
Der Persönlichkeitsglaube ( Sakkāya-diṭṭhi ) im frühen Buddhismus
Eine Erklärung mit Verweisen auf zentrale Lehrreden
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Der Persönlichkeitsglaube ( Sakkāya-diṭṭhi ) als Schlüssel zum Verständnis des buddhistischen Pfades
- Was bedeutet Sakkāya-diṭṭhi ? Definition und Erklärung
- Die Fünf Aggregate ( Pañca Khandhā ): Die Basis der Ich-Illusion
- Sakkāya-diṭṭhi im größeren Kontext der Lehre
- Lehrreden aus Dīgha Nikāya (DN) und Majjhima Nikāya (MN)
- Weitere Schlüsseltexte im Palikanon
- Zusammenfassung: Den Persönlichkeitsglauben durchschauen
- Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente
Einleitung: Der Persönlichkeitsglaube ( Sakkāya-diṭṭhi ) als Schlüssel zum Verständnis des buddhistischen Pfades
Im Herzen der buddhistischen Lehre steht der Edle Achtfache Pfad, ein praktischer Leitfaden zur Überwindung des Leidens (Dukkha). Dessen erstes Glied ist die „Rechte Ansicht“ (Sammā-diṭṭhi), die das Fundament für den gesamten Weg bildet. Rechte Ansicht bedeutet, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind – insbesondere die Natur des Leidens, seine Ursache, seine Aufhebung und den Weg dorthin. Die Überwindung falscher Ansichten (micchā-diṭṭhi) ist daher von zentraler Bedeutung für den Fortschritt auf dem Pfad zur Befreiung (Nibbāna).
Eine der grundlegendsten und hartnäckigsten falschen Ansichten, die tief im menschlichen Geist verwurzelt ist, ist der sogenannte „Persönlichkeitsglaube“, auf Pali Sakkāya-diṭṭhi. Es handelt sich um die tief sitzende, oft unbewusste Überzeugung, dass es ein festes, beständiges und unabhängiges „Ich“, ein „Selbst“ oder eine „Seele“ (Attā) gibt, das oder die den Kern unserer Persönlichkeit ausmacht. Diese Ansicht gilt im Buddhismus als eine fundamentale Täuschung über die wahre Natur der Realität. Ihre Überwindung markiert einen entscheidenden Wendepunkt auf dem spirituellen Weg: den „Stromeintritt“ (Sotāpatti), den unwiderruflichen Eintritt in den Pfad zur vollständigen Befreiung.
Dieser Bericht zielt darauf ab, den Begriff Sakkāya-diṭṭhi klar zu definieren und zu erklären. Er beleuchtet, wie sich dieser Glaube manifestiert und in welchem Zusammenhang er mit zentralen Konzepten wie den Fünf Aggregaten (Pañca Khandhā) und den Zehn Fesseln (Dasa Saṃyojanāni) steht. Darüber hinaus werden spezifische Lehrreden (Suttas) aus den Hauptsammlungen des Palikanons – Dīgha Nikāya (DN), Majjhima Nikāya (MN), Saṃyutta Nikāya (SN) und Aṅguttara Nikāya (AN) – vorgestellt, die diesen wichtigen Begriff schwerpunktmäßig behandeln. Ziel ist es, interessierten Lesern ein fundiertes Verständnis zu ermöglichen und ihnen konkrete Textstellen für das vertiefende Selbststudium an die Hand zu geben, wobei als Hauptquelle auf die frei zugängliche Online-Ressource SuttaCentral verwiesen wird.
Was bedeutet Sakkāya-diṭṭhi ? Definition und Erklärung
Der Begriff Sakkāya-diṭṭhi ist ein Kompositum aus zwei Pali-Wörtern: Sakkāya und Diṭṭhi.
Diṭṭhi bedeutet wörtlich „Ansicht“ oder „Sichtweise“. Im buddhistischen Kontext wird es häufig verwendet, um eine festgehaltene Meinung, eine spekulative Theorie oder einen Glaubenssatz zu bezeichnen, insbesondere wenn dieser nicht mit der Realität übereinstimmt und somit eine falsche Ansicht (micchā-diṭṭhi) darstellt.
Sakkāya ist komplexer und seine genaue Etymologie wird unterschiedlich interpretiert, was verschiedene Bedeutungsnuancen eröffnet:
Eine häufige Analyse leitet Sakkāya von sat-kāya ab, was „wahrer Körper“, „existierender Körper“ oder „reale Substanz“ bedeutet. In diesem Sinne wäre Sakkāya-diṭṭhi die Ansicht, dass es irgendwo in unserer Erfahrung eine wirklich existierende, beständige Entität oder Substanz gibt, die als „Selbst“ identifiziert werden kann. Diese Interpretation knüpft an philosophische Debatten über Substanz an und findet Parallelen im Konzept des astikāya („existierende Substanz“) im Jainismus, einer zeitgenössischen Lehre zur Zeit des Buddha.
