
Viññāṇa – Bewusstsein im frühen Buddhismus: Eine Einführung mit Verweisen auf zentrale Lehrreden
Das fünfte Aggregat und dritte Glied im Bedingten Entstehen: Funktion und Bedingtheit des Bewusstseins
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Viññāṇa – Bewusstsein im frühen Buddhismus
Der Pali-Begriff Viññāṇa ist ein zentrales Konzept in der Psychologie und Philosophie des frühen Buddhismus, wie sie im Pali-Kanon, den ältesten Sammlungen buddhistischer Schriften, überliefert ist. Üblicherweise mit „Bewusstsein“ übersetzt, spielt Viññāṇa eine entscheidende Rolle für das Verständnis der Natur menschlicher Erfahrung, der Entstehung von Leiden (dukkha) und des Weges zur Befreiung (nibbāna). Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass die buddhistische Bedeutung von Viññāṇa spezifische Nuancen aufweist, die über den alltäglichen Gebrauch des Wortes „Bewusstsein“ hinausgehen.
Dieser Bericht zielt darauf ab, eine klare Definition und Erklärung von Viññāṇa zu liefern, basierend auf seiner Verwendung in den frühen Lehrreden (Suttas) der Nikāyas. Er wird die Funktion von Viññāṇa im Kontext zweier fundamentaler buddhistischer Lehren beleuchten: der Fünf Aggregate (Pañca Khandhā) und des Bedingten Entstehens (Paṭiccasamuppāda). Darüber hinaus werden spezifische Lehrreden aus dem Dīgha Nikāya (DN) und Majjhima Nikāya (MN) vorgestellt, die ein tieferes Verständnis von Viññāṇa ermöglichen. Ergänzend wird auf relevante Kapitel (Saṃyuttas) im Samyutta Nikāya (SN) und bekannte Lehrreden im Aṅguttara Nikāya (AN) hingewiesen. Ziel ist es, interessierten Lesern, sowohl mit als auch ohne Vorkenntnisse, einen fundierten Zugang zu diesem wichtigen Begriff zu ermöglichen und sie auf verlässliche Quellen für das weitere Studium auf SuttaCentral.net zu verweisen. Ein korrektes Verständnis von Viññāṇa ist unerlässlich, um die buddhistische Analyse des Geistes und den darauf aufbauenden Befreiungsweg nachzuvollziehen.
2. Definition und Funktion von Viññāṇa
2.1 Die Kernbedeutung: Erkennen und Gewahrwerden
Im Pali-Kanon bezeichnet Viññāṇa in erster Linie den Akt oder die Funktion des Erkennens oder Gewahrwerdens eines Objekts durch eine der sechs Sinnesgrundlagen (āyatana). Es handelt sich nicht um eine statische, eigenständige Entität wie eine Seele oder ein unveränderliches Selbst, sondern um einen dynamischen, abhängigen Prozess.
Diese funktionale Definition wird in den Lehrreden selbst betont. Ein bekanntes Beispiel findet sich im Mahāvedalla Sutta (MN 43), wo der ehrwürdige Sāriputta erklärt: „Es erkennt, Freund, es erkennt, darum wird es Bewusstsein genannt.“ (vijānāti vijānātī’ti kho, āvuso, tasmā viññāṇanti vuccati). Diese Formulierung unterstreicht, dass Viññāṇa durch seine Tätigkeit definiert wird. Es ist das grundlegende Gewahrsein, das den Kontakt zwischen einem Sinnesorgan und seinem Objekt ermöglicht und begleitet.
Eine spezifische Funktion von Viññāṇa ist das Unterscheiden oder Differenzieren von Sinneseindrücken. Wiederum im Mahāvedalla Sutta (MN 43) und auch im SN 22.79 wird erläutert, dass Viññāṇa Angenehmes, Schmerzhaftes und weder-Schmerzhaftes-noch-Angenehmes (Gefühlstönungen) erkennt oder Geschmäcker wie sauer, süß, bitter etc. unterscheidet.
