
Das Floß Nutzen
Der Dhamma als Werkzeug zur Befreiung und die Notwendigkeit des Loslassens (Floßgleichnis)
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Wozu dient der Dhamma wirklich?
Du hast nun schon einiges über die Tiefe des Dhamma und die Wichtigkeit des richtigen Verständnisses gelernt. Aber was ist der eigentliche, praktische Zweck dieser Lehre? Wozu dient sie dir auf deinem Lebensweg? Der Buddha gab darauf eine sehr klare und bildhafte Antwort in einem weiteren berühmten Gleichnis aus der Lehrrede vom Schlangengleichnis (MN 22).
Das Gleichnis vom Floß (ebenfalls in MN 22)
Stell dir vor, du bist auf einer langen Reise und kommst an einen großen, reißenden Fluss. Das Ufer, an dem du stehst, ist gefährlich und voller Unannehmlichkeiten. Das andere Ufer jedoch ist sicher und frei von Gefahr. Es gibt aber keine Brücke und keine Fähre, um hinüberzukommen.
Was tust du? Du könntest denken: „Dieser Fluss ist breit und das diesseitige Ufer gefährlich, das jenseitige aber sicher. Wie komme ich hinüber?“ Du beschließt, Gras, Holz, Zweige und Blätter zu sammeln und daraus ein einfaches Floß zu bauen. Mit Hilfe dieses Floßes strengst du dich an, mit Händen und Füßen rudernd, und gelangst sicher ans andere Ufer.
Dort angekommen, überlegst du: „Dieses Floß war mir eine große Hilfe! Dank ihm bin ich sicher hierher gelangt. Sollte ich es nun auf meinen Kopf heben oder auf meinen Schultern tragen und mit ihm weiterziehen?“.
Der Buddha fragt seine Mönche: Wäre das eine kluge Handlung? Die Mönche verneinen.
Was wäre stattdessen klug? Der Buddha erklärt: Nachdem du das andere Ufer erreicht hast, könntest du denken: „Dieses Floß war mir sehr nützlich, um hierher zu gelangen. Nun aber brauche ich es nicht mehr für die weitere Reise. Ich sollte es hier am Ufer liegen lassen oder es im Wasser treiben lassen und meinen Weg ohne diese Last fortsetzen.“ Das wäre die vernünftige Handlungsweise.
Der Dhamma als Mittel zum Zweck
Dann zieht der Buddha die entscheidende Analogie: „Ebenso, ihr Mönche,“ sagt er, „habe ich euch gelehrt, dass der Dhamma wie ein Floß ist: Er dient dazu, [den Ozean des Leidens] zu überwinden, nicht dazu, daran festzuhalten“.
Dieses Zitat bringt den Kern auf den Punkt:
- Das Floß symbolisiert die Lehren und Praktiken des Buddha – Sīla (Ethik), Samādhi (Sammlung) und Paññā (Weisheit).
- Das gefährliche Ufer ist unser jetziger Zustand im Samsāra, dem Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt, der von Dukkha (Leiden, Unzufriedenheit) geprägt ist.
- Der reißende Fluss steht für die Strömungen von Gier, Hass und Verblendung, die uns im Leiden gefangen halten.
- Das sichere Ufer ist Nibbāna, der Zustand der Befreiung, des Friedens und des Endes allen Leidens.
Der Dhamma ist also ein unschätzbar wertvolles Werkzeug, ein pragmatisches Mittel, das dir hilft, die Gefahren und Leiden des Daseinskreislaufs zu überwinden und das Ufer der Befreiung zu erreichen. Er ist nicht das Ziel an sich.
Die Kunst des Loslassens: Sogar das Floß zurücklassen
Das Gleichnis geht aber noch einen entscheidenden Schritt weiter. Es lehrt uns nicht nur, den Dhamma als Werkzeug zu nutzen, sondern auch die Notwendigkeit, selbst dieses Werkzeug loszulassen, wenn es seinen Zweck erfüllt hat.
Warum? Weil das Festhalten am Dhamma – an den Lehren, den Konzepten, den Praktiken, ja sogar an der Identität als „Buddhist“ – selbst zu einer subtilen Form des Anhaftens (upādāna) werden kann. Und jegliches Anhaften, egal wie edel das Objekt sein mag, bindet uns weiterhin an den Kreislauf.
Deshalb sagt der Buddha in aller Deutlichkeit: „Ihr Mönche, ich habe euch gelehrt, dass der Dhamma wie ein Floß ist; wer dies versteht, der soll sogar den Dhamma loslassen, geschweige denn das Nicht-Dhamma“. (Nicht-Dhamma meint hier falsche oder unheilsame Lehren).
Was bedeutet „den Dhamma loslassen“? Es bedeutet nicht, die Lehren wegzuwerfen, solange du sie als Orientierung und Übung brauchst! Es bedeutet vielmehr:
- Nach Erreichen der Befreiung (Nibbāna) nicht an den Konzepten und Beschreibungen des Weges anzuhaften.
- Keinen Dogmatismus zu entwickeln und die Lehren nicht starr und unflexibel zu interpretieren.
- Keinen intellektuellen Stolz auf das eigene Wissen oder die eigene Praxis zu entwickeln.
- Die Lehren nicht als Selbstzweck zu betrachten, sondern immer ihren befreienden Charakter im Auge zu behalten.
Dieses Loslassen ist tief verbunden mit der Einsicht in Nicht-Selbst (Anattā). Wenn du erkennst, dass es kein festes, unabhängiges „Ich“ gibt, das irgendetwas besitzen oder festhalten könnte, wird auch das Festhalten an Lehren oder Ansichten gegenstandslos. Das Zurücklassen des Floßes ist ein Ausdruck dieser tiefen Einsicht in die Leerheit und das Nicht-Anhaften.
Wahre Befreiung bedeutet, frei zu sein von allen Fesseln, auch von den goldenen Fesseln der Konzepte und Ansichten.
Was das für Deinen Weg bedeutet
Das Floßgleichnis ermutigt dich zu einer pragmatischen und undogmatischen Haltung gegenüber dem Dhamma:
- Nutze das Floß: Studiere und praktiziere den Dhamma ernsthaft und gewissenhaft. Er ist dein bestes Mittel, um das Leiden zu überwinden.
- Kenne den Zweck: Behalte immer das Ziel im Auge – die Befreiung vom Leiden für dich und andere.
- Übe das Loslassen: Entwickle eine Haltung des Nicht-Anhaftens – an Meinungen, an Erfahrungen, an Fortschritten, an deiner Identität als Praktizierender.
Der Fokus liegt auf dem Weg, auf dem Prozess der Kultivierung, nicht auf dem Festhalten an einem bestimmten Zustand oder einer bestimmten Vorstellung. Nutze das Floß weise, um den Fluss zu überqueren. Aber sei bereit, es am anderen Ufer zurückzulassen, um wirklich frei zu sein.
Weiter in diesem Bereich mit …
Selbst Prüfen
Wem sollst Du glauben, wenn es um spirituelle Wahrheiten geht? Der Buddha gab den Kālāmern eine zeitlose Antwort: Verlasse Dich nicht blind auf Überlieferung, heilige Schriften, Logik oder die Autorität eines Lehrers. Lerne hier die „Charta der freien Untersuchung“ kennen und erfahre, wie Du Lehren anhand Deiner eigenen Erfahrung prüfen kannst: Was führt zu Leid (Dukkha), was zu Wohlbefinden? Was wurzelt in Gier, Hass, Verblendung? Nutze diesen persönlichen Kompass, um Deinen Weg weise zu wählen.