
Saññā (Wahrnehmung): Ein Schlüsselbegriff im frühen Buddhismus und seine Verankerung in den Lehrreden
Die Rolle der Wahrnehmung auf dem buddhistischen Weg zur Befreiung
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Der Begriff Saññā (Wahrnehmung) im frühen Buddhismus
- Was ist Saññā? Definition und Erklärung
- Saññā im Kontext der Fünf Aggregate (Pañca Khandhā)
- Schlüssel-Lehrreden zu Saññā (DN & MN)
- Weitere wichtige Textstellen (SN & AN)
- Zusammenfassung: Die Bedeutung von Saññā auf dem Weg
- Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente
Einleitung: Der Begriff Saññā (Wahrnehmung) im frühen Buddhismus
Der Pali-Begriff Saññā ist ein zentrales Konzept im Palikanon, der Sammlung der ältesten buddhistischen Schriften. Häufig wird Saññā mit „Wahrnehmung“ oder „Erkennen“ übersetzt, doch diese Übertragungen erfassen nur einen Teil seiner vielschichtigen Bedeutung. Saññā bezeichnet nicht nur den einfachen Akt des Sehens oder Hörens, sondern eine spezifische mentale Funktion des Unterscheidens, Markierens und Konzeptualisierens, die tiefgreifende Auswirkungen auf unser Erleben der Welt hat.
Das Verständnis von Saññā ist entscheidend, um den buddhistischen Weg zur Befreiung vom Leiden (dukkha) nachzuvollziehen. Saññā ist eines der fünf Aggregate (pañca khandhā) – jener grundlegenden Erfahrungsfaktoren, aus denen sich unsere psycho-physische Existenz zusammensetzt und an die wir fälschlicherweise als ein beständiges „Ich“ oder „Selbst“ anhaften (upādāna). Die Art und Weise, wie wir wahrnehmen und erkennen, beeinflusst direkt unsere Gefühle (vedanā), unsere mentalen Reaktionen (saṅkhārā) und letztlich die Entstehung von Begierde (taṇhā) und Leiden.
Dieser Bericht zielt darauf ab, den Begriff Saññā für interessierte Laien – sowohl mit als auch ohne Vorkenntnisse – zugänglich zu machen. Er bietet eine klare Definition und Erklärung, verortet Saññā im Kontext der fünf Aggregate und stellt zentrale Lehrreden (Suttas) aus den Sammlungen Dīgha Nikāya (DN), Majjhima Nikāya (MN), Saṃyutta Nikāya (SN) und Aṅguttara Nikāya (AN) vor, die diesen wichtigen Begriff beleuchten. Alle Quellenangaben beziehen sich auf die Datenbank SuttaCentral.net.
Was ist Saññā? Definition und Erklärung
Im Kern bezeichnet Saññā die mentale Funktion des Erkennens und Unterscheidens spezifischer Merkmale (nimitta) eines Objekts. Die Lehrreden illustrieren dies oft am Beispiel der Farbwahrnehmung: Saññā ist das, was „Blau“, „Gelb“, „Rot“ oder „Weiß“ erkennt. Eine Schlüssel-Lehrrede, das Khajjanīya Sutta (SN 22.79), definiert Saññā explizit durch diese Funktion:
„Und warum, ihr Mönche, nennt man es ‚Wahrnehmung‘ (saññā)? ‚Es nimmt wahr‘ (sañjānāti), ihr Mönche, darum nennt man es ‚Wahrnehmung‘. Und was nimmt es wahr? Es nimmt Blau wahr, es nimmt Gelb wahr, es nimmt Rot wahr, es nimmt Weiß wahr.“
Eine weitere zentrale Funktion von Saññā ist das Markieren und Wiedererkennen. Die Wahrnehmung „markiert“ ein Objekt oder eine Erfahrung, was ein späteres Wiedererkennen ermöglicht – die Erkenntnis „das ist dasselbe“. Kommentare wie das Atthasālinī oder der Visuddhimagga vergleichen dies mit einem Zimmermann, der verschiedene Holzstücke markiert, um sie später identifizieren zu können. Diese Funktion bildet die Grundlage für das, was wir im Alltag als Erinnerung verstehen, auch wenn Saññā im buddhistischen Kontext ein breiteres Feld abdeckt und nicht mit dem westlichen Gedächtniskonzept identisch ist.