Es ist hilfreich, Viññāṇa von eng verwandten mentalen Faktoren abzugrenzen, obwohl sie in der Erfahrung eng miteinander verbunden sind:
- Vedanā (Gefühl/Empfindung): Bezieht sich auf den reinen Gefühlston einer Erfahrung – angenehm, unangenehm oder neutral. Viññāṇa ist das Gewahrsein dieses Gefühlstons.
- Saññā (Wahrnehmung/Erkennung): Bezieht sich auf das Erkennen, Identifizieren und Benennen von Objekten aufgrund ihrer Merkmale (z.B. das Erkennen von „blau“). Viññāṇa ist das grundlegende Bewusstsein, das Saññā ermöglicht. MN 43 beschreibt die enge Verknüpfung: „Was man fühlt (vedeti), das nimmt man wahr (sañjānāti); was man wahrnimmt, das erkennt man (vijānāti)“.
Die konsequente Betonung der Funktion gegenüber einer Substanz ist ein Kernmerkmal der buddhistischen Lehre. Die Suttas definieren Viññāṇa über das, was es tut (erkennen, unterscheiden), nicht über ein vermeintliches Sein. Dies steht im Einklang mit den fundamentalen Lehren von Anattā (Nicht-Selbst) und Anicca (Vergänglichkeit). Indem Viññāṇa als ein abhängiger Prozess verstanden wird, der nur unter bestimmten Bedingungen entsteht, wird die Vorstellung eines permanenten, unabhängigen Bewusstseinskerns – einer Seele – untergraben. Die Lehrrede MN 38 widerlegt explizit die Ansicht eines Mönchs, der an ein solches transmigrierendes Bewusstsein glaubte, und betont stattdessen die Abhängigkeit des Bewusstseins von Bedingungen. Dieses Verständnis ist entscheidend, um Fehlinterpretationen zu vermeiden und den Pfad zur Befreiung korrekt zu verstehen.
2.2 Die sechs Arten des Bewusstseins
Der Pali-Kanon klassifiziert Viññāṇa standardmäßig in sechs Arten, entsprechend den sechs inneren Sinnesgrundlagen (ajjhattikāni āyatanāni) und den dazugehörigen äußeren Sinnesobjekten (bāhirāni āyatanāni):
- Augen-Bewusstsein (Cakkhu-viññāṇa): Entsteht in Abhängigkeit von Auge und sichtbarer Form.
- Ohren-Bewusstsein (Sota-viññāṇa): Entsteht in Abhängigkeit von Ohr und Klang.
- Nasen-Bewusstsein (Ghāna-viññāṇa): Entsteht in Abhängigkeit von Nase und Geruch.
- Zungen-Bewusstsein (Jivhā-viññāṇa): Entsteht in Abhängigkeit von Zunge und Geschmack.
- Körper-Bewusstsein (Kāya-viññāṇa): Entsteht in Abhängigkeit von Körper und Berührung/Tastobjekt.
- Geist-Bewusstsein (Mano-viññāṇa): Entsteht in Abhängigkeit von Geist-Organ (mana) und Geist-Objekt (dhamma).
Jede dieser Bewusstseinsarten entsteht nur dann, wenn die spezifischen Bedingungen erfüllt sind: das jeweilige intakte Sinnesorgan, das entsprechende Sinnesobjekt und die darauf gerichtete Aufmerksamkeit (manasikāra) müssen zusammentreffen. Diese Bedingtheit wird im Mahātaṇhāsaṅkhaya Sutta (MN 38) eindrücklich mit dem Gleichnis vom Feuer illustriert: So wie Feuer nach seinem Brennstoff benannt wird (Holzfeuer, Grasfeuer usw.), so wird Bewusstsein nach der Sinnespforte benannt, durch die es entsteht (Augen-Bewusstsein, Ohren-Bewusstsein usw.). Dies bekräftigt, dass Viññāṇa kein eigenständiges Phänomen ist, sondern stets in Relation zu seinen Entstehungsbedingungen verstanden werden muss.
