
Ein Leitfaden zu Saṅkhāra (Gestaltungen) im Palikanon
Die vielschichtigen Bedeutungen von Saṅkhāra als bedingte Phänomene und karmische Formationen
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Saṅkhāra – Ein vielschichtiger Schlüsselbegriff
Der Pali-Begriff Saṅkhāra (Sanskrit: saṃskāra) stellt ein fundamentales Konzept im frühen Buddhismus dar. Sein Verständnis ist unerlässlich, um zentrale Lehren wie die Natur des Leidens (dukkha), die Vergänglichkeit (anicca), das Nicht-Selbst (anattā), das Bedingte Entstehen (Paṭiccasamuppāda) und die Fünf Aggregate (Pañca Khandha), aus denen sich die erfahrbare Welt zusammensetzt, tiefgreifend zu erfassen.
Die Vielschichtigkeit von Saṅkhāra macht eine einfache Übersetzung ins Deutsche oder Englische schwierig, wenn nicht unmöglich. Je nach Kontext kann der Begriff unterschiedliche Bedeutungsnuancen annehmen. Gängige Übersetzungen wie „Formationen“, „Gestaltungen“, „Willensformationen“, „Konstruktionen“, „Bedingtes“, „Koeffizienten“ oder „Dispositionen“ fangen jeweils nur Teilaspekte ein. Diese sprachliche Herausforderung spiegelt jedoch auch eine zentrale buddhistische Einsicht wider: die tiefgreifende Verbundenheit aller Phänomene.
Die Unterscheidung zwischen dem „Erschaffenden“ (der aktive Aspekt von Saṅkhāra) und dem „Erschaffenen“ (der passive Aspekt) ist keine absolute Trennung, sondern beschreibt zwei Seiten desselben bedingten Prozesses. Der Begriff selbst verkörpert somit sowohl den Vorgang des Gestaltens als auch das gestaltete Ergebnis.
Dieser Bericht zielt darauf ab, die verschiedenen Bedeutungen von Saṅkhāra zu beleuchten, ihre Funktion innerhalb wichtiger Lehrgebäude des Palikanons zu erläutern und konkrete Textstellen aus den Sammlungen Dīgha Nikāya (DN), Majjhima Nikāya (MN), Samyutta Nikāya (SN) und Aṅguttara Nikāya (AN) zu benennen. Diese Verweise sollen interessierten Lesern ermöglichen, die Bedeutung des Begriffs durch das Studium der Originalquellen, vorzugsweise über die Online-Ressource suttacentral.net, weiter zu vertiefen.
2. Was bedeutet Saṅkhāra ? Definitionen und Kontexte
Etymologie und Kernbedeutung
Das Wort Saṅkhāra leitet sich etymologisch von der Vorsilbe saṃ („zusammen“, „mit“) und dem Verb karoti („machen“, „tun“) ab. Die wörtliche Bedeutung ist somit „Zusammen-Machen“, „Formen“, „Gestalten“ oder „Zubereiten“. Diese Grundbedeutung findet sich auch in praktischen Kontexten, etwa wenn im Vinaya (Ordensregeln) das „Zusammen-Machen“ (abhisaṅkharitum) einer Salbe erlaubt wird, im Sinne von „zubereiten“. Die Kernbedeutung umfasst sowohl den aktiven Prozess des Formens und Konstruierens als auch den passiven Zustand des Geformt- und Konstruiert-Seins.
Passive Bedeutung: Saṅkhāra als bedingte Phänomene ( Saṅkhata )
In seiner weitesten Bedeutung bezieht sich Saṅkhāra auf alles, was durch Ursachen und Bedingungen entstanden ist – auf alle bedingten (saṅkhata) Phänomene. Dies schließt sämtliche physischen und psychischen Erscheinungen des Universums ein, mit der einzigen Ausnahme des Unbedingten (asaṅkhata), nämlich Nibbāna (Nirwana). In diesem Sinne sind nicht nur mentale Zustände, sondern auch der eigene Körper, andere Lebewesen und sogar unbelebte Objekte wie Bäume oder Wolken Saṅkhāras – Gestaltungen, die aus dem Zusammenspiel von Bedingungen hervorgegangen sind.
Diese allumfassende Bedeutung ist zentral für das Verständnis der Drei Daseinsmerkmale (tilakkhaṇa):
- Sabbe saṅkhārā aniccā: „Alle Gestaltungen sind vergänglich.“ Da sie bedingt entstanden sind, unterliegen sie unweigerlich dem Wandel, dem Entstehen und Vergehen.
- Sabbe saṅkhārā dukkhā: „Alle Gestaltungen sind leidhaft.“ Gerade weil sie vergänglich und unbeständig sind, führen Anhaftung an sie oder Identifikation mit ihnen zwangsläufig zu Leid oder Unzufriedenheit (dukkha).