Über diese Kernfunktionen hinaus umfasst Saññā weitere Bedeutungsaspekte:
- Kognition/Konzeptualisierung: Saññā ist nicht auf reine Sinneswahrnehmung beschränkt, sondern schließt das Bilden von Konzepten, Ideen, Vorstellungen und mentalen Bildern ein. Es ist die Fähigkeit, Sinneseindrücke zu interpretieren und ihnen Bedeutung zuzuordnen.
- Zeichen/Signal: Das Wort Saññā kann auch äußere Zeichen, Gesten oder Markierungen bezeichnen, die als Kommunikationsmittel oder Orientierungshilfe dienen.
- Verzerrte Wahrnehmung (saññā vipallāsa): Ein wichtiger Aspekt ist, dass Saññā oft keine objektive Abbildung der Realität darstellt. Unsere Wahrnehmungen sind häufig durch vergangene Erfahrungen, Konditionierungen, Wünsche und Abneigungen gefärbt und verzerrt. Eine Wunde kann als „eklig“, ein Geräusch als „bedrohlich“ wahrgenommen werden, basierend auf subjektiven Assoziationen. Diese verzerrte Wahrnehmung ist eine wesentliche Quelle für Missverständnisse und Leiden.
Saññā im Zusammenspiel mit Vedanā und Viññāṇa
Saññā operiert nicht isoliert, sondern steht in engem Zusammenhang mit anderen grundlegenden mentalen Faktoren, insbesondere Gefühl (vedanā) und Bewusstsein (viññāṇa). Saññā und Vedanā entstehen gemeinsam als unmittelbare Reaktion auf Sinneskontakt (phassa). Jeder Wahrnehmung ist eine Gefühlstönung – angenehm, unangenehm oder neutral – zugeordnet. Im Mahāvedalla Sutta (MN 43) wird die untrennbare Verbindung (saṁsaṭṭhā) von Saññā, Vedanā und Viññāṇa betont: „Was man fühlt (vedeti), das nimmt man wahr (sañjānāti); was man wahrnimmt, das erkennt man (vijānāti)“. Diese drei Faktoren sind verwoben und können nicht vollständig voneinander getrennt analysiert werden.
Obwohl eng verbunden, gibt es funktionale Unterschiede. Saññā wird manchmal als grundlegendere, fast kindliche Form des Erkennens (z.B. von Farben) beschrieben, während Viññāṇa eine komplexere Kognition darstellt (z.B. das Erkennen von Geschmacksqualitäten wie süß oder sauer). Saññā erfasst die Merkmale, Viññāṇa ist das grundlegende Gewahrsein des Objekts durch die jeweilige Sinnesfähigkeit.
Die Natur von Saññā ist somit ambivalent. Einerseits ist sie eine neutrale und notwendige kognitive Fähigkeit, die uns Orientierung und Verständnis ermöglicht. Andererseits ist genau dieser Mechanismus des Erkennens, Labelns und Kategorisierens anfällig für Verzerrungen durch Gier, Hass und Verblendung. Eine unachtsame, verzerrte Saññā führt zu falscher Identifikation, Anhaftung an Konzepte und zur leidvollen „begrifflichen Wucherung“ (papañca), bei der der Geist unkontrolliert Assoziationen und Narrative spinnt. Saññā ist also ein Werkzeug, dessen unachtsamer Gebrauch Leiden schafft, das aber durch die Entwicklung von Achtsamkeit (sati) und Weisheit (paññā) transformiert werden kann, etwa durch die Kultivierung heilsamer Wahrnehmungen (kusala saññā) wie der Vergänglichkeit (anicca-saññā). Die buddhistische Praxis zielt daher nicht darauf ab, Saññā zu eliminieren, sondern sie zu verstehen, zu durchschauen und bewusst von leidvollen zu befreienden Wahrnehmungen zu lenken.
