Flut (Ogha)

Flut/Fluten (Ogha)
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Ogha (Flut/Fluten) – Ein zentraler Begriff des frühen Buddhismus

Ein zugänglicher Leitfaden zum Pali-Begriff Ogha und verwandten Konzepten für deutschsprachige Laien.

1. Ogha: Die Fluten der Existenz

1.1. Die wörtliche und übertragene Bedeutung von „Ogha“

Der Pali-Begriff Ogha (Sanskrit: augha) trägt in seiner wörtlichen Bedeutung die Vorstellung einer überwältigenden Naturkraft in sich. Selten in den älteren Texten, aber dennoch belegt, bezeichnet Ogha eine „Wasserflut“, einen „Strom“ oder einen „Wildbach“ (z.B. udak’ogha oder mahogha, eine große Flut). Dieses Bild einer unkontrollierbaren, hinwegreißenden Strömung dient als kraftvolle Metapher für die zentralen Hindernisse auf dem spirituellen Pfad.

Im Buddhismus wird Ogha fast ausnahmslos in einer übertragenen, metaphorischen Bedeutung verwendet. Es beschreibt die „Flut der Unwissenheit und vergeblichen Begierden“, die ein Wesen mit sich reißt und von der Sicherheit der Befreiung, dem Nibbāna, fernhält. Es ist die „Flut des phänomenalen Lebens“ oder des Saṁsāra, des Kreislaufs von Geburt, Alter, Krankheit und Tod, die den Einzelnen immer wieder in unkontrollierte Existenzen spült. Die Verwendung des Begriffs Ogha im Pali-Kanon zeigt eine bemerkenswerte Entwicklung.

In den älteren Schriften erscheint Ogha oft im Singular, um eine allgemeine, alles umfassende Flut von Verunreinigungen zu kennzeichnen. Mit der Zeit, insbesondere gegen Ende der Nikāya-Periode und in den späteren Abhidhamma-Büchern, wurde der Begriff systematischer gefasst und im Plural verwendet. Hierbei wurden explizit die „vier Fluten“ benannt, die als identisch mit den „vier Āsavas“ (Gärstoffen oder Einflüssen) verstanden werden. Diese fortschreitende Kategorisierung und Präzisierung der Lehren spiegelt eine Tendenz wider, die Hindernisse auf dem Pfad klarer zu definieren und zu klassifizieren. Die Entwicklung von einer allgemeinen Metapher zu einer spezifischen Liste von vier Fluten zeigt, wie die buddhistische Doktrin im Laufe ihrer Überlieferung systematisiert und strukturiert wurde, um ein präziseres Verständnis der zu überwindenden mentalen Zustände zu ermöglichen.

1.2. Die vier Fluten (Cattāro Oghā): Kāma, Bhava, Diṭṭhi, Avijjā

Die vier Fluten (Cattāro Oghā) sind zentrale Konzepte im frühen Buddhismus, die die Hauptursachen für Leiden und die Bindung an den Kreislauf der Wiedergeburten (Saṁsāra) darstellen. Sie werden oft auch als „vier Fesseln“ oder „vier Gärstoffe“ bezeichnet, was ihre verbindende und verunreinigende Natur hervorhebt. Die vier Fluten sind im Einzelnen:

  • Kāmogha (Flut der Sinnlichkeit/des Sinnverlangens): Dies bezieht sich auf das intensive Verlangen und die Anhaftung an sinnliche Freuden und Objekte. Es umfasst die Gier nach angenehmen Seheindrücken, Klängen, Gerüchen, Geschmäckern und körperlichen Empfindungen. Diese Flut reißt den Menschen mit sich, indem sie ihn ständig nach neuen sinnlichen Erfahrungen suchen lässt, was zu Enttäuschung und weiterem Leiden führt.
  • Bhavogha (Flut des Werdens/der Existenz): Diese Flut beschreibt das Verlangen nach weiterer Existenz, nach einer bestimmten Art von Wiedergeburt oder nach einer ewigen Identität. Es ist der Wunsch, „etwas zu sein“ oder sich mit einer Erfahrung zu vereinen, und kann sich als Anhaftung an das Leben in den Daseinsbereichen oder als Wunsch nach einer dauerhaften Seele manifestieren.
  • Diṭṭhogha (Flut der falschen Ansichten): Dies ist die Anhaftung an irrige Meinungen, Spekulationen und Weltanschauungen, die nicht der Realität entsprechen. Falsche Ansichten können zu Dogmatismus, Konflikten und einem verzerrten Verständnis der Wirklichkeit führen. Beispiele hierfür sind die Annahme einer ewigen Seele (Eternismus) oder die Annahme der vollständigen Auslöschung nach dem Tod (Annihilationismus).
  • Avijjogha (Flut der Unwissenheit): Diese Flut ist die grundlegende Unkenntnis der Vier Edlen Wahrheiten und der wahren Natur der Realität, insbesondere der Eigenschaften von Vergänglichkeit (anicca), Leidhaftigkeit (dukkha) und Nicht-Selbst (anattā). Sie gilt als die Wurzel aller anderen Verunreinigungen, da sie die grundlegende Fehlorientierung des Geistes darstellt, die das Entstehen der anderen Fluten begünstigt.

Die konsistente Auflistung dieser vier Kategorien – Kāma, Bhava, Diṭṭhi, Avijjā – als Oghas, Āsavas und Yogas in verschiedenen Teilen des Pali-Kanons ist ein starkes Zeugnis für die Kohärenz der frühen buddhistischen Lehre. Diese Wiederholung unterstreicht, dass der Buddha und seine frühen Nachfolger diese vier Arten von Verunreinigungen als die fundamentalen Hindernisse für die Befreiung identifizierten, unabhängig von der spezifischen Metapher, die zur Beschreibung verwendet wurde. Die Lehre betont somit die universelle Relevanz dieser mentalen Zustände, die es zu erkennen und zu überwinden gilt, um den Pfad zur Erleuchtung zu beschreiten.

2. Ogha im Palikanon: Lehrreden, die den Begriff beleuchten

Der Pali-Kanon, bestehend aus den Hauptsammlungen Dīgha Nikāya (Lange Lehrreden), Majjhima Nikāya (Mittellange Lehrreden), Saṁyutta Nikāya (Verbundene Lehrreden) und Aṅguttara Nikāya (Numerische Lehrreden), ist die primäre Quelle für das Verständnis der buddhistischen Lehren. Während Ogha selten das alleinige Thema einer langen Lehrrede ist, wird es in wichtigen Suttas als grundlegendes Konzept erwähnt oder impliziert, insbesondere in Aufzählungen der zentralen Lehren oder im Zusammenhang mit der Überwindung von Verunreinigungen.

2.1. Lehrreden aus Dīgha Nikāya (DN) und Majjhima Nikāya (MN)

Der Dīgha Nikāya und der Majjhima Nikāya enthalten eine reiche Vielfalt an Lehren, oft in Form von Dialogen und Erzählungen. Obwohl Ogha nicht immer das zentrale Thema ist, wird seine Bedeutung durch die Erwähnung in umfassenden Lehrzusammenfassungen deutlich.

DN 33: Saṅgītisutta (Die Lehrrede des gemeinsamen Rezitierens)

Dieses Sutta ist eine umfangreiche Zusammenstellung der Lehren des Buddha, die von seinem Schüler Sāriputta numerisch geordnet präsentiert wird. Es dient dazu, die Einheit und Vollständigkeit des Dharma zu betonen und ist ein Beispiel für die Systematisierung der Lehren im Kanon. Im Rahmen der „Vierer-Gruppen“ werden hier explizit die „vier Fluten“ (cattāro oghā) erwähnt, die überwunden werden müssen. Obwohl ihre Bedeutung in diesem Kontext nicht ausführlich erläutert wird, zeigt ihre Aufnahme in diese kanonische Zusammenfassung ihre grundlegende Wichtigkeit für den buddhistischen Pfad zur Befreiung. Die Erwähnung in einer solchen umfassenden Lehrrede unterstreicht, dass die Überwindung der Fluten ein integraler Bestandteil des gesamten Weges ist, der von den Schülern des Buddha gemeinsam rezitiert und verinnerlicht werden sollte.

