7 Erleuchtungsglieder (Satta Bojjhaṅgā)

7 Erleuchtungsglieder (Satta Bojjhaṅgā)
7 Erleuchtungsglieder (Satta Bojjhaṅgā)
7 Erleuchtungsglieder (Satta Bojjhaṅgā)

Die Sieben Erleuchtungsglieder (Satta Bojjhaṅgā) – Faktoren des Erwachens im frühen Buddhismus

Die Kultivierung von Achtsamkeit, Energie, Freude, Ruhe, Sammlung und Gleichmut

Einleitung: Die Satta Bojjhaṅgā – Sieben kostbare Glieder des Erwachens

Die Satta Bojjhaṅgā, die Sieben Erleuchtungsglieder, stellen eine zentrale und hochgeschätzte Gruppe von Lehrpunkten im frühen Buddhismus dar. Sie bezeichnen sieben wesentliche geistige Qualitäten oder Faktoren, deren systematische Kultivierung als direkter Weg zum Erwachen (Bodhi) und zur endgültigen Befreiung vom Leiden (Nibbāna) betrachtet wird. Diese Faktoren sind keine abstrakten Konzepte, sondern aktive, heilsame Geisteszustände, die durch meditative Praxis entfaltet und zur Reife gebracht werden müssen. Ihre Bedeutung wird dadurch unterstrichen, dass sie den Geist reinigen, klären und stärken, um die tiefsten Einsichten zu ermöglichen.

Eine besondere Stellung nehmen die Bojjhaṅgā auch dadurch ein, dass sie gemäß den buddhistischen Schriften nur in einer Zeit bekannt sind und gelehrt werden, in der ein vollkommen Erwachter (Samma Sambuddha) in der Welt erscheint. Diese Betonung ihrer Exklusivität im Rahmen der Buddha-Lehre hebt hervor, dass ihre spezifische Kombination und Kultivierung im Kontext des buddhistischen Pfades entscheidend für die einzigartige Perspektive der Befreiung ist, die über allgemeine ethische oder meditative Qualitäten hinausgeht.

Definition und Etymologie

Der Pali-Begriff Satta Bojjhaṅgā setzt sich zusammen aus:

  • Satta: Sieben
  • Bodhi: Erwachen, Erleuchtung; genauer: die Einsicht, die mit der Verwirklichung der Vier Edlen Wahrheiten verbunden ist. Es leitet sich von der Wurzel budh ab, was „erwachen“, „bemerken“ oder „verstehen“ bedeutet.
  • Aṅga: Glied, Faktor, Bestandteil, Ursache.

Somit bedeuten Satta Bojjhaṅgā wörtlich die „Sieben Faktoren des Erwachens“ oder „Sieben Glieder der Erleuchtung“. Sie werden so genannt, weil sie zur Erleuchtung führen (Bodhāya samvattantīti). Gelegentlich findet sich auch die Bezeichnung Satta Sambojjhaṅgā, wobei das Präfix sam- „vollständig“, „vollkommen“ oder „höchst“ bedeutet und die Qualität dieser Faktoren unterstreicht.

Die Bojjhaṅgā können sowohl als notwendige Bedingungen und Mittel auf dem Pfad zur Erleuchtung verstanden werden, als auch als charakteristische Merkmale des erleuchteten Geisteszustandes selbst. Im Sutta Piṭaka, den Lehrreden des Buddha, werden sie oft als heilsame, noch weltliche (mundane) Faktoren beschrieben, deren Kultivierung zur Befreiung führt. Im Abhidhamma Piṭaka, der buddhistischen Psychologie und Philosophie, und in späteren Kommentaren werden sie tendenziell eher als überweltliche (supramundane) Faktoren betrachtet, die untrennbar mit dem Moment des Erwachens verbunden sind. Diese doppelte Perspektive – als Weg und als Zielmerkmal – verdeutlicht ihre zentrale Rolle als Brücke zwischen dem Pfad der Übung und der letztendlichen Frucht der Befreiung, der Verwirklichung von Nibbāna durch das Verständnis der Vier Edlen Wahrheiten.