Das Geist-Bewusstsein (Mano-viññāṇa) nimmt dabei eine besondere Stellung ein, da es nicht nur äußere Sinneseindrücke verarbeitet, sondern auch rein mentale Objekte (dhammā) wie Gedanken, Erinnerungen, Vorstellungen, Konzepte und Gefühle erkennt.
3. Viññāṇa in zentralen Lehrkonzepten
Viññāṇa ist nicht nur ein isolierter Begriff, sondern integraler Bestandteil von zwei der wichtigsten Lehrgebäude des frühen Buddhismus: den Fünf Aggregaten und dem Bedingten Entstehen.
3.1 Viññāṇa als fünftes Aggregat ( Viññāṇakkhandha )
Die Lehre von den Fünf Aggregaten (Pañca Khandhā) ist die grundlegende Analyse der Bestandteile, aus denen sich die Erfahrung zusammensetzt und die konventionell als „Person“ oder „Selbst“ bezeichnet werden. Diese fünf Gruppen sind:
- Form/Körperlichkeit (Rūpa)
- Gefühl/Empfindung (Vedanā)
- Wahrnehmung/Erkennung (Saññā)
- Geistesformationen/Willensregungen (Saṅkhārā)
- Bewusstsein (Viññāṇa)
Viññāṇa bildet hier das fünfte Aggregat (Viññāṇakkhandha) und repräsentiert die grundlegende Funktion des Gewahrseins oder Erkennens, die untrennbar mit den anderen vier Aggregaten verbunden ist – den mentalen Aggregaten (nāma: Gefühl, Wahrnehmung, Formationen) und dem körperlichen Aggregat (rūpa).
Entscheidend für das Verständnis von Leiden (dukkha) ist das Konzept der Fünf Aggregate des Anhaftens (Pañcupādānakkhandhā). Die erste Edle Wahrheit besagt: „In Kürze sind die fünf Aggregate des Anhaftens Leiden“ (Saṃkhittena pañcupādānakkhandhā dukkhā). Das Leiden entsteht nicht durch die Aggregate an sich, sondern durch das Anhaften (upādāna) an sie – das Festhalten an ihnen und die Identifikation mit ihnen als „Ich“, „mein“ oder „mein Selbst“. Dieses Anhaften an Viññāṇa als etwas Permanentes oder als Kern der eigenen Identität ist eine Hauptursache für psychisches Leid und die Fortdauer im Daseinskreislauf (saṁsāra).
Die Lehrrede von der Bürde (Bhāra Sutta, SN 22.22) bezeichnet die fünf Aggregate des Anhaftens als die „Bürde“, das Begehren (taṇhā) als das „Aufnehmen der Bürde“ und die Person (puggala) als den „Bürdenträger“.
Das Khandha Sutta (SN 22.48) definiert das Bewusstseinsaggregat (Viññāṇakkhandha) in umfassender Weise: „Jegliche Art von Bewusstsein, sei es vergangen, zukünftig oder gegenwärtig, innerlich oder äußerlich, grob oder fein, gering oder erhaben, fern oder nah: dies wird das Bewusstseinsaggregat genannt.“. Diese Definition macht deutlich, dass alle Formen des bedingten Bewusstseins unter dieses Aggregat fallen. Es gibt kein weltliches, erfahrenes Bewusstsein, das außerhalb dieser Analyse stünde. Jede Form von Viññāṇa, die wir erfahren, ist somit den universellen Merkmalen von Vergänglichkeit (anicca), Leidhaftigkeit (dukkha) und Nicht-Selbst (anattā) unterworfen.
Die Analyse der Aggregate dient somit der systematischen Dekonstruktion der Illusion eines beständigen Selbst. Sie zeigt auf, dass das, was wir fälschlicherweise für ein festes „Ich“ halten, in Wirklichkeit eine Ansammlung von voneinander abhängigen, unbeständigen Prozessen ist – einschließlich des Bewusstseins selbst. Das Erkennen dieser Tatsache durch Einsicht (vipassanā) führt zu Ernüchterung, Loslassen und schließlich zur Befreiung vom Leiden.