Saññā im Kontext der Fünf Aggregate (Pañca Khandhā)
Um die Rolle von Saññā vollständig zu erfassen, ist es unerlässlich, sie im Rahmen der fünf Aggregate (pañca khandhā) zu betrachten. Dieses Konzept ist eine zentrale Analysemethode im Buddhismus, um die psycho-physische Erfahrung des Menschen zu beschreiben. Die Aggregate sind jene fünf Gruppen von Phänomenen, die in ihrem Zusammenspiel das bilden, was wir als „Person“ oder „Individuum“ erleben. Der entscheidende Punkt der Lehre ist, dass diese Aggregate oft fälschlicherweise als ein beständiges, unabhängiges „Ich“ oder „Selbst“ (attā) aufgefasst werden. Tatsächlich sind sie jedoch unbeständige (anicca), leidhafte (dukkha) und selbstlose (anattā) Prozesse. Die Anhaftung (upādāna) an diese Aggregate – die Identifikation mit ihnen als „mein Ich“, „ich bin das“, „das gehört zu mir“ – ist laut der ersten Edlen Wahrheit die Essenz des Leidens (dukkha): „Zusammengefasst sind die fünf Aggregate des Anhaftens Leiden“ (saṃkhittena pañcupādānakkhandhā dukkhā).
Die fünf Aggregate sind:
Pali Term | Deutsch | Kurzbeschreibung |
---|---|---|
Rūpa | Form/Körperlichkeit | Materielle Aspekte, der physische Körper, Sinnesobjekte |
Vedanā | Gefühl | Angenehme, unangenehme oder neutrale Empfindungston, der aus Kontakt entsteht |
Saññā | Wahrnehmung | Erkennen, Unterscheiden, Markieren von Merkmalen, Konzeptualisierung |
Saṅkhārā | Geistesformationen | Willensregungen, Absichten, geistige Prägungen, karmische Tendenzen |
Viññāṇa | Bewusstsein | Das grundlegende Gewahrsein/Erkennen eines Objekts durch die Sinnesorgane |
Saññā ist das dritte dieser fünf Aggregate. Es entsteht in Abhängigkeit von den anderen Aggregaten: Es benötigt ein materielles oder mentales Objekt (Rūpa), den Kontakt (phassa) über die Sinnesorgane und das grundlegende Bewusstsein (Viññāṇa), um überhaupt operieren zu können. Die durch Saññā geformte Wahrnehmung beeinflusst wiederum maßgeblich die nachfolgenden Geistesformationen (Saṅkhārā) – unsere Absichten, Reaktionen und Willensakte. Wenn wir etwas als „angenehm“ wahrnehmen (Saññā), entsteht oft der Wunsch danach (Saṅkhārā). Wenn wir etwas als „bedrohlich“ wahrnehmen, entstehen Furcht und Abwehr (Saṅkhārā).
Die Aggregate sind somit keine statischen Bausteine, sondern ein dynamischer, interdependenter Prozessfluss, der unser gesamtes Erleben konstituiert. Saññā nimmt in diesem Prozess eine entscheidende Scharnierfunktion ein. Sie empfängt die rohen Daten der Sinne (Rūpa, Phassa) und die damit verbundenen Gefühlstönungen (Vedanā). Saññā verarbeitet diese Informationen, indem sie sie erkennt, benennt und interpretiert. Diese Interpretation wird vom Bewusstsein (Viññāṇa) erfasst und bildet die Grundlage für unsere mentalen Reaktionen und willentlichen Handlungen (Saṅkhārā). Saññā fungiert somit als Brücke zwischen dem reinen Empfangen von Sinneseindrücken und der komplexeren kognitiven und volitionalen Verarbeitung, die unser Weltbild und unser Handeln prägt.