Quellenangabe: DN 33: Saṅgītisutta (Die Lehrrede des gemeinsamen Rezitierens) auf SuttaCentral

DN 34: Dasuttarasutta (Die Lehrrede der Zehn-Punkte-Aufzählung)

Ähnlich wie DN 33 ist auch das Dasuttarasutta eine weitere umfassende Aufzählung von Lehrpunkten, die in numerischen Gruppen (von eins bis zehn) organisiert sind. Auch hier werden die „vier Fluten“ (cattāro oghā) als zentrale Hindernisse aufgeführt, die es zu überwinden gilt. Die wiederholte Erwähnung der Fluten in solchen systematischen Suttas des Dīgha Nikāya hebt ihre kanonische Bedeutung hervor und verdeutlicht die Notwendigkeit, diese Verunreinigungen zu erkennen und zu überwinden. Die Struktur dieser Suttas, die Lehren numerisch zu ordnen, diente wahrscheinlich der leichteren Memorierung und dem umfassenden Überblick über den Dharma, wobei die Fluten als entscheidende Aspekte der zu überwindenden Leiden immer wieder präsent sind.

Quellenangabe: DN 34: Dasuttarasutta (Die Lehrrede der Zehn-Punkte-Aufzählung) auf SuttaCentral

MN 2: Sabbāsavasutta (Die Lehrrede von allen Gärstoffen/Einflüssen)

Diese Lehrrede ist eine der wichtigsten im Majjhima Nikāya und beschreibt sieben Methoden zur Eliminierung der Āsavas (mentale Gärstoffe oder Einflüsse). Da die vier Oghas explizit mit den vier Āsavas identifiziert werden, ist dieses Sutta von entscheidender Bedeutung für das Verständnis von Ogha. Es bietet praktische Anleitungen, wie die Verunreinigungen, die als „Fluten“ wirken, durch Sehen, Zurückhaltung, Gebrauch, Ertragen, Vermeiden, Entfernen und Entwickeln überwunden werden können. Das Sutta zeigt den direkten Weg zur Befreiung von diesen Bindungen auf und verdeutlicht, dass das Verständnis von Ogha nicht nur eine theoretische Definition ist, sondern untrennbar mit der aktiven Praxis der Befreiung verbunden ist, wie sie in den Kerntexten dargelegt wird. Die Methoden zur Überwindung der Āsavas sind somit direkt auf die Überwindung der Oghas anwendbar.

Quellenangabe: MN 2: Sabbāsavasutta (Die Lehrrede von allen Gärstoffen/Einflüssen) auf SuttaCentral

2.2. Saṁyutta Nikāya (SN): Das Kapitel über die Fluten

Der Saṁyutta Nikāya (Verbundene Lehrreden) ist thematisch organisiert und enthält viele der tiefgründigsten Lehrreden zu Kernkonzepten des Buddhismus. Obwohl es kein eigenes „Ogha Saṁyutta“ gibt, wird der Begriff in mehreren wichtigen Suttas prominent behandelt.

SN 1.1: Oghataraṇasutta (Die Lehrrede vom Überqueren der Flut)

Dies ist eine der bekanntesten und am häufigsten zitierten Lehrreden im gesamten Pali-Kanon. Es handelt sich um einen kurzen, prägnanten Dialog zwischen dem Buddha und einer Gottheit (devatā) über das Überqueren der Flut. Die Gottheit fragt den Buddha, wie er die Flut überquert habe. Der Buddha antwortet: „Indem ich weder innehielt noch mich anstrengte, überquerte ich die Flut.“ Er erklärt weiter: „Als ich innehielt, sank ich; als ich mich anstrengte, wurde ich fortgerissen. So habe ich, weder innehaltend noch mich anstrengend, die Flut überquert“.