Einordnung in die Lehre

Die Sieben Erleuchtungsglieder sind Teil eines größeren Rahmens von Qualitäten, die für den Fortschritt auf dem buddhistischen Pfad als essentiell gelten: die 37 Bodhipakkhiyadhamma oder „zum Erwachen gehörigen Dinge“. Diese 37 Faktoren sind in sieben Gruppen unterteilt, wobei die Satta Bojjhaṅgā eine dieser Gruppen bilden. Die anderen Gruppen umfassen die Vier Grundlagen der Achtsamkeit (Satipaṭṭhāna), die Vier Rechten Anstrengungen (Sammappadhāna), die Vier Grundlagen der Kraft (Iddhipāda), die Fünf Fähigkeiten (Indriya), die Fünf Kräfte (Bala) und den Edlen Achtfachen Pfad (Ariya Aṭṭhaṅgika Magga). Diese umfassende Liste zeigt, wie die Bojjhaṅgā mit anderen zentralen Aspekten der buddhistischen Praxis verwoben sind.

Die Sieben Erleuchtungsglieder im Detail

Die sieben Faktoren bauen in einer spezifischen Reihenfolge aufeinander auf und unterstützen sich gegenseitig. Die folgende Tabelle gibt einen ersten Überblick:

Tabelle 1: Übersicht der Sieben Erleuchtungsglieder (Satta Bojjhaṅgā)
Nr. Pali-Name Deutsche Übersetzung(en) Kurze Schlüsselbedeutung
1 Sati Achtsamkeit Präsent sein, klare Wahrnehmung der gegenwärtigen Realität
2 Dhammavicaya Wirklichkeitsergründung, Untersuchung der Phänomene/Lehre Aktive, weise Analyse der Natur der Dinge (Gesetzmäßigkeiten erkennen)
3 Viriya Energie, Willenskraft, Bemühung Anhaltende geistige Anstrengung auf dem Pfad, Überwindung von Hindernissen
4 Pīti Freude, Verzückung, Interesse Belebende, nicht-sinnliche Freude und Begeisterung an der Praxis und ihren Früchten
5 Passaddhi Gestilltheit, Ruhe, Entspannung Beruhigung und Stillwerden von Körper und Geist
6 Samādhi Sammlung, Konzentration Einspitzigkeit des Geistes, stabiles Ruhen auf einem heilsamen Objekt
7 Upekkhā Gleichmut Ausgeglichenheit, Nicht-Anhaften, Unparteilichkeit gegenüber allen Erfahrungen

Im Folgenden werden die einzelnen Glieder detaillierter erläutert:

  1. Sati (Achtsamkeit): Sati ist das Fundament, auf dem alle anderen Erleuchtungsglieder aufbauen. Es bedeutet weit mehr als nur passive Aufmerksamkeit. Es ist die Fähigkeit, den Geist klar und präsent im gegenwärtigen Moment zu halten und die Realität – Körperempfindungen, Gefühle, Geisteszustände und Geistesobjekte – ohne Urteil und ohne sich darin zu verlieren, wahrzunehmen. Sati schützt den Geist vor Verwirrung und Vergesslichkeit und ermöglicht es, das Entstehen und Vergehen von Phänomenen zu erkennen. Diese nicht-wertende Bewusstheit muss kontinuierlich während aller Aktivitäten des täglichen Lebens aufrechterhalten werden, um zu einem Faktor der Erleuchtung zu werden. Die primäre Methode zur Kultivierung von Sati sind die Vier Grundlagen der Achtsamkeit (Satipaṭṭhāna), wie sie in Lehrreden wie dem Satipaṭṭhāna Sutta (MN 10) oder dem Mahāsatipaṭṭhāna Sutta (DN 22) dargelegt werden.
  2. Dhammavicaya (Wirklichkeitsergründung / Untersuchung der Lehre/Phänomene): Auf der Basis etablierter Achtsamkeit (Sati) entsteht Dhammavicaya. Dies ist ein aktiver Prozess der weisen Untersuchung, Analyse und Erforschung der Natur der Realität (Dhamma). Es geht nicht nur um intellektuelles Verständnis der buddhistischen Lehre, sondern vielmehr um die direkte Einsicht in die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der erfahrenen Phänomene (nāma-rūpa, Geist und Materie), wie ihre Vergänglichkeit (anicca), ihr Leidhaftigkeit (dukkha) und ihre Nicht-Selbst-Natur (anattā). Dhammavicaya hilft, Heilsames von Unheilsamem zu unterscheiden und die wahre Natur der Daseinsfaktoren, wie der Fünf Aggregate des Anhaftens (pañcupādānakkhandhā), zu durchdringen. Dieser Faktor wird genährt durch das Studium und die Reflexion der Lehre, durch ethische Reinheit, durch die Balance der fünf spirituellen Fähigkeiten (indriya) und den Umgang mit weisen Personen.
  3. Viriya (Energie / Willenskraft / Bemühung): Aus der klaren Untersuchung (Dhammavicaya) erwächst die Energie (Viriya), die notwendig ist, um auf dem Pfad voranzuschreiten. Viriya bezeichnet eine anhaltende, unerschütterliche geistige Anstrengung und Entschlossenheit. Es ist die Kraft, die Hindernisse überwindet und die meditative Praxis antreibt. Sie manifestiert sich in dreifacher Hinsicht: als Energie, eine Handlung zu beginnen (ārambhadhātu), sie trotz Widerständen aufrechtzuerhalten (nikkamadhātu) und sie bis zur Vollendung durchzuführen (parakkamadhātu). Im Kontext des Achtfachen Pfades entspricht Viriya der Rechten Anstrengung (Sammā Vāyāma), die vier Aspekte umfasst: das Vermeiden unheilsamer Zustände, das Überwinden bereits entstandener unheilsamer Zustände, das Hervorbringen heilsamer Zustände und das Fördern bereits entstandener heilsamer Zustände. Viriya ist auch ein zentraler Bestandteil anderer wichtiger Pfadfaktorengruppen wie den Vier Grundlagen der Kraft (Iddhipāda), den Fünf Fähigkeiten (Indriya) und den Fünf Kräften (Bala).
  4. Pīti (Freude / Verzückung / Interesse): Wenn die Energie (Viriya) fest etabliert ist, kann Pīti entstehen – eine Form von Freude, Begeisterung oder Verzückung, die oft auch körperlich spürbar ist. Es handelt sich hierbei um eine nicht-sinnliche Freude (nirāmisa pīti), die aus dem Fortschritt auf dem Pfad und dem Loslassen von Anhaftungen resultiert, im Gegensatz zur vergänglichen Freude aus Sinneskontakten (sāmisa pīti). Pīti wirkt belebend auf den Geist, motiviert zur weiteren Praxis und ist ein wichtiger Faktor zur Überwindung von Hindernissen wie Übelwollen (Vyāpāda) und Mattheit (Thīna-middha). Pīti ist auch einer der fünf Faktoren, die in den meditativen Vertiefungen (Jhāna) präsent sind.
  5. Passaddhi (Gestilltheit / Ruhe / Entspannung): Auf die oft intensive Freude (Pīti) folgt natürlicherweise Passaddhi, ein Zustand der tiefen Beruhigung, Ruhe und Entspannung von Körper und Geist. Es gibt eine körperliche Gestilltheit (kāya passaddhi), die sich auf die Beruhigung der mentalen Formationen (Gefühl, Wahrnehmung, Willensregungen) bezieht, und eine geistige Gestilltheit (citta passaddhi), die das Bewusstsein selbst betrifft. Dieser Faktor überwindet geistige Unruhe und Anspannung und schafft eine stabile und friedvolle Grundlage für die Entwicklung tieferer Konzentration (Samādhi).
  6. Samādhi (Sammlung / Konzentration): Aus der Gestilltheit (Passaddhi) und dem damit verbundenen Glücksgefühl (Sukha) entwickelt sich Samādhi. Samādhi ist die Fähigkeit des Geistes, stabil, unerschütterlich und einspitzig (ekaggatā) auf einem einzigen, heilsamen Meditationsobjekt zu verweilen. Dieser Zustand der Sammlung ist essentiell für die Entwicklung tiefer Einsicht (Vipassanā), da er es ermöglicht, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind (yathābhūta ñāṇadassana). Samādhi ist die primäre Kraft zur Überwindung der Fünf Hindernisse (Nīvaraṇa) und bildet die Grundlage für die Entfaltung höheren Wissens (Vijjā). Wie Viriya ist auch Samādhi ein Bestandteil der Fünf Fähigkeiten (Indriya), der Fünf Kräfte (Bala) und der achte Faktor des Edlen Achtfachen Pfades (Sammā Samādhi). Die Vertiefung von Samādhi führt zu den meditativen Absorptionen (Jhāna).
  7. Upekkhā (Gleichmut): Als Kulmination der Entwicklung der Erleuchtungsglieder entsteht Upekkhā aus einem tief gesammelten Geist (Samādhi). Upekkhā ist ein Zustand vollkommener geistiger Ausgeglichenheit, Unparteilichkeit und Nicht-Anhaftens gegenüber allen Erfahrungen, seien sie angenehm, unangenehm oder neutral. Es ist keine stumpfe Gleichgültigkeit, sondern eine wache, klare und stabile Geisteshaltung, die frei ist von Gier, Hass, Anziehung und Abstoßung. Dieser Gleichmut schützt den Geist vor den Schwankungen der acht weltlichen Bedingungen (aṭṭha loka dhamma: Gewinn und Verlust, Ruhm und Verruf, Lob und Tadel, Freude und Schmerz). Upekkhā perfektioniert die Sammlung und stellt den Gipfel der Entwicklung innerhalb dieser Siebenergruppe dar. Sie ist auch eine der vier Göttlichen Verweilungszustände (Brahmavihāra).