Eine andere Herleitung ist sa-kāya, was „eigener Körper“ oder einfach „bestehender Körper“ bedeutet. Dies betont den Bezug zum individuell erfahrenen psycho-physischen Organismus.
Eine weitere, sehr gebräuchliche Interpretation, die direkt in den Lehrreden gestützt wird, versteht Sakkāya als Synonym für die Fünf Aggregate (Pañca Khandhā), insbesondere wenn an ihnen angehaftet wird (Pañcupādānakkhandhā). Kāya bedeutet hier nicht nur „Körper“, sondern auch „Gruppe“, „Ansammlung“ oder „Masse“.
Diese unterschiedlichen etymologischen Deutungen beleuchten verschiedene Aspekte des Problems: die tiefere philosophische Frage nach einer realen, dauerhaften Substanz (sat-kāya) und die unmittelbare psychologische Tendenz, sich mit dem eigenen, sich ständig wandelnden Körper-Geist-Komplex (sa-kāya, khandhas) zu identifizieren.
Im Kern bezeichnet Sakkāya-diṭṭhi die grundlegende Fehlannahme oder den Irrglauben, dass innerhalb der fünf Aggregate (Khandhas) – also unserer gesamten psycho-physischen Erfahrung – oder in Bezug auf sie ein beständiges, unabhängiges, kontrollierendes „Ich“, „Selbst“ oder eine „Seele“ (Attā) existiert. Es ist die tief verwurzelte Neigung, die von Natur aus unbeständigen (anicca), leidhaften (dukkha) und selbstlosen (anattā) Prozesse des Erlebens fälschlicherweise als Ausdruck eines festen, unveränderlichen Wesenskerns zu interpretieren und zu verdinglichen („reifizieren“).
Gängige deutsche Übersetzungen wie „Persönlichkeitsglaube“, „Identitätsansicht“, „Ich-Wahn“ oder „Seelenglaube“ versuchen, diesen Kern zu erfassen. Die neuere vorgeschlagene Übersetzung „Substanzialistische Sicht“ betont den philosophischen Hintergrund der Annahme einer zugrundeliegenden, realen Entität.
Wie manifestiert sich Sakkāya-diṭṭhi ? (Die 20 Arten)
Diese grundlegende Fehlannahme manifestiert sich nach traditioneller Analyse auf zwanzig verschiedene Arten. Dies ergibt sich daraus, dass man jedes der fünf Aggregate auf vier Weisen fälschlicherweise mit einem „Selbst“ in Verbindung bringt:
- Man betrachtet das Aggregat als das Selbst (z.B. „Mein Körper ist mein Selbst“).
- Man betrachtet das Selbst als Besitzer des Aggregats (z.B. „Mein Selbst besitzt diesen Körper“).
- Man betrachtet das Aggregat als im Selbst enthalten (z.B. „Der Körper ist in meinem Selbst“).
- Man betrachtet das Selbst als im Aggregat enthalten (z.B. „Mein Selbst ist im Körper“).
Angewendet auf die fünf Aggregate – Form (Rūpa), Gefühl (Vedanā), Wahrnehmung (Saññā), Geistesformationen (Saṅkhārā) und Bewusstsein (Viññāṇa) – ergeben sich somit 5 x 4 = 20 spezifische Formen des Persönlichkeitsglaubens.
Die Fünf Aggregate ( Pañca Khandhā ): Die Basis der Ich-Illusion
Um Sakkāya-diṭṭhi zu verstehen, ist es unerlässlich, die Fünf Aggregate (Pañca Khandhā oder Pañcakkhandhā) zu kennen, da sie das Objekt dieser falschen Identifikation sind. Die Aggregate sind die grundlegende Analyse der gesamten psycho-physischen Erfahrung eines Lebewesens im frühen Buddhismus:
- Rūpa (Form, Körperlichkeit): Dieses Aggregat umfasst den physischen Körper mit seinen vier Elementen (Erde, Wasser, Feuer, Luft) sowie alle materiellen Objekte der äußeren Welt, die über die Sinne wahrgenommen werden.
- Vedanā (Gefühl, Empfindung): Dies bezieht sich auf den affektiven Ton jeder Erfahrung – ob sie als angenehm, unangenehm oder neutral empfunden wird. Gefühle entstehen durch den Kontakt der Sinnesorgane mit ihren Objekten.