Die Qualität unserer Saññā – ob sie klar und achtsam oder verzerrt und unbewusst ist – bestimmt maßgeblich, ob dieser Prozess zu Leiden oder zu Wohlbefinden führt. Die Kultivierung von Achtsamkeit auf Saññā ist daher ein zentraler Ansatzpunkt im buddhistischen Befreiungsweg.
Schlüssel-Lehrreden zu Saññā (DN & MN)
Mehrere Lehrreden im Dīgha Nikāya (DN) und Majjhima Nikāya (MN) behandeln Saññā schwerpunktmäßig und bieten tiefere Einblicke in ihre Natur und Funktion.
Dīgha Nikāya (DN):
DN 9: Poṭṭhapāda Sutta (Über Poṭṭhapāda)
Inhalt: In diesem Dialog diskutiert der Buddha mit dem Wanderer Poṭṭhapāda ausführlich die Natur der Wahrnehmung (saññā). Er erklärt, wie Saññā nicht statisch ist, sondern sich in Abhängigkeit von Ursachen und Bedingungen – insbesondere durch geistiges Training und meditative Vertiefung (samādhi) – verändert und entwickelt. Die Rede beschreibt einen graduellen Prozess, bei dem grobe Sinneswahrnehmungen durch immer feinere meditative Wahrnehmungen ersetzt werden, bis hin zu den subtilen Wahrnehmungen der formlosen Bereiche (arūpa). Der Buddha betont, dass selbst diese höchsten meditativen Wahrnehmungen bedingt und vergänglich sind. Entscheidend ist die Erkenntnis, dass Saññā – da sie entsteht und vergeht – etwas anderes sein muss als ein permanentes, unveränderliches Selbst (attā). Selbst wenn man hypothetisch ein beständiges Selbst annähme, würden Wahrnehmungen dennoch kommen und gehen, was die Unhaltbarkeit einer Identifikation von Selbst und Wahrnehmung zeigt.
Relevanz: Diese Lehrrede ist zentral, um die Veränderlichkeit, Bedingtheit und Entwicklungsfähigkeit von Saññā zu verstehen. Sie dient als starkes Argument gegen die Annahme eines festen Selbst und illustriert die Rolle der Meditation bei der Transformation der Wahrnehmung.
Quellenangabe: DN 9 (Poṭṭhapādasutta / Über Poṭṭhapāda), verfügbar auf SuttaCentral.net.
Majjhima Nikāya (MN):
MN 43: Mahāvedalla Sutta (Große Lehrrede mit Fragen und Antworten)
Inhalt: Der ehrwürdige Sāriputta, einer der Hauptschüler des Buddha, beantwortet Fragen des ehrwürdigen Mahākoṭṭhita zu zentralen Begriffen der Lehre. Auf die Frage nach Saññā gibt Sāriputta eine prägnante funktionale Definition: „‚Es nimmt wahr/erkennt‘ (sañjānāti), Freund, darum wird es ‚Wahrnehmung‘ (saññā) genannt“. Weiterhin erläutert er die bereits erwähnte untrennbare Verknüpfung (saṁsaṭṭhā) von Gefühl (vedanā), Wahrnehmung (saññā) und Bewusstsein (viññāṇa): „Was man fühlt, nimmt man wahr; was man wahrnimmt, erkennt man“.
Relevanz: Bietet eine klare, auf der Funktion basierende Definition von Saññā und verdeutlicht ihr enges, untrennbares Zusammenspiel mit Gefühl und Bewusstsein im unmittelbaren Erlebensprozess.