Dieses Sutta behandelt Ogha direkt als Metapher für die Hindernisse des Saṁsāra und bietet eine tiefgründige Anweisung zur Befreiung. Die Metapher des „weder Innehaltens noch Anstrengens“ ist eine prägnante Darstellung des Mittleren Pfades im Buddhismus. „Innehalten“ könnte hier das Festhalten an starren Ansichten oder das Verharren in Untätigkeit bedeuten, was zum „Sinken“ in den Verunreinigungen führt. „Anstrengen“ könnte übermäßige, krampfhafte oder falsch gerichtete Bemühungen symbolisieren, die einen „fortreißen“ und vom eigentlichen Ziel ablenken. Die wahre Überwindung der Fluten erfordert eine Balance, einen geschickten Umgang mit den mentalen Strömungen, der weder in Passivität noch in übermäßiger Anstrengung mündet. Dies ist ein Schlüsseltext, um die Essenz der Überwindung der Fluten zu verstehen und die praktische Relevanz des Mittleren Pfades zu erfassen.

Quellenangabe: SN 1.1: Oghataraṇasutta (Die Lehrrede vom Überqueren der Flut) auf SuttaCentral

SN 45.171: Ogha Sutta (Die Lehrrede über die Fluten)

Dieses Sutta ist Teil des Magga Saṁyutta (Kapitel über den Pfad) im Saṁyutta Nikāya, das sich mit dem Edlen Achtfachen Pfad befasst. Hier listet der Buddha explizit die vier Fluten auf: die Flut der Sinnlichkeit (kāmogha), die Flut des Werdens (bhavogha), die Flut der Ansichten (diṭṭhogha) und die Flut der Unwissenheit (avijjogha). Anschließend erklärt er, dass der Edle Achtfache Pfad entwickelt werden muss, um diese vier Fluten direkt zu erkennen, vollständig zu verstehen, gänzlich zu beenden und aufzugeben. Dieses Sutta ist eine direkte und prägnante doktrinäre Erklärung der vier Oghas und ihrer Überwindung durch den zentralen buddhistischen Pfad. Es verbindet das Konzept der Fluten untrennbar mit der praktischen Anwendung des Dharma.

Quellenangabe: SN 45.171: Ogha Sutta (Die Lehrrede über die Fluten) auf SuttaCentral

2.3. Aṅguttara Nikāya (AN): Eine berühmte Lehrrede

Der Aṅguttara Nikāya (Numerische Lehrreden) ist bekannt für seine thematische Gliederung nach numerischen Sets und seine Betonung der praktischen Anwendbarkeit der Lehren im täglichen Leben.

AN 4.10: Yoga Sutta (Die Lehrrede über die Fesseln)

Dieses Sutta ist Teil des „Buches der Vierer“ im Aṅguttara Nikāya. Der Buddha identifiziert hier vier „Fesseln“ (yoga) oder „Joche“, die Wesen an den Saṁsāra binden: das Joch der Sinnlichkeit (kāma-yoga), das Joch des Werdens (bhava-yoga), das Joch der Ansichten (diṭṭhi-yoga) und das Joch der Unwissenheit (avijjā-yoga). Das Sutta erklärt, dass man von diesen Fesseln befreit wird, indem man Ursprung, Vergehen, Reiz, Nachteile und den Ausweg aus ihnen erkennt. Dies ist eine direkte Parallele zu den vier Oghas und Āsavas. Das Yoga Sutta ist von großer Bedeutung, da es die „Fesseln“ (yoga) explizit benennt, die inhaltlich mit den „vier Fluten“ (oghas) und „vier Gärstoffen“ (āsavas) identisch sind. Es bietet eine detaillierte Erklärung dieser zentralen Verunreinigungen und zeigt auf, wie deren tiefes Verständnis zur Befreiung führt.