3.2 Viññāṇa im Bedingten Entstehen ( Paṭiccasamuppāda )
Die Lehre vom Bedingten Entstehen (Paṭiccasamuppāda) ist das Herzstück der buddhistischen Erklärung für die Entstehung und Fortdauer von Leiden und Wiedergeburt (saṁsāra). Sie beschreibt einen kausalen Prozess, der oft als Kette von zwölf Gliedern (nidāna) dargestellt wird.
In der Standardformulierung dieser Kette ist Viññāṇa das dritte Glied:
- Bedingt durch Unwissenheit (Avijjā) entstehen Geistesformationen/Willensregungen (Saṅkhārā). Saṅkhārā sind willentliche Handlungen (Kamma) von Körper, Rede und Geist, die aus einem grundlegenden Nichtverstehen der Realität (insbesondere der Vier Edlen Wahrheiten) resultieren.
- Bedingt durch diese Geistesformationen (Saṅkhārā) entsteht Bewusstsein (Viññāṇa) – saṅkhāra-paccayā viññāṇaṁ. Das durch vergangenes Kamma geprägte Bewusstsein bildet den Keim für eine neue Existenz.
- Bedingt durch Bewusstsein (Viññāṇa) entstehen Name-und-Form (Nāmarūpa) – viññāṇa-paccayā nāmarūpaṁ. Nāmarūpa bezeichnet hier die Gesamtheit der psycho-physischen Komponenten eines Lebewesens: Nāma (Name) umfasst die mentalen Faktoren wie Gefühl (vedanā), Wahrnehmung (saññā), Absicht (cetanā), Kontakt (phassa) und Aufmerksamkeit (manasikāra); Rūpa (Form) bezieht sich auf den materiellen Körper, bestehend aus den vier Grundelementen.
Ein zentraler Punkt, der besonders im Mahānidāna Sutta (DN 15) hervorgehoben wird, ist die wechselseitige Abhängigkeit von Viññāṇa und Nāmarūpa. Sie bedingen sich gegenseitig und können nicht unabhängig voneinander existieren, ähnlich wie zwei Schilfbündel, die sich aneinanderlehnen und nur gemeinsam stehen können. Viññāṇa kann sich ohne Nāmarūpa nicht etablieren oder wachsen, und Nāmarūpa kann ohne Viññāṇa nicht entstehen oder sich entwickeln.
In diesem Kontext wird Viññāṇa oft als die „Lebenskraft“ oder „regenerative Kraft“ beschrieben, die den Übergang von einer Existenz zur nächsten ermöglicht. Es trägt die Prägungen vergangener Handlungen (saṅkhārā) in eine neue Geburt und bedingt dort die Entstehung des neuen psycho-physischen Organismus (nāmarūpa). In späteren Kommentaren wird dies oft als „Wiedergeburts-Verbindungs-Bewusstsein“ (paṭisandhi-viññāṇa) bezeichnet, auch wenn die Suttas selbst diesen Prozess dynamischer beschreiben, etwa in MN 38 und DN 15 im Zusammenhang mit der Empfängnis.
Die Lehre vom Bedingten Entstehen zeigt Viññāṇa somit nicht als einen ersten Ursprung oder einen unabhängigen Akteur, sondern als ein bedingt entstandenes und weiter bedingendes Glied im Kreislauf des Leidens. Seine Existenz hängt von vergangenen Handlungen und Unwissenheit ab, und seine Anwesenheit ist die notwendige Bedingung für die Entstehung des psycho-physischen Organismus (nāmarūpa), welcher die Grundlage für weitere Erfahrungen, Begehren (taṇhā) und Anhaften (upādāna) bildet. Das Verständnis dieser kausalen Verknüpfung ist der Schlüssel zum Verständnis, wie Leiden sich fortsetzt und wie seine Aufhebung durch das Durchbrechen dieser Kette möglich ist – etwa durch die Beseitigung der Unwissenheit, was zur Beendigung der Saṅkhārā führt, was wiederum zur Beendigung von Viññāṇa führt, und so weiter bis zur vollständigen Aufhebung des Leidens.