Das dynamische Zusammenspiel

Die Entwicklung der Bojjhaṅgā folgt zwar einer grundlegenden Sequenz, wie sie oben beschrieben wurde, ist aber kein rein linearer, mechanischer Prozess. Vielmehr erfordert die Kultivierung ein dynamisches Ausbalancieren der Faktoren. Bestimmte Faktoren wirken eher anregend und energetisierend (Dhammavicaya, Viriya, Pīti), während andere beruhigend und stabilisierend wirken (Passaddhi, Samādhi, Upekkhā). Achtsamkeit (Sati) spielt hierbei eine moderierende Rolle.

Es ist notwendig, ein Gleichgewicht zwischen diesen Kräften zu finden. Zu viel Energie (Viriya) ohne ausreichende Sammlung (Samādhi) kann zu Unruhe (Uddhacca) führen, während zu viel Sammlung ohne Energie in Trägheit und Mattheit (Thīna-middha) münden kann. Ebenso muss ein Gleichgewicht zwischen Vertrauen (Saddhā) und Weisheit (Paññā) gehalten werden, um weder in blinden Glauben noch in lähmenden Zweifel zu verfallen. Die Achtsamkeit (Sati) ist der Schlüssel, um den aktuellen Zustand des Geistes zu erkennen und zu entscheiden, welcher Faktor gerade gefördert oder gemindert werden muss, um die Balance wiederherzustellen und insbesondere die Fünf Hindernisse (Nīvaraṇa) zu überwinden.

Wenn beispielsweise Trägheit vorherrscht, sollten die anregenden Faktoren kultiviert werden; bei Unruhe oder Sorge hingegen die beruhigenden Faktoren. Dies zeigt, dass der buddhistische Pfad kein passives Geschehenlassen ist, sondern ein aktives, intelligentes und situationsangepasstes Management der eigenen geistigen Qualitäten erfordert.

Die Bojjhaṅgā in den Lehrreden des Palikanon

Die Sieben Erleuchtungsglieder werden an zahlreichen Stellen im Palikanon erwähnt. Für ein vertieftes Studium sind insbesondere folgende Quellen relevant:

Primärquellen in Dīgha Nikāya (DN) und Majjhima Nikāya (MN)

Diese beiden Sammlungen enthalten längere und mittellange Lehrreden, die oft grundlegende Aspekte der Lehre ausführlich darlegen. Für die Bojjhaṅgā sind besonders hervorzuheben:

  • MN 118 – Ānāpānasatisutta (Lehrrede über die Achtsamkeit beim Atmen): Diese bedeutende Lehrrede beschreibt detailliert, wie die systematische Praxis der Achtsamkeit auf den Atem (Ānāpānasati) in 16 Schritten zur Entfaltung der vier Grundlagen der Achtsamkeit (Satipaṭṭhāna) führt. Im weiteren Verlauf wird explizit dargelegt, wie die entwickelten Satipaṭṭhāna ihrerseits die sieben Bojjhaṅgā zur vollen Reife bringen. Die Lehrrede kulminiert in der Aussage, dass die voll entwickelten Bojjhaṅgā schließlich Wissen (Vijjā) und Befreiung (Vimutti) zur Vollendung bringen. Sie zeigt somit den integralen Zusammenhang von Atembeobachtung, Achtsamkeit und den Erleuchtungsgliedern als einen kontinuierlichen Entwicklungsprozess.
    Referenz: MN 118 (Ānāpānasatisutta – Achtsamkeit beim Atmen). Link (deutsche Übersetzung verfügbar)
  • DN 22 / MN 10 – Mahāsatipaṭṭhānasutta / Satipaṭṭhānasutta (Die große / Lehrrede über die Grundlagen der Achtsamkeit): Dies ist die grundlegende Lehrrede zur Praxis der Achtsamkeit. Sie legt die vier Bereiche der Achtsamkeitsmeditation dar: Kontemplation des Körpers (kāya), der Gefühle (vedanā), des Geistes (citta) und der Geistesobjekte (dhammā). Im Abschnitt über die Geistesobjekte wird explizit die Betrachtung der Sieben Erleuchtungsglieder als Teil der Dhamma-Kontemplation genannt. Die Bojjhaṅgā werden hier als Objekte der Achtsamkeit und gleichzeitig als Frucht der gesamten Satipaṭṭhāna-Praxis präsentiert. Die Entwicklung von Achtsamkeit (Sati) in diesen vier Bereichen schafft die notwendige Grundlage für das Entstehen und die Entfaltung der weiteren Erleuchtungsglieder. DN 22 ist eine erweiterte Fassung von MN 10, die zusätzlich eine ausführliche Analyse der Vier Edlen Wahrheiten enthält.
    Referenz: DN 22 (Mahāsatipaṭṭhānasutta) oder MN 10 (Satipaṭṭhānasutta). Link DN 22, Link MN 10 (deutsche Übersetzungen verfügbar)
  • MN 77 – Mahāsakuludāyisutta (Die längere Lehrrede an Sakuludāyin): In dieser Lehrrede diskutiert der Buddha mit dem Wanderasketen Sakuludāyin die Gründe für die Verehrung, die ihm seine Schüler entgegenbringen. Als Teil seiner Darlegung der Vollkommenheit seiner Lehre zählt der Buddha die 37 Bodhipakkhiyadhamma auf, zu denen auch die sieben Bojjhaṅgā gehören. Diese Rede kontextualisiert die Erleuchtungsglieder als einen integralen Bestandteil des gesamten Systems der buddhistischen Praxis, das zur Befreiung führt.
    Referenz: MN 77 (Mahāsakuludāyisutta – Die längere Lehrrede an Sakuludāyin). Link (deutsche Übersetzungen verfügbar)

Die Sammlung im Saṃyutta Nikāya (SN)

Das Saṃyutta Nikāya (Sammlung der Gruppierten Lehrreden) widmet den Erleuchtungsgliedern ein eigenes großes Kapitel (Saṃyutta):

  • SN 46 – Bojjhaṅga Saṃyutta (Die Sammlung über die Erleuchtungsglieder): Dieses Saṃyutta umfasst 186 kurze Lehrreden, die sich ausschließlich mit den Satta Bojjhaṅgā befassen. Es beleuchtet ihre Natur, die Bedingungen für ihr Entstehen, Methoden ihrer Kultivierung (insbesondere durch Satipaṭṭhāna), ihren Nutzen und ihre Beziehung zu anderen Aspekten der Lehre aus vielfältigen Blickwinkeln.
    Behandelte Themen sind unter anderem:
    • Die Entwicklung der Bojjhaṅgā durch Achtsamkeit.
    • Ihre Rolle bei der Überwindung der Fünf Hindernisse (Nīvaraṇa), z.B. in SN 46.51, und das dynamische Ausbalancieren der Faktoren (z.B. SN 46.53).
    • Ihre Funktion als Weg zum Nibbāna, verglichen mit Dachsparren, die zum Giebel führen (SN 46.7).
    • Ihre Heilkraft, wie in den bekannten Paritta-Suttas (Schutzrezitationen) berichtet wird, die bei Krankheit des Buddha selbst sowie seiner Hauptschüler Mahā Kassapa und Mahā Moggallāna rezitiert wurden und zur Genesung führten.