Quellenangabe: AN 4.10: Yoga Sutta (Die Lehrrede über die Fesseln) auf SuttaCentral

3. Ogha im Kontext: Abgrenzung und Verbindung zu Taṇhā und Āsava

Die Begriffe Ogha, Taṇhā und Āsava beschreiben zwar alle Aspekte der Verunreinigungen, die Wesen an den Saṁsāra binden, doch beleuchten sie unterschiedliche Facetten dieses komplexen Problems. Ihre Beziehungen sind eng, aber ihre metaphorischen Schwerpunkte und Funktionen unterscheiden sich.

3.1. Taṇhā (Gier, Durst): Die treibende Kraft des Leidens

Taṇhā (Sanskrit: tṛṣṇā) ist ein zentraler Begriff im Buddhismus, der wörtlich „Durst“ bedeutet und üblicherweise als „Gier“, „Verlangen“ oder „Begehren“ übersetzt wird. Sie ist die Hauptursache für Dukkha (Leiden) und die Wiedergeburt im Saṁsāra, wie in der Zweiten Edlen Wahrheit dargelegt. Es werden drei Arten von Taṇhā unterschieden:

  • Kāma-taṇhā (Verlangen nach sinnlichen Freuden): Das Begehren nach Sinnesobjekten, die angenehme Gefühle hervorrufen. Dies schließt nicht nur den Wunsch nach materiellen Freuden ein, sondern auch das Verlangen nach Ideen, Ansichten und Überzeugungen (dhamma-taṇhā).
  • Bhava-taṇhā (Verlangen nach Existenz/Werden): Das Begehren, etwas Bestimmtes zu sein, sich mit einer Erfahrung zu vereinen oder der Wunsch nach ewiger Existenz und einer bestimmten Art von Wiedergeburt. Dieses Verlangen ist oft von der falschen Ansicht des Eternismus (ewiges Leben) getrieben.
  • Vibhava-taṇhā (Verlangen nach Nicht-Existenz): Das Begehren, unangenehme Erfahrungen in diesem oder zukünftigen Leben zu vermeiden oder nicht zu existieren. Dies kann bis zu Suizidgedanken reichen und ist oft von der falschen Ansicht des Annihilationismus (Auslöschung nach dem Tod) getrieben.

Taṇhā ist eng mit den drei Geistesgiften (Kilesā) verbunden: Avijjā (Unwissenheit) ist die Wurzel für Taṇhā, Rāga (Anhaftung/Gier) entspricht Kāma-taṇhā und Bhava-taṇhā, und Dosa (Abneigung) entspricht Vibhava-taṇhā. Die Bedeutung von Taṇhā liegt darin, dass sie als die „prinzipielle, allgegenwärtige und greifbarste und unmittelbarste Ursache“ von Dukkha und Saṁsāra gilt. Dies positioniert Taṇhā als die grundlegende psychologische Triebkraft, die die gesamte Dynamik der Verunreinigungen in Gang setzt und aufrechterhält.

3.2. Āsava (Einflüsse, Gärstoffe): Die mentalen Verunreinigungen

Āsava (Sanskrit: Āsrava) ist ein Pali-Begriff, der „Einfluss“, „Gärstoff“, „Kanker“ oder „mentale Verunreinigung“ bedeutet. Es sind tief sitzende mentale Makel, die den Kreislauf von Geburt, Leiden und Tod (Saṁsāra) aufrechterhalten. Die Metapher des „Gärstoffs“ oder „Abflusses“ deutet auf etwas hin, das langsam korrodiert oder aus dem Geist „herausfließt“ und ihn verunreinigt. Dies beschreibt eine schleichende, durchdringende und sich ansammelnde Natur der Verunreinigungen. Es werden drei oder vier Arten von Āsava unterschieden:

  • Kāmāsava (Gärstoff der Sinnlichkeit): Das Verlangen nach sinnlichen Freuden.
  • Bhavāsava (Gärstoff des Werdens/der Existenz): Das Verlangen nach fortgesetzter oder ewiger Existenz.
  • Avijjāsava (Gärstoff der Unwissenheit): Die Unkenntnis der wahren Natur der Realität.
  • Diṭṭhāsava (Gärstoff der falschen Ansichten): Die Anhaftung an irrige Meinungen (wird in einigen Texten als vierte Āsava hinzugefügt).