4. Ausgewählte Lehrreden (Suttas) zu Viññāṇa
Um das Verständnis von Viññāṇa zu vertiefen, ist das Studium der Originaltexte unerlässlich. Die folgenden Lehrreden aus dem Dīgha Nikāya (DN) und Majjhima Nikāya (MN) behandeln den Begriff schwerpunktmäßig und sind besonders erhellend.
4.1 Dīgha Nikāya (DN)
DN 15: Mahānidāna Sutta (Die große Lehrrede über die Ursachen)
- Relevanz: Dieses Sutta bietet die ausführlichste kanonische Darlegung der wechselseitigen Abhängigkeit von Viññāṇa und Nāmarūpa im Rahmen des Bedingten Entstehens. Der Buddha erklärt dem ehrwürdigen Ānanda detailliert, wie Bewusstsein ohne Name-und-Form (die psycho-physischen Komponenten) weder entstehen noch sich etablieren kann. Umgekehrt würde sich Name-und-Form nicht entwickeln, wenn das Bewusstsein nicht in den Mutterschoß eintreten würde (was die Verbindung zur Wiedergeburt illustriert) oder während des Lebens präsent wäre.
- Kernaussage: Das Sutta etabliert die untrennbare, gemeinsam entstehende Natur von Bewusstsein und dem psycho-physischen Organismus. Dieses Verständnis ist fundamental, um das Bedingte Entstehen zu begreifen und Ansichten über eine unabhängige Seele oder ein eigenständiges Bewusstsein zu überwinden.
- Quelle: DN 15, Mahānidāna Sutta (Die große Lehrrede über die Ursachen), SuttaCentral: https://suttacentral.net/dn15/de/sabbamitta
4.2 Majjhima Nikāya (MN)
MN 38: Mahātaṇhāsaṅkhaya Sutta (Die große Lehrrede über die Auflösung des Begehrens)
- Relevanz: Dieses Sutta ist eine direkte Auseinandersetzung mit der falschen Ansicht des Mönchs Sāti, der glaubte, dasselbe Bewusstsein würde unverändert von einem Leben zum nächsten wandern. Der Buddha widerlegt dies nachdrücklich und betont, dass Bewusstsein ausschließlich abhängig von Bedingungen entsteht. Er verwendet das berühmte Gleichnis vom Feuer, das seinen Namen vom jeweiligen Brennstoff erhält (Augen-Bewusstsein entsteht abhängig von Auge und Form etc.). Das Sutta bekräftigt die Kernlehre, dass Viññāṇa bedingt, vergänglich und kein dauerhaftes Selbst ist.
- Kernaussage: Ein grundlegender Text zum Verständnis der buddhistischen Ablehnung eines ewigen, unveränderlichen Bewusstseins oder einer Seele und zur Verdeutlichung der strikten Bedingtheit von Viññāṇa.
- Quelle: MN 38, Mahātaṇhāsaṅkhaya Sutta (Die große Lehrrede über die Auflösung des Begehrens), SuttaCentral: https://suttacentral.net/mn38/de/sabbamitta
MN 43: Mahāvedalla Sutta (Die große Frage-und-Antwort-Lehrrede)
- Relevanz: Enthält einen aufschlussreichen Dialog zwischen den ehrwürdigen Sāriputta und Mahākoṭṭhita. Hier wird Viññāṇa klar durch seine Funktion definiert: vijānāti – es erkennt oder unterscheidet. Es wird spezifiziert, dass Viññāṇa angenehme, schmerzhafte und neutrale Gefühle (vedanā) erkennt. Das Sutta untersucht auch die Beziehung zwischen Weisheit (paññā) und Bewusstsein (viññāṇa). Es stellt fest, dass sie eng verbunden sind, aber unterschiedliche Aufgaben im Befreiungsweg haben: Viññāṇa soll vollständig verstanden (pariññeyya), Weisheit (paññā) hingegen entfaltet (bhāvetabbā) werden.