Quellenangabe: MN 43 (Mahāvedallasutta / Große Lehrrede mit Fragen und Antworten), verfügbar auf SuttaCentral.net.
MN 1: Mūlapariyāya Sutta (Von der Wurzel aller Dinge)
Inhalt: Diese tiefgründige Lehrrede analysiert den gesamten Erkenntnisprozess von der grundlegendsten Wahrnehmung bis hin zur komplexen Konzeptualisierung und Identifikation („Meinen“, maññati). Sie zeigt auf, wie verschiedene Typen von Personen – vom ungeschulten Weltling (puthujjana) bis zum vollständig Erwachten (arahant) – dieselben Objekte unterschiedlich wahrnehmen und darauf reagieren. Für den ungeschulten Geist ist die Wahrnehmung (saññā) oft die Wurzel (mūla) für eine Kaskade von Identifikationen und Anhaftungen, die letztlich zu Leiden führen. Der Erwachte hingegen nimmt wahr, ohne anzuhaften oder sich damit zu identifizieren.
Relevanz: Illustriert eindrücklich, wie Saññā am Anfang des Prozesses steht, der zu Anhaftung und Leiden führt, wenn sie nicht von Achtsamkeit und Weisheit begleitet wird. Sie zeigt die „Wurzel“ des Leidens im Akt der fehlgeleiteten Wahrnehmung und Identifikation.
Quellenangabe: MN 1 (Mūlapariyāyasutta / Von der Wurzel aller Dinge), verfügbar auf SuttaCentral.net.
Ein weiterer wichtiger Text ist das MN 18: Madhupiṇḍika Sutta (Die Lehrrede vom Honigball), das erklärt, wie aus dem Kontakt von Sinnen und Objekten über Gefühl und Wahrnehmung die „begriffliche Wucherung“ (papañca-saññā-saṅkhā) entsteht – ein unkontrolliertes Spinnen von Gedanken, Konzepten und Assoziationen, das zu Begierde, Abneigung, Ansichten und Konflikten führt. Dies unterstreicht, dass Saññā der Ausgangspunkt für komplexe mentale Prozesse ist. Die erste Wahrnehmung (z.B. „eine Person“) wird durch Saññā erkannt. Darauf aufbauend beginnt der Geist, Konzepte und Narrative zu entwickeln („diese Person ist gut/schlecht“, „mag ich/mag ich nicht“). Diese Wucherung, basierend auf der ursprünglichen Wahrnehmung, ist eine direkte Ursache für Leiden. Die buddhistische Praxis zielt darauf ab, diesen Übergang von der reinen Wahrnehmung zur konzeptuellen Wucherung zu erkennen und zu unterbrechen.
Weitere wichtige Textstellen (SN & AN)
Neben DN und MN finden sich auch im Saṃyutta Nikāya (SN) und Aṅguttara Nikāya (AN) bedeutende Lehrreden, die Saññā behandeln.
Saṃyutta Nikāya (SN):
- Das Khandha Saṃyutta (SN 22): Dieses Kapitel ist die Hauptquelle für Lehrreden über die fünf Aggregate und somit auch für Saññā. Es enthält zahlreiche Suttas, die die Natur, das Entstehen, das Vergehen, die Gefahren und den Ausweg in Bezug auf die Aggregate erläutern.
- SN 22.59: Anattalakkhaṇa Sutta (Über das Merkmal des Nicht-Selbst): Eine der grundlegendsten Lehrreden des Buddhismus. Sie legt dar, warum alle fünf Aggregate – und Saññā wird hier explizit genannt – als unbeständig (anicca), leidhaft (dukkha) und nicht-selbst (anattā) zu betrachten sind. Die Einsicht in diese drei Merkmale (tilakkhaṇa) führt zur Ernüchterung (nibbidā), zur Abwendung (virāga) und schließlich zur Befreiung (vimutti).