Die vollständige Zerstörung aller Āsavas ist gleichbedeutend mit dem vollständigen Erwachen, der Arahantschaft. Die Übersetzungen von Āsava als „cankers“, „corruptions“, „fermentations“ oder „effluents“ betonen die insidiöse, schleichende und sich ansammelnde Natur dieser Verunreinigungen. Im Gegensatz zur überwältigenden „Flut“ (Ogha), die von außen zu kommen scheint, legen Āsavas den Fokus auf das, was aus dem Geist herausfließt oder ihn von innen heraus verunreinigt. Dies hebt den inneren, selbstverstärkenden Aspekt der Hindernisse hervor und die Notwendigkeit einer tiefgreifenden inneren Reinigung, um die Verunreinigungen an ihrer Quelle zu beseitigen.

3.3. Gemeinsamkeiten und Unterschiede: Ogha, Taṇhā und Āsava im Zusammenspiel

Alle drei Begriffe – Ogha, Taṇhā und Āsava – beschreiben Aspekte der Verunreinigungen (kilesā), die Wesen an den Saṁsāra binden und die Befreiung verhindern. Sie sind eng miteinander verknüpft und können als komplementäre Perspektiven auf dieselben grundlegenden Hindernisse verstanden werden.

Gemeinsamkeiten:

  • Identische Kernverunreinigungen: Die „vier Oghas“ werden explizit mit den „vier Āsavas“ und den „vier Yogas“ identifiziert. Dies bedeutet, dass sie sich auf dieselben Kernverunreinigungen beziehen: Sinnlichkeit (kāma), Werden (bhava), falsche Ansichten (diṭṭhi) und Unwissenheit (avijjā).
  • Ziel der Überwindung: Die Überwindung aller drei Konzepte führt zum gleichen Ziel: Nibbāna und Arahantschaft, oft durch die Praxis des Edlen Achtfachen Pfades.

Unterschiede (Nuancen in Metapher und Funktion):

  • Ogha (Flut): Betont die überwältigende, hinwegreißende Kraft der Verunreinigungen, die den Praktizierenden in den Saṁsāra zieht. Es ist eine äußere, unkontrollierbare Strömung, die einen mitreißt, wenn man nicht den richtigen Weg findet, sie zu überqueren.
  • Āsava (Einfluss/Gärstoff): Betont die subtile, durchdringende, korrodierende und langanhaltende Natur der Verunreinigungen, die den Geist von innen heraus vergiften oder trüben. Es ist ein inneres Leck oder eine Fermentation, die sich über die Zeit ansammelt und den Geist trübt.
  • Taṇhā (Gier/Durst): Konzentriert sich auf das aktive, unstillbare Verlangen oder den Durst, der die Existenz aufrechterhält und die primäre Ursache des Leidens ist. Es ist der psychologische Antrieb, der zu den Zuständen führt, die als Ogha und Āsava beschrieben werden.

Die Tatsache, dass Ogha, Āsava und Yoga oft dieselben vier Arten von Verunreinigungen bezeichnen, aber unterschiedliche Metaphern verwenden, ist keine Redundanz. Vielmehr bieten diese unterschiedlichen Perspektiven ein mehrdimensionales Verständnis der Natur der Hindernisse. Taṇhā ist die treibende Kraft, die die psychologische Ursache des Leidens darstellt. Āsava beschreibt die Qualität der mentalen Verunreinigungen, die den Geist von innen heraus beeinträchtigen und sich ansammeln. Ogha wiederum beschreibt die Erfahrung, von diesen Verunreinigungen überwältigt und in den Kreislauf der Existenz mitgerissen zu werden. Diese komplementären Beschreibungen ermöglichen es Praktizierenden, die subtilen und offensichtlichen Wege, auf denen Verunreinigungen wirken, besser zu erkennen und gezieltere Gegenmaßnahmen zu entwickeln.

