuchen sie den Zweck dieser Lehren nicht weise. Denen, die den Zweck nicht weise untersuchen, werden diese Lehren keine Einsicht bringen. Sie studieren die Lehre nur, um sie zur Kritik oder zur Widerlegung anderer in Disputen zu verwenden. Sie erfahren nicht den (wahren) Zweck, für den sie die Lehre (eigentlich) studieren sollten. Ihnen werden diese falsch ergriffenen Lehren lange Zeit Schaden und Leid bringen. Und warum? Wegen ihres falschen Ergreifens der Lehren“.
Das falsche Greifen bedeutet also:
- Die Lehre aus den falschen Motiven lernen (z.B. um anzugeben, zu streiten, andere zu kritisieren).
- Die Lehre aus dem Kontext reißen und für eigene (egoistische) Zwecke verdrehen.
- Sich nur intellektuell damit beschäftigen, ohne den eigentlichen Zweck – die Befreiung vom Leiden durch Praxis – zu verfolgen.
Wie Du die Lehre richtig greifst: Praktische Ratschläge
Wie kannst du also, um im Bild zu bleiben, die „Schlange“ Dhamma sicher und nutzbringend greifen?
- Prüfe deine Motivation: Frage dich ehrlich: Warum interessiere ich mich für den Dhamma? Suche ich wirklich nach einem Weg zur Befreiung von Leiden für mich und andere, oder geht es mir um intellektuelle Spielereien, Zugehörigkeit, Ablenkung oder darum, anderen überlegen zu sein? Eine ehrliche Antwort hilft dir, die richtige Haltung zu finden.
- Entwickle Weisheit (Paññā): Richtiges Verständnis (Sammā Diṭṭhi) ist der erste Schritt auf dem Achtfachen Pfad und entscheidend, um die Lehre richtig zu greifen. Wahre Weisheit (Paññā) geht aber über bloßes Wissen hinaus. Sie entsteht durch:
- Zuhören/Lesen (Suta-mayā paññā): Das Aufnehmen der Lehre aus vertrauenswürdigen Quellen.
- Intellektuelles Verstehen/Reflexion (Cintā-mayā paññā): Das kritische Nachdenken über das Gehörte/Gelesene, das Hinterfragen und Verstehen der Zusammenhänge.
- Erfahrungsbasierte Einsicht (Bhāvanā-mayā paññā): Die tiefste Form der Weisheit, die durch direkte Erfahrung in der Meditation (Vipassanā) gewonnen wird, wenn du die Lehren in deiner eigenen Erfahrung überprüfst und bestätigst.
- Kultiviere Rechte Absicht (Sammā Saṅkappa): Deine Absicht beim Studium und bei der Praxis sollte heilsam sein. Der zweite Schritt des Achtfachen Pfades, Rechte Absicht, bedeutet, Gedanken der Entsagung (statt Gier), des Wohlwollens (statt Hass) und des Mitgefühls (statt Grausamkeit) zu pflegen. Eine solche Absicht schützt dich davor, die Lehre für unheilsame Zwecke zu missbrauchen oder dich in intellektuellem Stolz zu verlieren.
- Hafte nicht an Ansichten (Diṭṭhi): Selbst wenn du glaubst, die Lehre richtig verstanden zu haben, hüte dich davor, an dieser Ansicht festzuhalten. Ariṭṭha hielt hartnäckig an seiner falschen Sicht fest. Das Ziel ist nicht, eine bestimmte Meinung zu verteidigen, sondern Befreiung zu erlangen. Wie du auf der nächsten Seite sehen wirst, ist selbst der Dhamma selbst ein Werkzeug, das losgelassen werden muss.
- Betrachte den Kontext: Verstehe einzelne Lehren immer im Gesamtzusammenhang des Dhamma und im Hinblick auf das letztendliche Ziel: die Beendigung des Leidens.
Der Dhamma ist ein mächtiges Werkzeug. Wenn du ihn mit Achtsamkeit, der richtigen Motivation und der Bereitschaft zur praktischen Anwendung und Überprüfung „greifst“, kann er dir unermesslichen Nutzen bringen. Gehst du jedoch unachtsam oder mit falscher Absicht heran, läufst du Gefahr, dich selbst und andere zu verletzen. Die Kunst liegt darin, die Lehre weise zu nutzen.
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Das Floß Nutzen
Wozu dient die Lehre des Buddha letztendlich? Das bekannte Gleichnis vom Floß verdeutlicht: Der Dhamma ist wie ein Floß, das Dir hilft, den reißenden Fluss des Leidens (Dukkha) und des Daseinskreislaufs (Saṃsāra) zu überqueren, um das sichere Ufer der Befreiung (Nibbāna) zu erreichen. Entdecke die pragmatische Natur des Dhamma als Werkzeug – und warum es entscheidend ist, selbst dieses wertvolle Floß loszulassen, wenn Du das Ziel erreicht hast, um wahre Freiheit zu finden.