    Referenz: SN 46 (Bojjhaṅga Saṃyutta). Link (deutsche Übersetzungen für viele Suttas verfügbar)

Eine bedeutende Rede im Aṅguttara Nikāya (AN)

Das Aṅguttara Nikāya (Sammlung der Angereihten Lehrreden) ist nach numerischen Gesichtspunkten geordnet und enthält viele praktische Anleitungen, oft auch für Laienanhänger. Eine besonders relevante Rede im Zusammenhang mit den Bojjhaṅgā ist:

  • AN 10.102 – (Titel variiert, z.B. Vijjābhāgiyasutta): Diese Lehrrede stellt einen direkten Zusammenhang zwischen der Kultivierung der Sieben Erleuchtungsglieder und der Erlangung der höchsten Stufen des Wissens her. Der Buddha erklärt hier, dass die sieben Bojjhaṅgā, wenn sie entfaltet und häufig geübt werden (bhāvitā bahulīkatā), die drei höheren Wissen (Tisso Vijjā) zur Vollendung bringen. Diese drei Wissen sind: 1. Das Wissen um die früheren Existenzen (pubbenivāsānussati-ñāṇa). 2. Das Wissen um das Vergehen und Wiedererscheinen der Wesen gemäß ihren Taten (cutūpapāta-ñāṇa). 3. Das Wissen um die Versiegung der Triebe/Befleckungen (āsavakkhaya-ñāṇa). Die Rede unterstreicht somit, dass die Entwicklung der Bojjhaṅgā nicht nur zur Beruhigung des Geistes und zur vorläufigen Überwindung von Hindernissen dient, sondern direkt zur höchsten Weisheit und zur endgültigen Befreiung von den fundamentalen Ursachen des Leidens (Āsavas) führt.
    Referenz: AN 10.102. Link (deutsche Übersetzung verfügbar)

Kontext und Bedeutung im buddhistischen Pfad

Die Sieben Erleuchtungsglieder stehen nicht isoliert da, sondern sind tief in den Gesamtkontext der buddhistischen Lehre und Praxis eingebettet. Ihre Bedeutung erschließt sich insbesondere im Verhältnis zu den geistigen Hindernissen und zum Edlen Achtfachen Pfad.

Gegenkräfte zu den Hindernissen (Pañca Nīvaraṇa)

Die Pañca Nīvaraṇa, die Fünf Hindernisse, sind Geisteszustände, die den meditativen Fortschritt blockieren und die Entwicklung von Weisheit schwächen. Sie umfassen:

  • Kāmacchanda: Sinnliches Begehren, Verlangen nach angenehmen Sinneserfahrungen.
  • Vyāpāda: Übelwollen, Hass, Ablehnung gegenüber Unangenehmem.
  • Thīna-middha: Trägheit und Mattheit, geistige und körperliche Erschlaffung.
  • Uddhacca-kukkucca: Unruhe und Sorge, Aufgewühltheit und Bedauern.
  • Vicikicchā: Skeptischer Zweifel, Unentschlossenheit bezüglich des Weges.

Diese Hindernisse trüben den Geist wie Verunreinigungen das Wasser und verhindern klare Einsicht. Die Sieben Erleuchtungsglieder wirken als direkte Gegenmittel oder als „Nahrung“ (āhāra), die den Geist stärkt und die Hindernisse zurückdrängt und schließlich überwindet. Die Kultivierung der Bojjhaṅgā führt zu einem Geist, der frei von diesen Obstruktionen ist.

