
Einleitung: Die Entwicklung der Theravada-Literatur jenseits des Pali-Kanons
Die entscheidende Rolle von Kommentaren und post-kanonischer Literatur
Inhaltsverzeichnis
Der Theravada-Buddhismus, oft als die „Schule der Ältesten“ bezeichnet, stützt sich auf den Pali-Kanon, auch bekannt als Tipitaka („Drei Körbe“), als seine grundlegende und autoritative Schriftensammlung. Dieser Kanon umfasst das Vinaya Pitaka (Disziplin), das Sutta Pitaka (Lehrreden) und das Abhidhamma Pitaka (Philosophie und Psychologie). Die Texte wurden ursprünglich mündlich überliefert und im 1. Jahrhundert v. Chr. in Sri Lanka schriftlich festgehalten, was sie zur ältesten vollständigen buddhistischen Kanonsammlung macht. Jenseits dieses kanonischen Korpus entwickelte sich eine umfangreiche post-kanonische Literatur, die für das Verständnis und die Praxis des Theravada von entscheidender Bedeutung ist. Diese Schriften, die nach der Kodifizierung des Pali-Kanons entstanden, umfassen Kommentare (Atthakatha), Sub-Kommentare (Tika), Chroniken und weitere Abhandlungen, die zusammen den vollständigen Korpus der klassischen Theravada-Literatur bilden.
Die Rolle der Kommentare (Atthakatha) und Sub-Kommentare (Tika) in der Theravada-Tradition
Die Atthakathas sind Pali-sprachige Kommentare zum kanonischen Tipitaka, die die traditionellen Interpretationen der Schriften liefern. Ihre Hauptfunktion bestand darin, die oft komplexen und tiefgründigen Lehren des Buddha zu erläutern und zu interpretieren, wodurch sie nicht nur für Gelehrte, sondern auch für eine breitere Anhängerschaft zugänglicher wurden. Diese Kommentare bieten zudem wertvolle Details zu zeitgenössischen Königen, Schülern, Lehrern und Orten sowie Einblicke in soziale, wirtschaftliche und kulturelle Aspekte Indiens und Sri Lankas. Die Entstehung und Entwicklung der post-kanonischen Literatur, insbesondere der Kommentare und Sub-Kommentare, lässt sich als eine direkte und notwendige Antwort auf die inhärente Komplexität und den schieren Umfang des Pali-Kanons verstehen. Ursprünglich, obwohl der Pali-Kanon die grundlegende Quelle darstellt, waren viele seiner Lehren nicht immer explizit oder systematisch in ihrer Darstellung. Die Kommentare, die als Atthakathas bekannt sind, spielten eine entscheidende Rolle, indem sie die „vielen schwierigen Interpretationen“ im Kanon „viel einfacher“ machten, sodass auch „gewöhnliche Menschen die Lehre des Buddha verstehen“ konnten. Diese didaktische Aufbereitung war unerlässlich, um eine tiefere Durchdringung und praktische Anwendung des Dhamma zu ermöglichen.
Die Tikas (Sub-Kommentare) sind Erläuterungen zu den Kommentaren selbst und setzen die Entwicklung der traditionellen Schriftauslegung fort. Sie wurden in Sri Lanka ab dem 12. Jahrhundert n. Chr. von prominenten Gelehrten wie Sāriputta Thera, Mahākassapa Thera und Moggallāna Thera initiiert. Diese fortlaufende textuelle Entwicklung verdeutlicht die Notwendigkeit, die buddhistischen Lehren über Generationen hinweg lebendig und zugänglich zu halten, anstatt sie lediglich als statische historische Dokumente zu bewahren. Diese dynamische Anpassung und Erklärung des Kanons war somit ein fundamentaler Schritt zur Sicherstellung der Relevanz und Verständlichkeit der Theravada-Tradition.
Historischer Überblick über die Entstehung dieser Schriften
Die Überlieferung besagt, dass Kommentare bereits von Mahinda Thera, dem Sohn König Ashokas, im 3. Jahrhundert v. Chr. zusammen mit dem Tipitaka nach Sri Lanka gebracht wurden. Dort wurden sie ins Singhalesische übersetzt und waren lange Zeit populär, während die Pali-Versionen verschwanden. Im 5. Jahrhundert n. Chr. kam Buddhaghosa, der als der bedeutendste Kommentator der Theravada-Tradition gilt, nach Sri Lanka. Sein Ziel war es, diese singhalesischen Kommentare wieder ins Pali zu übersetzen und zu systematisieren, da die ursprünglichen Pali-Kommentare verloren gegangen waren. Seine Arbeit war entscheidend für die Vereinheitlichung und Verbreitung der Theravada-Lehre und prägte das klassische Theravada-Verständnis maßgeblich.
Die Entwicklung der Tikas erfolgte wesentlich später, ab dem 12. Jahrhundert, was eine kontinuierliche und sich vertiefende exegetische Tradition innerhalb des Theravada belegt. Die Tatsache, dass orthodoxe Theravadins Kommentare „nahezu gleichwertig“ mit den Suttas betrachten, offenbart, dass der „post-kanonische“ Status dieser Texte ihre Autorität oder Relevanz innerhalb der Tradition keineswegs mindert. Vielmehr sind sie integraler Bestandteil des Theravada-Verständnisses und der Praxis, was die dynamische Natur der Tradition und ihre Fähigkeit zur fortlaufenden Interpretation und Anpassung unterstreicht. Dies bedeutet, dass die Tradition nicht nur die ursprünglichen Worte des Buddha verehrt, sondern auch die jahrhundertelange Arbeit der Gelehrten, die diese Worte interpretiert und für die Praxis aufbereitet haben, als wesentlich ansieht. Dies zeigt, dass Theravada kein statisches System ist, sondern eine lebendige Tradition, in der das Verständnis des Dhamma durch kontinuierliche exegetische Arbeit vertieft wird.
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