- Kernaussage: Bietet eine prägnante funktionale Definition von Viññāṇa, klärt seine Beziehung zu Gefühl und Weisheit und unterstreicht die praktische Ausrichtung des buddhistischen Weges, bei dem das Verständnis der Funktionsweise des Geistes zur Entwicklung von Weisheit führt.
- Quelle: MN 43, Mahāvedalla Sutta (Die große Frage-und-Antwort-Lehrrede), SuttaCentral: https://suttacentral.net/mn43/de/sabbamitta
4.3 Übersicht Zentraler Lehrreden zu Viññāṇa
Die folgende Tabelle fasst die wichtigsten Informationen zu den oben genannten Lehrreden zusammen und dient als Schnellreferenz für das weitere Studium:
Nikāya | Sutta Nr. | Pali Name | Deutscher Titel (Üblich) | Kurze Relevanz für Viññāṇa | SuttaCentral Link |
---|---|---|---|---|---|
DN | 15 | Mahānidāna Sutta | Die große Lehrrede über die Ursachen | Detaillierte Erklärung der Interdependenz von Viññāṇa und Nāmarūpa. | DN 15 |
MN | 38 | Mahātaṇhāsaṅkhaya Sutta | Die große Lehrrede über die Auflösung des Begehrens | Widerlegung eines transmigrierenden Bewusstseins; Betonung der Bedingtheit von Viññāṇa. | MN 38 |
MN | 43 | Mahāvedalla Sutta | Die große Frage-und-Antwort-Lehrrede | Funktionale Definition (vijānāti); Beziehung zu Gefühl (vedanā) und Weisheit (paññā). | MN 43 |
5. Weitere wichtige Textstellen
Neben den ausführlich besprochenen Suttas aus DN und MN gibt es zahlreiche weitere Stellen im Pali-Kanon, die für das Verständnis von Viññāṇa relevant sind, insbesondere im Samyutta Nikāya (SN) und Aṅguttara Nikāya (AN).
5.1 Samyutta Nikāya (SN)
Der Samyutta Nikāya, die Sammlung der „gruppierten“ oder „verbundenen“ Lehrreden, enthält zwei Kapitel (Saṃyuttas), die für das Thema Viññāṇa von herausragender Bedeutung sind:
Nidāna Saṃyutta (SN 12): Kapitel über Kausalität / Bedingtes Entstehen
- Dieses Saṃyutta ist die primäre Quelle für die Lehre des Bedingten Entstehens (Paṭiccasamuppāda).
- SN 12.2 (Vibhaṅga Sutta – Lehrrede über die Analyse) liefert die Standarddefinitionen der zwölf Glieder, einschließlich der Definition von Viññāṇa als die sechs Arten des Sinnesbewusstseins (Augen-, Ohren-, Nasen-, Zungen-, Körper- und Geist-Bewusstsein).
- SN 12.65 (Nagara Sutta – Lehrrede von der Stadt) beschreibt, wie der Buddha das Bedingte Entstehen entdeckte, indem er die Kette von Leiden und Tod rückwärts bis zur Unwissenheit verfolgte. Die Verknüpfung von Viññāṇa und Nāmarūpa erweist sich dabei als entscheidender Punkt.
- Quelle: SN 12, Nidāna Saṃyutta (Kapitel über Kausalität), SuttaCentral: https://suttacentral.net/sn12?lang=de
Khandha Saṃyutta (SN 22): Kapitel über die Aggregate
- Dieses Saṃyutta widmet sich ausführlich der Analyse der fünf Aggregate (Pañca Khandhā).