Die folgende Tabelle verdeutlicht die antagonistische Beziehung und zeigt, welche Erleuchtungsglieder besonders wirksam gegen spezifische Hindernisse sind, basierend auf Lehrreden wie SN 46.51, SN 46.53 und Kommentaren:

Tabelle 2: Die Fünf Hindernisse (Nīvaraṇa) und ihre Überwindung durch die Erleuchtungsglieder (Bojjhaṅgā)
Hindernis (Pali / Deutsch) Charakteristik Primär entgegenwirkende Bojjhaṅga(s)
Kāmacchanda (Sinnenlust) Begehren nach Sinnesfreuden, Anhaftung Samādhi (Sammlung), Upekkhā (Gleichmut) – führen zu nicht-sinnlicher Freude und Losgelöstheit. Auch Passaddhi (Gestilltheit).
Vyāpāda (Übelwollen, Hass) Ablehnung, Ärger, Feindseligkeit Pīti (Freude), Passaddhi (Gestilltheit), Upekkhā (Gleichmut) – ersetzen negative Emotionen durch positive und ausgeglichene Zustände. (Auch Mettā, Liebevolle Güte, die eng mit Pīti und Passaddhi verbunden ist).
Thīna-middha (Trägheit, Mattheit) Geistige und körperliche Erschlaffung, Mangel an Energie Dhammavicaya (Untersuchung), Viriya (Energie), Pīti (Freude) – aktivieren und beleben den Geist, wecken Interesse und Tatkraft.
Uddhacca-kukkucca (Unruhe, Sorge) Aufgewühltheit, Zerstreutheit, Bedauern über Vergangenes, Sorge um Zukünftiges Passaddhi (Gestilltheit), Samādhi (Sammlung), Upekkhā (Gleichmut) – beruhigen den Geist, fördern Stabilität und Ausgeglichenheit.
Vicikicchā (Skeptischer Zweifel) Unentschlossenheit, Mangel an Vertrauen in den Weg oder die eigene Fähigkeit Dhammavicaya (Untersuchung) – führt durch klare Einsicht und Verständnis zur Auflösung von Zweifeln. Auch Sati (Achtsamkeit) und Samādhi (Sammlung) stabilisieren den Geist.

Diese Gegenüberstellung macht die Funktion der Bojjhaṅgā als praktische Werkzeuge zur Geistesschulung greifbar. Sie zeigt, dass Meditation nicht nur passives Beobachten beinhaltet, sondern auch das aktive Kultivieren heilsamer und das bewusste Überwinden unheilsamer Geisteszustände durch die Anwendung der geeigneten Faktoren erfordert.

Die wiederholte Erwähnung in den Suttas, dass die Rezitation der Bojjhaṅgā zur Heilung von Krankheiten führte – sowohl beim Buddha selbst als auch bei seinen Schülern Mahā Kassapa und Mahā Moggallāna – weist auf eine tiefe Verbindung zwischen geistiger Reinheit, Balance und körperlichem Wohlbefinden hin. Die Bojjhaṅgā repräsentieren einen Zustand höchster geistiger Harmonie und Kraft. Ihre Kultivierung oder auch ihre bewusste Vergegenwärtigung durch Rezitation (Paritta) kann einen derart heilsamen Geisteszustand fördern, dass er sich positiv auf den Körper auswirkt und möglicherweise psychophysische Heilungsprozesse unterstützt. Dies verleiht den Bojjhaṅgā eine Dimension, die über ihre rein soteriologische (auf Erlösung bezogene) Funktion hinausgeht und die psychosomatische Perspektive der buddhistischen Lehre berührt.

Verbindung zum Edlen Achtfachen Pfad

Die Sieben Erleuchtungsglieder sind keine vom Edlen Achtfachen Pfad getrennte Lehre, sondern stellen vielmehr eine detaillierte Ausarbeitung und Vertiefung bestimmter Pfadfaktoren dar, insbesondere der drei abschließenden Glieder, die die Bereiche Geistestraining (Samādhi) und Weisheit (Paññā) umfassen:

  • Sati (Achtsamkeit) ist identisch mit dem siebten Pfadglied, Rechte Achtsamkeit (Sammā Sati).
  • Viriya (Energie) ist die treibende Kraft hinter dem sechsten Pfadglied, Rechte Anstrengung (Sammā Vāyāma).
  • Samādhi (Sammlung) entspricht dem achten Pfadglied, Rechte Sammlung (Sammā Samādhi).
  • Dhammavicaya (Untersuchung) steht in engem Zusammenhang mit dem ersten Pfadglied, Rechte Anschauung (Sammā Diṭṭhi), und dem Weisheitsaspekt (Paññā) des Pfades.