- Saññā (Wahrnehmung): Dies ist die Funktion des Erkennens, Identifizierens und Benennens von Objekten. Es ist der Prozess, durch den wir Sinneseindrücke interpretieren und ihnen Bedeutung zuweisen (z.B. „blau“, „kalt“, „laut“).
- Saṅkhārā (Geistesformationen, Willensregungen, Gestaltungen): Dies ist ein komplexes Aggregat, das alle willentlichen Aktivitäten, Absichten (cetanā), mentalen Gewohnheiten, Neigungen, Vorurteile und Konstrukte umfasst. Sie prägen unser Denken, Sprechen und Handeln und sind die treibende Kraft hinter Karma.
- Viññāṇa (Bewusstsein): Dies ist das grundlegende Gewahrsein oder die Kenntnisnahme eines Sinnesobjekts, das an einem der sechs Sinnestore (Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper, Geist) entsteht. Es gibt Augen-Bewusstsein, Ohren-Bewusstsein usw. bis hin zum Geist-Bewusstsein, das mentale Objekte erkennt.
Entscheidend ist das Verständnis, dass diese fünf Aggregate keine festen „Teile“ einer Person sind, sondern dynamische, voneinander abhängige Prozesse, die in einem ständigen Fluss von Entstehen und Vergehen begriffen sind (Anicca). Sie sind bedingt und daher letztlich unbefriedigend oder leidhaft (Dukkha), wenn man an ihnen festhält.
Von Khandhā zu Upādānakkhandhā:
Die Aggregate an sich sind neutrale Bestandteile der Erfahrung. Das Problem – und die Wurzel von Sakkāya-diṭṭhi – entsteht erst durch das Anhaften (Upādāna) an sie. Upādāna bedeutet wörtlich „ergreifen“, „festhalten“ oder „nahe heranziehen“. Dieses Anhaften wird durch Verlangen (Taṇhā) angetrieben – das Verlangen nach angenehmen Erfahrungen, das Verlangen nach Fortbestand oder das Verlangen nach Nicht-Existenz.
Wenn die fünf Aggregate zum Objekt von Verlangen und Anhaften werden, nennt man sie die Fünf Anhaftungsaggregate (Pañcupādānakkhandhā). Es sind diese Anhaftungsaggregate, an die wir uns klammern, mit denen wir uns identifizieren („Das bin ich“, „Das ist mein“) und die somit die Basis für die Illusion eines festen Selbst (Sakkāya-diṭṭhi) und für das Leiden (Dukkha) bilden. Die berühmte Aussage des Buddha in seiner ersten Lehrrede fasst dies prägnant zusammen: „Kurz gesagt, die fünf Anhaftungsaggregate sind Leiden“ (saṃkhittena pañcupādānakkhandhā dukkhā).
Es ist also nicht das bloße Vorhandensein von Körper, Gefühlen, Wahrnehmungen, mentalen Formationen und Bewusstsein, das Sakkāya-diṭṭhi ausmacht, sondern die durch Verlangen (Taṇhā) genährte Tendenz, an diesen vergänglichen Prozessen anzuhaften (Upādāna) und sie fälschlicherweise als ein beständiges Selbst zu betrachten. Die Lehrrede MN 44 definiert Taṇhā explizit als den Ursprung von Sakkāya (im Sinne der Basis für die Diṭṭhi), während MN 109 erklärt, dass die Aggregate im Wunsch (Chandā) wurzeln und das Anhaften (Upādāna) der Wunsch und die Gier (chanda-rāgo) bezüglich der Aggregate ist. Dies zeigt eine klare Kausalkette auf: Verlangen führt zu Anhaften, und dieses Anhaften an die Aggregate manifestiert sich als Persönlichkeitsglaube.
Sakkāya-diṭṭhi im größeren Kontext der Lehre
Sakkāya-diṭṭhi steht nicht isoliert da, sondern ist eng mit anderen zentralen Konzepten der buddhistischen Lehre verwoben.
Die erste der Zehn Fesseln ( Dasa Saṃyojanāni ):
Im Buddhismus werden zehn „Fesseln“ (Saṃyojanāni) beschrieben – mentale Bindungen, die Lebewesen an den leidvollen Kreislauf der Wiedergeburten (Saṃsāra) ketten. Die vollständige Überwindung aller zehn Fesseln führt zur endgültigen Befreiung (Nibbāna).
Sakkāya-diṭṭhi ist die allererste und grundlegendste dieser zehn Fesseln. Ihre Beseitigung ist der entscheidende Schritt, der den „Stromeintritt“ (Sotāpatti) kennzeichnet – den Punkt, an dem ein Praktizierender unumkehrbar den Pfad zur Befreiung betreten hat und sicher sein kann, die volle Erleuchtung innerhalb von maximal sieben weiteren Leben zu erreichen.