- SN 22.48 (Khandha Sutta – Lehrrede über die Aggregate) enthält die bereits erwähnte, umfassende Definition des Bewusstseinsaggregats (Viññāṇakkhandha), die alle denkbaren Formen von bedingtem Bewusstsein einschließt. Es definiert auch das „Bewusstseinsaggregat des Anhaftens“ (Viññāṇupādānakkhandha) als jenes Bewusstsein, das mit mentalen Einflüssen (āsava) behaftet ist und dem Anhaften (upādāna) unterliegt.
- SN 22.22 (Bhāra Sutta – Lehrrede von der Bürde) verdeutlicht die leidvolle Natur des Anhaftens an die Aggregate, indem es die Aggregate des Anhaftens als „Bürde“ und das Begehren als das „Aufnehmen der Bürde“ bezeichnet.
- Quelle: SN 22, Khandha Saṃyutta (Kapitel über die Aggregate), SuttaCentral: https://suttacentral.net/sn22?lang=de
5.2 Aṅguttara Nikāya (AN)
Im Aṅguttara Nikāya, der Sammlung der „numerisch geordneten“ Lehrreden, findet sich eine besonders bekannte, aber auch vieldiskutierte Passage über den Geist:
AN 1.49-52 (Pabhassara Sutta – Lehrrede vom leuchtenden Geist)
- Diese kurzen Texte enthalten die Aussage: „Leuchtend, Mönche, ist dieser Geist. Und er ist [zeitweilig] von hinzukommenden Befleckungen befleckt.“ (Pabhassaramidaṃ, bhikkhave, cittaṃ. Tañca kho āgantukehi upakkilesehi upakkiliṭṭhaṃ.) Sowie: „Leuchtend, Mönche, ist dieser Geist. Und er ist von hinzukommenden Befleckungen befreit.“ (Pabhassaramidaṃ, bhikkhave, cittaṃ. Tañca kho āgantukehi upakkilesehi vippamuttaṃ.). Hier wird der Begriff Citta verwendet, der oft synonym oder überlappend mit Viññāṇa und Mano (Geist im aktiven Sinn) gebraucht wird, aber auch spezifische Konnotationen haben kann.
- Interpretationsherausforderung: Diese Passage hat zu vielen Diskussionen geführt, da sie auf den ersten Blick einer inhärent reinen Natur des Geistes oder Bewusstseins nahezulegen scheint, die nur vorübergehend durch „hinzukommende“ oder „fremde“ (āgantuka) Befleckungen getrübt wird. Dies könnte im Widerspruch zur durchgängigen Lehre stehen, dass Viññāṇa als Aggregat selbst bedingt, vergänglich und Teil des Leidensprozesses ist, wie in SN 22.48 und MN 38 dargelegt. Eine inhärent reine, unbedingte Bewusstseinsessenz würde der Lehre vom Nicht-Selbst (anattā) widersprechen.
- Spätere Kommentare interpretierten pabhassara citta oft im Sinne des bhavaṅga-citta (Daseinsstrom-Bewusstsein) des Abhidhamma, einer Art passivem Bewusstseinszustand. Moderne Gelehrte wie Bhikkhu Anālayo und Bhikkhu Sujato argumentieren jedoch überzeugend, dass die Passage im Kontext der frühen Suttas wahrscheinlich den Geist beschreibt, der in tiefer Meditation (Samādhi) vorübergehend von den fünf Hindernissen gereinigt und dadurch „leuchtend“ wird. Dies wäre immer noch ein bedingter Zustand, keine unbedingte Essenz. Diese Sichtweise wird durch das Upakkilesa Sutta (MN 128) gestützt, das innere Lichterscheinungen (obhāsa) in der Meditation beschreibt, die jedoch verschwinden, sobald Befleckungen (upakkilesa) auftreten. Dies zeigt, dass Luminosität im frühen Buddhismus eher als ein Ergebnis von Praxis und Reinigung verstanden wurde, nicht als eine unveränderliche Eigenschaft des grundlegenden Bewusstseins. Es ist daher wichtig, diese Suttas sorgfältig zu kontextualisieren und nicht als Beweis für ein ewiges, reines Selbst im Sinne anderer Traditionen zu interpretieren.