Pali-Begriff Gebräuchliche Deutsche Übersetzung Kernbedeutung/Metapher Arten/Unterteilungen Beziehung zu anderen Begriffen
Ogha Fluten Überwältigende Strömungen, die in Saṁsāra ziehen Vier: Kāmogha (Sinnlichkeit), Bhavogha (Werden), Diṭṭhogha (falsche Ansichten), Avijjogha (Unwissenheit) Identisch mit Āsava und Yoga
Taṇhā Gier, Durst, Verlangen Die treibende Kraft des Leidens, unstillbares Begehren Drei: Kāma-taṇhā (sinnlich), Bhava-taṇhā (Existenz), Vibhava-taṇhā (Nicht-Existenz) Die primäre Ursache für das Entstehen und die Aufrechterhaltung von Ogha und Āsava
Āsava Einflüsse, Gärstoffe, Verunreinigungen Subtile, korrodierende, sich ansammelnde mentale Taints Drei/Vier: Kāmāsava (Sinnlichkeit), Bhavāsava (Werden), Avijjāsava (Unwissenheit), (Diṭṭhāsava – falsche Ansichten) Identisch mit Ogha und Yoga

4. Weitere wichtige Begriffe im Zusammenhang mit Ogha

Das Verständnis von Ogha wird durch die Kenntnis weiterer eng verbundener Pali-Begriffe vertieft, die das Gesamtkonzept der Befreiung vom Leiden im Buddhismus ergänzen.

4.1. Yoga: Die Fesseln der Existenz

Das Pali-Wort yoga leitet sich von der Wurzel „jochen“, „verbinden“ oder „binden“ ab. Im frühen Buddhismus wird yoga oft im negativen Sinne verwendet, um „Fesseln“ oder „Joche“ zu bezeichnen, die Wesen an den Saṁsāra binden. Die vier Yogas sind inhaltlich identisch mit den vier Oghas und Āsavas: kāma-yoga (Sinnlichkeit), bhava-yoga (Werden), diṭṭhi-yoga (falsche Ansichten) und avijjā-yoga (Unwissenheit). Sie beschreiben die Bindungen, die den Geist fesseln und ihn am Kreislauf der Wiedergeburten festhalten.

4.2. Saṁsāra: Der Kreislauf der Wiedergeburten

Saṁsāra ist der ewige, anfangslose Kreislauf von Geburt, Altern, Krankheit, Tod und Wiedergeburt, der durch Dukkha (Leiden) gekennzeichnet ist. Es ist ein zentrales Konzept im Buddhismus, das die gesamte Existenz der Wesen umfasst, solange sie nicht befreit sind. Die Fluten (Ogha), die Gärstoffe (Āsava) und das Verlangen (Taṇhā) sind genau die Kräfte und Verunreinigungen, die diesen Kreislauf antreiben und die Wesen darin gefangen halten. Sie sind die Mechanismen, durch die Saṁsāra aufrechterhalten wird.

4.3. Nibbāna: Das Überqueren der Flut

Nibbāna (Sanskrit: Nirvāṇa) ist das höchste Ziel der buddhistischen Praxis: die vollständige Beendigung von Leiden (Dukkha), Gier (Taṇhā), Hass und Unwissenheit. Es ist der Zustand der Befreiung, des Erlöschens der Leidenschaften und des Endes des Saṁsāra. Die Metapher des „Überquerens der Flut“ (oghatiṇṇo) ist ein direkter bildlicher Ausdruck für das Erreichen von Nibbāna oder der Arahantschaft. Wer die Flut überquert hat, ist ein Arahant – jemand, dem alle mentalen und moralischen Qualifikationen der Befreiung zugeschrieben werden. Die Überwindung der Fluten ist somit der Weg zur ultimativen Freiheit. Als Mittel zum Überqueren der Flut werden verschiedene Aspekte des buddhistischen Pfades genannt: der Edle Achtfache Pfad, Glaube (saddhā), Achtsamkeit (sati) und Weisheit (paññā).