Die ersten drei Fesseln, die gemeinsam beim Stromeintritt durchbrochen werden, sind:
- Sakkāya-diṭṭhi (Persönlichkeitsglaube)
- Vicikicchā (skeptischer Zweifel) – insbesondere Zweifel an der Erleuchtung des Buddha, seiner Lehre (Dhamma) und der Gemeinschaft der Praktizierenden (Sangha).
- Sīlabbata-parāmāsa (Anhaften an Regeln und Ritualen) – der Glaube, dass äußere Regeln, Riten oder Zeremonien allein zur Befreiung führen können, ohne die Entwicklung von Weisheit und Einsicht.
Zusammenhang mit den Vier Edlen Wahrheiten:
Sakkāya-diṭṭhi ist eng mit allen Vier Edlen Wahrheiten verbunden:
- Sie ist ein zentraler Aspekt der Ersten Wahrheit (Die Wahrheit vom Leiden, Dukkha), da die Identifikation mit den von Natur aus unbeständigen und unbefriedigenden Aggregaten die Grundlage für unser Leiden bildet.
- Sie steht in Verbindung zur Zweiten Wahrheit (Die Wahrheit von der Leidensursache, Samudaya), da sie letztlich aus dem Verlangen (Taṇhā) und dem Anhaften (Upādāna) an die Aggregate entsteht.
- Ihre Überwindung ist ein wesentlicher Teil der Dritten Wahrheit (Die Wahrheit von der Leidensaufhebung, Nirodha).
- Der Weg zu ihrer Überwindung ist die Vierte Wahrheit (Die Wahrheit vom Pfad zur Leidensaufhebung, Magga), nämlich der Edle Achtfache Pfad.
Bezug zu Anattā (Nicht-Selbst):
Sakkāya-diṭṭhi ist die direkte Antithese zur Lehre von Anattā (Nicht-Selbst), einer der drei Daseinsmerkmale (Tilakkhaṇa) neben Anicca (Vergänglichkeit) und Dukkha (Leidhaftigkeit). Die Anattā-Lehre besagt, dass es in keinem Phänomen, weder in den Aggregaten noch anderswo, ein inhärentes, permanentes, unabhängiges Selbst oder eine Seele gibt.
Die Einsicht in Anattā – das direkte Erkennen der Leerheit aller Phänomene von einem festen Wesenskern – ist das direkte Gegenmittel zur Sakkāya-diṭṭhi. Die Überwindung von Sakkāya-diṭṭhi ist dabei kein rein intellektueller Akt des Akzeptierens der Anattā-Lehre. Sie erfordert vielmehr eine tiefgreifende, transformative Einsicht (Vipassanā), die durch systematische meditative Praxis gewonnen wird.
Durch die Kultivierung von Achtsamkeit (Sati) und Konzentration (Samādhi) wird der Geist befähigt, die wahre Natur der Aggregate – ihre Vergänglichkeit, ihre Leidhaftigkeit und ihre Selbstlosigkeit – direkt zu erkennen („wissen und sehen“, jānato passato). Der Edle Achtfache Pfad, insbesondere die Faktoren der Weisheitsgruppe (Rechte Ansicht, Rechtes Denken) und der Konzentrationsgruppe (Rechte Anstrengung, Rechte Achtsamkeit, Rechte Sammlung), bildet den Rahmen für diese Entwicklung.
Lehrreden aus Dīgha Nikāya (DN) und Majjhima Nikāya (MN)
Einige Lehrreden im Palikanon behandeln Sakkāya-diṭṭhi besonders ausführlich. Hier sind drei zentrale Beispiele aus dem Majjhima Nikāya (MN) und ein Hinweis zum Dīgha Nikāya (DN):
MN 44: Cūḷavedalla Sutta (Die kürzere Lehrrede mit Fragen und Antworten)
- Kontext: Ein aufschlussreicher Dialog zwischen dem gebildeten Laienanhänger Visākha und der weisen Nonne (Bhikkhunī) Dhammadinnā, seiner früheren Ehefrau.
- Relevanz für Sakkāya-diṭṭhi: Diese Lehrrede ist besonders wertvoll, da sie klare Definitionen liefert. Dhammadinnā erklärt auf Visākhas Frage hin:
- Sakkāya wird vom Buddha als die fünf Anhaftungsaggregate (pañcupādānakkhandhā) bezeichnet.
- Der Ursprung von Sakkāya (der Basis für die falsche Ansicht) ist das Verlangen (Taṇhā), das zu Wiedergeburt führt.
- Die Aufhebung von Sakkāya ist die restlose Aufhebung eben dieses Verlangens.