- Quelle: AN 1.49-52, Pabhassara Sutta (Die Lehrrede vom leuchtenden Geist), SuttaCentral: https://suttacentral.net/an1.49-52/de/sabbamitta
6. Zusammenfassung und Ausblick
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Viññāṇa im frühen Buddhismus primär als die funktionale Aktivität des Erkennens und Gewahrwerdens durch die sechs Sinnesgrundlagen verstanden wird. Es ist keine eigenständige Substanz oder Seele, sondern ein dynamischer, bedingt entstehender Prozess.
Viññāṇa spielt eine zentrale Rolle in zwei grundlegenden Lehrkonzepten:
- Als fünftes Aggregat (Viññāṇakkhandha) ist es Teil der Analyse der menschlichen Erfahrung und ein Objekt des Anhaftens (upādāna), das zu Leiden führt. Alle Formen des bedingten Bewusstseins fallen unter dieses Aggregat und sind somit vergänglich, leidhaft und ohne Selbst-Wesen.
- Im Bedingten Entstehen (Paṭiccasamuppāda) ist Viññāṇa ein entscheidendes Kausalglied, das abhängig von vergangenen Willensformationen (saṅkhārā) entsteht und seinerseits Name-und-Form (nāmarūpa) bedingt, wodurch der Kreislauf von Wiedergeburt und Leiden (saṁsāra) aufrechterhalten wird. Die wechselseitige Abhängigkeit von Viññāṇa und Nāmarūpa (DN 15) unterstreicht seine relative, nicht-absolute Natur. Die Lehrreden, insbesondere MN 38, weisen die Vorstellung eines permanenten, transmigrierenden Bewusstseins klar zurück.
Das korrekte Verständnis von Viññāṇa als ein bedingter, unbeständiger Prozess ist daher für den buddhistischen Befreiungsweg von entscheidender Bedeutung. Die Einsicht in seine wahre Natur führt zu Ernüchterung (nibbidā), Abwendung (virāga) und schließlich zur Befreiung (vimutti) vom Leiden.
Die in diesem Bericht vorgestellten Lehrreden und Verweise auf SuttaCentral.net bieten eine solide Grundlage für alle, die ihr Verständnis von Viññāṇa und seiner Rolle in der buddhistischen Lehre vertiefen möchten. Ein fortgesetztes Studium dieser Primärquellen ist der beste Weg, um die subtilen und tiefgründigen Einsichten des Buddha in die Natur des Geistes zu erschließen.
Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente
Ausgewählte Referenzen (Domains):
- Vijñāna – Wikipedia
- Three Kinds of Mind: Understanding Citta, Vijnana and Manas | Rethinking Religion
- Vinnana, Viññāṇa: 12 definitions – Wisdom Library
- Definitions for: viññāṇa – SuttaCentral
- The original meaning of „viññāṇa“ – Dhamma Wheel Buddhist Forum
- The Nature of Vinnana? – #61 by am7 – The Watercooler – Discuss & Discover – SuttaCentral
- The Five Aggregates – Spirit Rock Meditation Center
- Atta & Dukkha – Bhikkhuni Dhammananda – BuddhaSasana
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Nāma-rūpa (Geist & Körper – 4. Glied)
Bedingt durch das Bewusstsein entsteht Nāma-rūpa, wörtlich „Name-und-Form“, die psycho-physische Einheit, die dich als Individuum ausmacht. Nāma umfasst die geistigen Faktoren (Gefühl, Wahrnehmung, Absicht etc.), rūpa den materiellen Körper. Verstehe hier die untrennbare, wechselseitige Abhängigkeit von Geist und Körper, wie sie im Mahānidāna Sutta beschrieben wird.