Die Faktoren Pīti (Freude), Passaddhi (Gestilltheit) und Upekkhā (Gleichmut) beschreiben die qualitativen Entwicklungsstufen, die durch die rechte Anwendung von Anstrengung, Achtsamkeit und Sammlung erreicht werden und die wiederum die Vertiefung von Sammlung und Einsicht ermöglichen.

Die Entwicklung der Bojjhaṅgā kann somit als die praktische Entfaltung und Verfeinerung des Geistes im Rahmen des Achtfachen Pfades verstanden werden.

Die Rolle auf dem Weg zur Befreiung

Die Kultivierung der Satta Bojjhaṅgā ist von entscheidender Bedeutung für den gesamten Befreiungsweg:

  • Sie markiert den Übergang von einem gewöhnlichen Weltling (Puthujjana), der von Unwissenheit und Anhaftung getrieben ist, zu einem edlen Schüler (Ariya), der den Pfad zur Befreiung betreten hat.
  • Sie ermöglichen die effektive Überwindung der Fünf Hindernisse (Nīvaraṇa) und schaffen dadurch die notwendige geistige Klarheit, Ruhe und Stabilität, die für die Entwicklung tiefer Einsicht (Vipassanā) in die wahre Natur der Phänomene unerlässlich ist.
  • Ihre vollständige Entfaltung und Reife führt direkt zur Verwirklichung der Vier Edlen Wahrheiten und zur Zerstörung der Āsavas – der tiefsitzenden Triebe oder Befleckungen (Sinnlichkeit, Werden, Ansichten, Unwissenheit). Dies kulminiert in der Erlangung von Wissen (Vijjā) und endgültiger Befreiung (Vimutti), dem Zustand des Nibbāna.

Zusammenfassung: Der Weg der Kultivierung

Die Satta Bojjhaṅgā, die Sieben Erleuchtungsglieder, sind essentielle, dynamisch miteinander verbundene geistige Qualitäten, die das Herzstück der meditativen Entwicklung auf dem buddhistischen Pfad bilden. Sie werden durch engagierte Praxis, insbesondere durch die Methoden der Achtsamkeit wie Satipaṭṭhāna und Ānāpānasati, aktiv kultiviert und zur Reife gebracht.

Ihre praktische Relevanz liegt darin, dass sie als wirksame Werkzeuge dienen, um geistige Hindernisse (Nīvaraṇa) zu überwinden, die Konzentration (Samādhi) zu vertiefen und befreiende Weisheit (Paññā) zu entwickeln. Die ausgewogene Entfaltung dieser sieben Faktoren ist entscheidend für den Fortschritt auf dem Weg.

Das letztendliche Ziel ihrer Kultivierung ist jedoch nicht die Perfektionierung dieser Zustände an sich, sondern die Frucht, zu der sie führen: die vollständige Befreiung vom Kreislauf des Leidens (Saṃsāra) und die Verwirklichung von Nibbāna.

Für alle, die ihr Verständnis dieser wichtigen Lehrgruppe vertiefen möchten, sei das Studium der Originalquellen, insbesondere der genannten Lehrreden im Majjhima Nikāya (MN 10, MN 77, MN 118), Dīgha Nikāya (DN 22) und vor allem des Bojjhaṅga Saṃyutta (SN 46) im Saṃyutta Nikāya, empfohlen. Die frei zugängliche Online-Ressource SuttaCentral (https://suttacentral.net/) bietet hierfür eine unschätzbare Grundlage mit zahlreichen Übersetzungen, auch ins Deutsche.

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Das erste Erleuchtungsglied ist Sati, die Achtsamkeit. Sie ist das Fundament, auf dem alle anderen aufbauen. Sati ist die Fähigkeit, den Geist klar und präsent im gegenwärtigen Moment zu halten und die Realität – Körper, Gefühle, Geisteszustände und Phänomene – ohne Urteil und ohne sich darin zu verlieren, wahrzunehmen. Entdecke, wie du diese grundlegende Qualität kultivieren kannst.