- Der Weg zur Aufhebung von Sakkāya ist der Edle Achtfache Pfad.
- Sakkāya-diṭṭhi entsteht, wenn ein ungelehrter Weltmensch die fünf Aggregate fälschlicherweise als Selbst betrachtet, als dem Selbst gehörend, als im Selbst enthalten oder das Selbst als in den Aggregaten enthalten ansieht. Ein edler Schüler vermeidet diese Identifikation.
- Das Anhaften (Upādāna) ist nicht identisch mit den Aggregaten, sondern es ist der Wunsch und die Gier (chanda-rāgo) in Bezug auf die fünf Anhaftungsaggregate.
- Quelle: MN 44 (Cūḷavedalla Sutta) auf SuttaCentral. Deutsche Übersetzungen sind verfügbar, z.B. von Mettiko Bhikkhu, Karl Eugen Neumann, Kurt Schmidt und Kay Zumwinkel.
MN 109: Mahāpuṇṇama Sutta (Die längere Lehrrede in der Vollmond-Nacht)
- Kontext: Eine Lehrrede des Buddha an die Mönche, gehalten in einer Vollmondnacht im Östlichen Park bei Sāvatthī.
- Relevanz für Sakkāya-diṭṭhi: Diese Rede vertieft die Analyse der fünf Aggregate und der damit verbundenen Ich-Identifikation:
- Sie gibt eine umfassende Definition der fünf Aggregate, die alle Zeitdimensionen (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) und Aspekte (innerlich/äußerlich, grob/fein etc.) einschließt.
- Sie erklärt die unmittelbaren Ursachen für das Erkennen der einzelnen Aggregate (z.B. die vier großen Elemente für Form; Kontakt für Gefühl, Wahrnehmung und Formationen; Name-und-Form für Bewusstsein).
- Sie beschreibt detailliert die 20 Arten der Sakkāya-diṭṭhi – wie man fälschlicherweise Form, Gefühl, Wahrnehmung, Formationen oder Bewusstsein als Selbst ansieht, als dem Selbst gehörend etc..
- Sie betont, dass die Überwindung dieser Ich-Annahme (ahaṃkāra) und Mein-Annahme (mamaṃkāra) sowie des zugrundeliegenden Dünkels (mānānusaya) dadurch geschieht, dass man jedes Aggregat mit rechter Weisheit (sammā paññāya) als „Dies ist nicht mein, dies bin ich nicht, dies ist nicht mein Selbst“ (n’etaṃ mama, n’eso’hamasmi, na me so attā) erkennt.
- Die Rede adressiert auch die mögliche Fehlinterpretation, dass die Lehre vom Nicht-Selbst (Anattā) zu Nihilismus oder zur Leugnung von Karma führen könnte, und widerlegt dies.
- Quelle: MN 109 (Mahāpuṇṇama Sutta) auf SuttaCentral. Eine deutsche Übersetzung von Kay Zumwinkel ist online. Englische Übersetzungen von Thanissaro Bhikkhu und Bhikkhu Sujato sind ebenfalls verfügbar.
MN 2: Sabbāsava Sutta (Alle Triebe / Alle Anhaftungen)
- Kontext: Eine grundlegende Lehrrede, die sieben Methoden zur Überwindung der Āsavas (Triebe, Befleckungen, geistige Fermentationen – oft übersetzt als Sinnlichkeit, Werden, Unwissenheit) darlegt.
- Relevanz für Sakkāya-diṭṭhi: Die erste Methode ist die „Überwindung durch Sehen“ (dassanā pahātabbā). Die Lehrrede erklärt hier eindrücklich, wie unangemessene Aufmerksamkeit (ayoniso manasikāra) – das Grübeln über bestimmte Fragen – zur Entstehung falscher Ansichten führt:
- Wenn jemand unangemessen über Fragen nachdenkt wie: „War ich in der Vergangenheit?“, „Werde ich in der Zukunft sein?“, „Bin ich?“, „Bin ich nicht?“, „Was bin ich?“, „Woher kam dieses Wesen?“, „Wohin wird es gehen?“.
- Als Folge dieser unangemessenen Aufmerksamkeit entsteht eine von sechs Arten von Ansichten über das Selbst, z.B.: „Ich habe ein Selbst“, „Ich habe kein Selbst“, „Durch das Selbst nehme ich das Selbst wahr“ etc..
- Diese Ansichten werden als „Dickicht der Ansichten“ (diṭṭhi-gahana), „Wildnis der Ansichten“ (diṭṭhi-kantāra), „Verzerrung der Ansichten“ (diṭṭhi-visūkāyika), „Zucken der Ansichten“ (diṭṭhi-vipphandita) und als „Fessel der Ansichten“ (diṭṭhi-saṃyojana) bezeichnet. Wer von dieser Fessel gebunden ist, bleibt im Leiden gefangen.