- SN 22.79: Khajjanīya Sutta (Über das Verzehrtwerden): Bietet prägnante Definitionen für jedes Aggregat. Für Saññā wird die Funktion des Erkennens von Farben als charakteristisch hervorgehoben.
- Hinweis: Kein eigenes Saññā Saṃyutta: Es ist wichtig festzuhalten, dass es im Saṃyutta Nikāya kein separates Kapitel (Saṃyutta) gibt, das ausschließlich dem Thema Saññā gewidmet ist. Diskussionen über Saññā sind in das Khandha Saṃyutta (SN 22) integriert oder finden sich in Kapiteln zu verwandten Themen wie den Sinnesgrundlagen (Saḷāyatana Saṃyutta, SN 35) oder den Befleckungen (Kilesa Saṃyutta, SN 27).
Aṅguttara Nikāya (AN):
Der Aṅguttara Nikāya, die Sammlung der „Angereihten Lehrreden“, enthält ebenfalls wichtige Texte zu Saññā, insbesondere im Kontext der zu kultivierenden Geisteszustände.
- AN 10.60: Girimananda Sutta (An Girimānanda)
Inhalt: Dies ist eine sehr bekannte Lehrrede. Der Buddha weist Ānanda an, dem schwer erkrankten Mönch Girimānanda zehn spezifische Wahrnehmungen (dasa saññā) zu lehren, deren Entwicklung zur Linderung seiner Krankheit und generell zur Befreiung führen kann. Diese zehn heilsamen Wahrnehmungen sind: Anicca-saññā (Unbeständigkeit), Anatta-saññā (Nicht-Selbst), Asubha-saññā (Unschönheit des Körpers), Ādīnava-saññā (Nachteile des Daseins), Pahāna-saññā (Aufgeben), Virāga-saññā (Loslösung), Nirodha-saññā (Aufhören), Sabbaloke anabhirata-saññā (Nicht-Erfreuen an der Welt), Sabbasaṅkhāresu anicchāsaññā (Unerwünschtheit aller Formationen), Ānāpānassati (Achtsamkeit auf den Atem).
Relevanz: Zeigt exemplarisch, dass Saññā aktiv kultiviert werden kann und als Werkzeug zur Heilung und Befreiung dient.
Quellenangabe: AN 10.60 (Girimananda Sutta / An Girimānanda), verfügbar auf SuttaCentral.net. - AN 7.48: Saññā Sutta (Wahrnehmungen (1)): Dieses Sutta listet sieben ähnliche heilsame Wahrnehmungen auf, die, wenn sie entwickelt und gepflegt werden, große Frucht und großen Nutzen bringen und im Todlosen enden: asubha-saññā, maraṇa-saññā (Tod), āhāre paṭikūla-saññā (Widerwärtigkeit der Nahrung), sabbaloke anabhirata-saññā, anicca-saññā, anicce dukkha-saññā (Leiden im Unbeständigen) und dukkhe anatta-saññā (Nicht-Selbst im Leiden).
Diese Lehrreden im Aṅguttara Nikāya verdeutlichen die Trainierbarkeit und transformative Kraft von Saññā. Sie zeigen, dass Wahrnehmung kein rein passiver Prozess ist, sondern aktiv gestaltet und kultiviert werden kann. Der Buddha lehrt die bewusste Entwicklung spezifischer Wahrnehmungen, die den gewohnheitsmäßigen, oft leidvollen und verzerrten Wahrnehmungsmustern (saññā vipallāsa) entgegenwirken. Indem man beispielsweise die Wahrnehmung der Unbeständigkeit (anicca-saññā) oder des Nicht-Selbst (anatta-saññā) kultiviert, kann man den Geist von Anhaftung und Illusion befreien. Saññā wird so selbst zu einem Instrument auf dem Weg zur Befreiung. Dies unterstreicht die praktische Dimension der Lehre: Es geht nicht nur um intellektuelles Verständnis, sondern um die aktive Umformung der eigenen Wahrnehmung durch meditative Praxis.