Schlussfolgerung

Der Pali-Begriff Ogha bezeichnet die „Fluten“ der Sinnlichkeit, des Werdens, der falschen Ansichten und der Unwissenheit, die Wesen im Kreislauf des Saṁsāra gefangen halten. Diese Fluten sind eng mit Taṇhā (Gier, Durst) als der primären treibenden Kraft des Leidens und Āsava (Einflüssen, Gärstoffen) als den subtilen mentalen Verunreinigungen verbunden. Obwohl diese Begriffe unterschiedliche metaphorische Schwerpunkte haben – Ogha als überwältigende Strömung, Āsava als schleichende Korrosion und Taṇhā als unstillbares Verlangen – bezeichnen sie im Kern dieselben fundamentalen Hindernisse auf dem Weg zur Befreiung. Lehrreden wie das Oghataraṇasutta (SN 1.1) bieten eine prägnante Metapher für den Mittleren Pfad zur Überwindung dieser Fluten, während das Ogha Sutta (SN 45.171) und das Yoga Sutta (AN 4.10) die vier Fluten explizit benennen und ihre Überwindung durch den Edlen Achtfachen Pfad mit den „Jochen“ (yoga) der Existenz verknüpfen. Das Verständnis dieser Begriffe und ihrer Interaktion ist entscheidend, um den Kreislauf des Saṁsāra zu durchbrechen und das höchste Ziel des Nibbāna zu erreichen.

Anhang: Verzeichnis der zitierten Lehrreden

Sutta-Nummer Pali-Name Gebräuchlicher Deutscher Name Sammlung SuttaCentral Link (Englisch)
SN 1.1 Oghataraṇasutta Die Lehrrede vom Überqueren der Flut Saṁyutta Nikāya https://suttacentral.net/sn1.1/en/sujato
MN 2 Sabbāsavasutta Die Lehrrede von allen Gärstoffen/Einflüssen Majjhima Nikāya https://suttacentral.net/mn2/en/sujato
DN 33 Saṅgītisutta Die Lehrrede des gemeinsamen Rezitierens Dīgha Nikāya https://suttacentral.net/dn33/en/sujato
DN 34 Dasuttarasutta Die Lehrrede der Zehn-Punkte-Aufzählung Dīgha Nikāya https://suttacentral.net/dn34/en/sujato
SN 45.171 Ogha Sutta Die Lehrrede über die Fluten Saṁyutta Nikāya https://suttacentral.net/sn45.171/en/sujato
AN 4.10 Yoga Sutta Die Lehrrede über die Fesseln Aṅguttara Nikāya https://suttacentral.net/an4.10/en/sujato

Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente

  • SuttaCentral: Eine umfassende Ressource für frühe buddhistische Texte mit Übersetzungen und Originaltexten.
  • Access to Insight: Eine große Sammlung von Theravada-buddhistischen Texten und Artikeln.
  • Dhammatalks.org: Bietet eine umfangreiche Bibliothek von Sutta-Übersetzungen und Dhamma-Vorträgen von Thanissaro Bhikkhu.
  • Pāli Dictionary: Ein Online-Wörterbuch für Pali-Begriffe, wie sie im Sutta-Kanon verwendet werden.
  • Wisdom Library: Ein umfassendes Online-Nachschlagewerk für verschiedene Zweige der indischen Weisheitstraditionen, einschließlich des Buddhismus.
  • Wikipedia: Asava: Bietet einen allgemeinen Überblick über das Konzept der Āsavas.
  • buddhist-spirituality.org: Webseite mit Artikeln zu verschiedenen buddhistischen Themen.
  • Pure Dhamma: Webseite mit detaillierten Analysen buddhistischer Konzepte.

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