- Im Gegensatz dazu führt die angemessene Aufmerksamkeit (yoniso manasikāra), die sich auf die Vier Edlen Wahrheiten richtet („Dies ist Leiden“, „Dies ist die Ursache…“), zur Aufgabe der ersten drei Fesseln, einschließlich der Sakkāya-diṭṭhi.
- Diese Lehrrede zeigt somit klar auf, dass Sakkāya-diṭṭhi nicht zwangsläufig aus der Erfahrung der Aggregate entsteht, sondern durch eine bestimmte Art des fehlgeleiteten Denkens und Fragens über die eigene Existenz und Identität ausgelöst wird. Die Art und Weise, wie wir unsere Erfahrung betrachten, ist entscheidend.
- Quelle: MN 2 (Sabbāsava Sutta) auf SuttaCentral. Deutsche Übersetzungen sind verfügbar, z.B. von Mettiko Bhikkhu und Karl Eugen Neumann. Englische Übersetzungen von Bhikkhu Sujato, Bhikkhu Bodhi, Thanissaro Bhikkhu und Nanamoli/Bodhi sind ebenfalls vorhanden.
Hinweis zum Dīgha Nikāya (DN):
Obwohl der Dīgha Nikāya keine einzelne Lehrrede enthält, die Sakkāya-diṭṭhi so spezifisch definiert wie die genannten MN-Texte, sind einige seiner Reden hochrelevant für das Verständnis falscher Ansichten im Allgemeinen.
- Das DN 1 (Brahmajāla Sutta), „Das Netz der Ansichten“, ist berühmt für seine Auflistung und Analyse von 62 verschiedenen Arten spekulativer Ansichten über das Selbst, die Seele und die Welt, die zur Zeit des Buddha verbreitet waren. Viele davon sind Variationen oder Implikationen der grundlegenden Sakkāya-diṭṭhi.
- Das DN 9 (Poṭṭhapāda Sutta) diskutiert mit einem Wanderasketen die Natur der Wahrnehmung (Saññā) in verschiedenen meditativen Zuständen und warnt davor, irgendeine dieser Erfahrungen mit einem beständigen Selbst oder einer Seele zu identifizieren.
Weitere Schlüsseltexte im Palikanon
Neben den genannten Reden aus DN und MN gibt es auch im Saṃyutta Nikāya (SN) und Aṅguttara Nikāya (AN) wichtige Texte zum Thema.
Saṃyutta Nikāya (SN): Das Diṭṭhi Saṃyutta (SN 24)
- Bedeutung: Der Saṃyutta Nikāya ist nach Themen gruppiert, und das 24. Kapitel (Saṃyutta) ist explizit dem Thema „Ansichten“ (Diṭṭhi) gewidmet (SN 24). Es bietet eine systematische Untersuchung verschiedener falscher Ansichten.
- Inhalt: Die Suttas in SN 24 analysieren eine breite Palette von Ansichten, die zur Zeit des Buddha kursierten, darunter:
- Ewigkeitsglaube (sassata-diṭṭhi) vs. Nihilismus (uccheda-diṭṭhi)
- Ansichten über die Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt
- Ansichten über die Identität oder Verschiedenheit von Seele (jīva) und Körper (sarīra)
- Ansichten über die Existenz oder Nicht-Existenz eines Erleuchteten (Tathāgata) nach dem Tod
- Materialistische und fatalistische Ansichten, die Kamma und Wiedergeburt leugnen.
- Der entscheidende Punkt in SN 24 ist, dass jede dieser falschen Ansichten auf dieselbe grundlegende Ursache zurückgeführt wird: das Nicht-Verstehen der wahren Natur der fünf Aggregate (Khandhas) sowie aller Sinneserfahrungen (Gesehenes, Gehörtes, Gedachtes, Erkanntes etc.). Weil diese Prozesse nicht als vergänglich (anicca), leidhaft (dukkha) und ohne Selbst (anattā) durchschaut werden, entsteht durch Anhaften (upādāya) und Festhalten (abhinivissa) an ihnen die jeweilige falsche Ansicht. Die Überwindung dieser Ansichten, die durch die Einsicht in die wahre Natur der Aggregate geschieht, führt zum Stromeintritt.
- SN 24 demonstriert somit eindrücklich, wie die grundlegende Sakkāya-diṭṭhi (die Fehlinterpretation der Aggregate) die Wurzel für ein ganzes „Dickicht“ spezifischer philosophischer und existenzieller Fehlannahmen bildet. Die Dekonstruktion der Identifikation mit den Aggregaten ist der Schlüssel zur Auflösung all dieser Ansichten.