Zusammenfassung: Die Bedeutung von Saññā auf dem Weg
Saññā, die Wahrnehmung, erweist sich als ein fundamentaler und vielschichtiger Begriff im frühen Buddhismus. Sie ist eine grundlegende mentale Funktion, die das Erkennen, Unterscheiden und Konzeptualisieren ermöglicht und als drittes der fünf Aggregate (pañca khandhā) eine zentrale Rolle in unserem Erlebensprozess spielt.
Die Analyse der Lehrreden zeigt jedoch, dass Saññā eine zweischneidige Klinge ist. Als notwendige Funktion zur Orientierung in der Welt ist sie gleichzeitig anfällig für Verzerrungen durch unsere Begierden, Abneigungen und grundlegenden Missverständnisse über die Natur der Realität. Diese fehlgeleitete Wahrnehmung (saññā vipallāsa) führt zur Identifikation mit den Aggregaten, zur Anhaftung (upādāna) und zur leidvollen begrifflichen Wucherung (papañca), die unser Leiden im Daseinskreislauf (saṃsāra) aufrechterhält.
Der buddhistische Pfad zielt nicht darauf ab, die Wahrnehmung abzuschaffen, sondern sie durch Achtsamkeit (sati) und Weisheit (paññā) zu verstehen und zu transformieren. Es geht darum, die Funktionsweise von Saññā zu durchschauen, ihre Bedingtheit und Unbeständigkeit zu erkennen und die Identifikation mit ihr als festes „Selbst“ aufzugeben. Die Praxis beinhaltet das bewusste Ersetzen fehlgeleiteter Wahrnehmungen durch heilsame, der Realität entsprechende Wahrnehmungen wie die der Unbeständigkeit (anicca-saññā), des Nicht-Selbst (anatta-saññā) oder der Abstoßung (asubha-saññā).
Die Achtsamkeit auf die Wahrnehmungen selbst (saññānupassanā), wie sie im Rahmen der Achtsamkeit auf die Geistobjekte (dhammānupassanā) in den großen Lehrreden zur Achtsamkeit (z.B. MN 10 Satipaṭṭhāna Sutta / Grundlagen der Achtsamkeit oder DN 22 Mahāsatipaṭṭhāna Sutta / Große Lehrrede über die Grundlagen der Achtsamkeit) gelehrt wird, ist eine direkte Methode, die Natur von Saññā zu untersuchen und die Anhaftung daran zu lösen.
Die in diesem Bericht vorgestellten Lehrreden bieten wertvolle Ankerpunkte für alle, die ihr Verständnis von Saññā vertiefen möchten. Sie laden dazu ein, die eigene Wahrnehmung genauer zu untersuchen und die transformative Kraft der buddhistischen Lehre und Praxis selbst zu erfahren.
Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente
- Wikipedia (en.wikipedia.org)
- SuttaCentral (suttacentral.net)
- Wisdom Library (www.wisdomlib.org)
- Encyclopedia of Buddhism (encyclopediaofbuddhism.org)
- Buddhistdoor (www2.buddhistdoor.net)
- Britannica (www.britannica.com)
- Pure Dhamma (puredhamma.net)
- New World Encyclopedia (www.newworldencyclopedia.org)
Weiter in diesem Bereich mit …
Saṅkhāra (Geistformationen)
Saṅkhārā, das vierte Aggregat, umfasst die Geistesformationen. Dies ist ein komplexer Begriff für alle willentlichen, aktiven mentalen Faktoren und Impulse – Absichten (cetanā), Neigungen, Gewohnheiten, Emotionen –, die deine Handlungen prägen und karmische Wirkungen (kamma) erzeugen. Erforsche hier, wie diese „Gestalter“ dein Erleben formen und der „Motor“ im Kreislauf des Werdens sind.