Aṅguttara Nikāya (AN): Relevante Erwähnungen
- Der Aṅguttara Nikāya, die „Angereihte Sammlung“, ordnet Lehrreden nach der Anzahl der darin behandelten Punkte (Einer-Buch, Zweier-Buch etc.). Obwohl es kein eigenes Kapitel nur zu Sakkāya-diṭṭhi gibt, finden sich wichtige Erwähnungen:
- AN 10.13 (Saṃyojana Sutta): Diese sehr kurze, aber oft zitierte Lehrrede listet prägnant die zehn Fesseln (Saṃyojanāni) auf. Sie nennt die fünf „niederen Fesseln“ (orambhāgiyāni saṃyojanāni), die an die Sinneswelt binden: 1. Sakkāya-diṭṭhi (Persönlichkeitsglaube), 2. Vicikicchā (Zweifel), 3. Sīlabbata-parāmāsa (Anhaften an Regeln und Riten), 4. Kāmacchanda (Sinnliches Begehren), 5. Byāpāda (Übelwollen). Anschließend werden die fünf „höheren Fesseln“ genannt.
- AN 4.49 (Vipallāsa Sutta): Diese bekannte Rede behandelt die vier grundlegenden „Verzerrungen“ oder „Verkehrtheiten“ (vipallāsā), die unsere Wahrnehmung (saññā), unser Denken (citta) und unsere Ansichten (diṭṭhi) prägen und uns im Leiden gefangen halten:
- Das Vergängliche (anicca) für beständig (nicca) halten.
- Das Leidhafte (dukkha) für angenehm (sukha) halten.
- Das Nicht-Selbst (anattā) für ein Selbst (attā) halten.
- Das Unschöne/Abstoßende (asubha) für schön (subha) halten.
Sakkāya-diṭṭhi entspricht direkt der dritten dieser Verzerrungen. Die Überwindung dieser vier Verzerrungen durch Weisheit führt zur Befreiung vom Leiden.
Zusammenfassung: Den Persönlichkeitsglauben durchschauen
Sakkāya-diṭṭhi, der Glaube an eine beständige Persönlichkeit oder ein festes Selbst, ist eine der fundamentalsten Fehlannahmen, die uns laut der Lehre des Buddha im Kreislauf des Leidens gefangen hält. Sie entsteht aus der Identifikation mit den fünf Aggregaten (Pañca Khandhā) – den sich ständig wandelnden Prozessen von Körperlichkeit, Gefühl, Wahrnehmung, Geistesformationen und Bewusstsein – genährt durch Verlangen (Taṇhā) und Anhaften (Upādāna).
Als erste der zehn Fesseln (Dasa Saṃyojanāni) ist ihre Überwindung der entscheidende Schritt zum Stromeintritt (Sotāpatti) und damit der Beginn des unumkehrbaren Weges zur Befreiung. Dieser Durchbruch geschieht nicht durch bloßes intellektuelles Für-wahr-Halten der Lehre vom Nicht-Selbst (Anattā), sondern erfordert die Entwicklung von tiefgehender Einsicht (Vipassanā) durch meditative Praxis im Rahmen des Edlen Achtfachen Pfades.
Entscheidend ist dabei die Kultivierung von Achtsamkeit (Sati), Konzentration (Samādhi) und Weisheit (Paññā), um die wahre Natur der Aggregate – ihre Vergänglichkeit (Anicca), ihre Leidhaftigkeit (Dukkha) und ihre Selbstlosigkeit (Anattā) – direkt zu erkennen und zu durchschauen.
Wie das MN 2 (Sabbāsava Sutta) hervorhebt, spielt auch die Art unserer Aufmerksamkeit eine Schlüsselrolle: Angemessene Aufmerksamkeit (yoniso manasikāra), die sich auf die grundlegenden Wahrheiten der Lehre richtet, hilft, das Dickicht der spekulativen Ansichten über das Selbst zu lichten, während unangemessene Aufmerksamkeit diese Ansichten nährt.
Das Durchschauen der Sakkāya-diṭṭhi ist somit mehr als nur das Aufgeben einer philosophischen Position; es ist eine tiefgreifende Transformation der Wahrnehmung, die es ermöglicht, die Realität frei von der Illusion eines permanenten, getrennten Ichs zu erfahren und den Weg zur endgültigen Beendigung des Leidens zu beschreiten.
Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente
Die in diesem Bericht erwähnten Lehrreden (Suttas) sind online frei zugänglich, primär über die Webseite SuttaCentral. Diese Seite bietet den Palitext sowie Übersetzungen in viele Sprachen, oft auch ins Deutsche, von verschiedenen Übersetzern.
Die folgende Tabelle fasst die wichtigsten hier besprochenen Lehrreden zusammen, die für das Verständnis von Sakkāya-diṭṭhi besonders relevant sind:
Sutta Referenz | Pali Titel | Deutscher Titel (Beispiel) | Nikāya | Kernrelevanz für Sakkāya-diṭṭhi |
---|---|---|---|---|
MN 44 | Cūḷavedalla Sutta | Die kürzere Lehrrede mit Fragen und Antworten | MN | Definition von Sakkāya als Aggregate; Ursprung (Taṇhā); Entstehung der Diṭṭhi durch Identifikation; Pfad zur Aufhebung. |
MN 109 | Mahāpuṇṇama Sutta | Die längere Lehrrede in der Vollmond-Nacht | MN | Detaillierte Analyse der Aggregate; Überwindung der Ich-Annahme durch Einsicht in Anattā (n’etaṃ mama…). |
MN 2 | Sabbāsava Sutta | Alle Triebe / Alle Anhaftungen | MN | Entstehung der „Fessel der Ansichten“ über das Selbst durch unangemessene Aufmerksamkeit (ayoniso manasikāra). |
SN 24 | Diṭṭhi Saṃyutta | Kapitel über Ansichten | SN | Systematische Analyse verschiedener falscher Ansichten (viele Formen von Sakkāya-diṭṭhi) und ihre Überwindung durch Aggregate-Einsicht. |
AN 10.13 | Saṃyojana Sutta | Lehrrede über die Fesseln | AN | Listet Sakkāya-diṭṭhi als erste der zehn Fesseln auf. |
AN 4.49 | Vipallāsa Sutta | Lehrrede über die Verzerrungen | AN | Erklärt die vier grundlegenden Verzerrungen der Wahrnehmung/Ansicht, inkl. Anattā als Attā zu sehen. |
DN 1 | Brahmajāla Sutta | Das Netz der Ansichten | DN | Umfassende Darstellung von 62 falschen Ansichten über Selbst und Welt. |
DN 9 | Poṭṭhapāda Sutta | Lehrrede an Poṭṭhapāda | DN | Diskussion über Wahrnehmung, Meditation und die Idee eines Selbst/Seele. |
Für ein tieferes Studium ist es empfehlenswert, verschiedene Übersetzungen zu vergleichen und gegebenenfalls Kommentare oder Sekundärliteratur von anerkannten Gelehrten und erfahrenen Praktizierenden hinzuzuziehen. Wichtige Übersetzer ins Deutsche sind u.a. Nyanatiloka Mahathera/Nyanaponika Mahathera, Karl Eugen Neumann, Kurt Schmidt, Kay Zumwinkel und Mettiko Bhikkhu. Im Englischen sind Bhikkhu Bodhi, Thanissaro Bhikkhu und Bhikkhu Sujato wichtige Quellen. Die Suttas selbst sollten jedoch immer die primäre Referenz bleiben.
Ausgewählte Referenzen:
- Shorter Q&A session on Dhamma – Anumodana Sankalpa
- MN 9: Sammādiṭṭhisutta—Bhikkhu Sujato – SuttaCentral
- MN 44 From… Cūḷavedallasutta: The Shorter Classification – Daily Sutta Reading
- Fruits of the noble path – Wikipedia
- Fetter (Buddhism) – Wikipedia
- Sakkayaditthi, Sakkaya-ditthi, Sakkāyadiṭṭhi: 2 definitions
- Sakkāya-Diṭṭhi
- Samyojana Sutta (AN 10.13) – Buddha Vacana
- What Does Ending Of Sakkaya Ditthi Really Mean? – Pure Dhamma
- Sakkāya-ditthi: view that sees distinct mind and matter? – Dhamma Wheel Buddhist Forum
- On sakkāya, identity, and substantial reality – Essays – Discuss …
- Definitions for: sakkāyadiṭṭhi – SuttaCentral
- Culavedalla Sutta: The Shorter Set of Questions-and-Answers – Access to Insight
- Sakkāya Diṭṭhi Sutta – The Minding Centre
- Maha-punnama Sutta: The Great Full-moon Night Discourse – Access to Insight
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Zweifel (Vicikicchā)
Diese Fessel beschreibt den lähmenden, skeptischen Zweifel, der dein Vertrauen (saddhā) in den Weg untergraben kann. Lerne zu unterscheiden zwischen gesundem Hinterfragen und jener nagenden Unsicherheit bezüglich des Buddha, seiner Lehre (Dhamma), der Gemeinschaft (Saṅgha) oder der Wirksamkeit der Praxis, die dich davon abhält, entschlossen voranzuschreiten.