- Sabbe dhammā anattā: „Alle Phänomene (Dinge) sind Nicht-Selbst.“ Hier ist der Begriff dhammā umfassender als saṅkhārā, da er auch das Unbedingte (Nibbāna) einschließt. Die Aussage betont, dass nichts – weder Bedingtes noch Unbedingtes – einen inhärenten, unabhängigen, dauerhaften Kern oder „Selbst“ besitzt.
In diesem weiten Sinn werden auch die Fünf Aggregate (Pañca Khandha), die die Gesamtheit der psycho-physischen Erfahrung ausmachen, als Saṅkhāras bezeichnet. Die Erkenntnis, dass alles Erfahrene (außer Nibbāna) der Natur von Saṅkhāra unterliegt – bedingt, vergänglich und letztlich unbefriedigend –, ist fundamental. Sie dient dazu, die Tendenz zur Verdinglichung von Phänomenen und zur Identifikation mit einem vermeintlich festen „Ich“ zu durchbrechen. Indem die Lehre die konstruierte und unzuverlässige Natur aller Dinge aufzeigt, an die wir uns klammern könnten, untergräbt sie die Grundlage für Anhaftung und fördert das Entstehen von Ernüchterung (nibbidā).
Aktive Bedeutung: Saṅkhāra als (Willens-)Formationen ( Kamma )
Neben der passiven Bedeutung des „Geformt-Seins“ hat Saṅkhāra auch eine aktive Bedeutung: die Kräfte, die formen, gestalten oder konstruieren. In diesem Kontext bezieht sich Saṅkhāra insbesondere auf willentliche, absichtsvolle Handlungen (cetanā), die von geistigen Zuständen angetrieben werden.
Diese aktive Bedeutung ist untrennbar mit dem Konzept von Kamma (Karma, Handlung und deren Folgen) verbunden. Saṅkhāra ist hier praktisch synonym mit kamma. Es sind diese willentlichen Gestaltungen, die karmische Wirkungen erzeugen und den Kreislauf der Wiedergeburten (saṃsāra) antreiben.
Die Lehrreden unterscheiden diese karmisch wirksamen Saṅkhāras oft nach drei Aspekten:
- Nach dem Ausdruckskanal:
- Kāya-saṅkhāra: Körperliche (Willens-)Formationen, d.h. willentliche körperliche Handlungen.
- Vacī-saṅkhāra: Sprachliche (Willens-)Formationen, d.h. willentliche Rede.
- Citta-saṅkhāra oder Mano-saṅkhāra: Geistige (Willens-)Formationen, d.h. willentliche Gedanken, Absichten, Begierden etc.
- Nach der ethischen Qualität (als Abhisaṅkhāra): Diese besonders starken, wiedergeburtsrelevanten Formationen werden unterteilt in:
- Puññābhisaṅkhāra: Verdienstvolle Formationen (ethisch heilsame Handlungen, die zu günstigen Wiedergeburten im Daseinsbereich der Sinnenwelt oder der feinkörperlichen Welt führen).
- Apuññābhisaṅkhāra: Nicht-verdienstvolle (nachteilige) Formationen (ethisch unheilsame Handlungen, die zu ungünstigen Wiedergeburten, z.B. in den Leidensbereichen, führen).
- Āneñjābhisaṅkhāra: Unerschütterliche Formationen (spezielle meditative Errungenschaften, die zur Wiedergeburt in den formlosen Bereichen führen).
Es zeigt sich ein Spektrum der Willensaktivität: von der grundlegenden Absicht (cetanā), die vielen mentalen Faktoren innewohnt, über die karmisch relevanten Saṅkhāras (körperlich, sprachlich, geistig), bis hin zu den besonders potenten Abhisaṅkhāras, die maßgeblich die zukünftige Existenz prägen. Nicht jede „Gestaltung“ hat also die gleiche karmische Tragweite.
Spezifische kontextuelle Bedeutungen
Darüber hinaus kann Saṅkhāra in spezifischen Kontexten noch weitere Bedeutungen annehmen:
- Āyusaṅkhāra: Die Lebenskraft oder das Lebensprinzip, das die physische Existenz aufrechterhält.
- Funktionale Definitionen in MN 44: Wie in Abschnitt 4.2 erläutert, werden kāya-, vacī- und citta-saṅkhāra im Cūḷavedalla Sutta (MN 44) anders definiert (Atem, Denken/Überlegen, Gefühl/Wahrnehmung) als im Kontext von Kamma und Paṭiccasamuppāda.
- Willensanstrengung (padhāna): Manchmal bezeichnet Saṅkhāra auch bewusste Anstrengung oder Bemühung, etwa im Kontext der „Wege zur Macht“ (iddhipāda) oder bestimmter Bewusstseinszustände im Abhidhamma (sasankhārika-citta: mit Anstrengung/Veranlassung entstehendes Bewusstsein).
Überblick über die Hauptbedeutungen
Die folgende Tabelle fasst die wichtigsten Bedeutungsfelder von Saṅkhāra zusammen:
Kontext | Bedeutung von Saṅkhāra | Typische Übersetzung(en) | Schlüsselkonzept(e) |
---|---|---|---|
Allgemein / Passiv | Alle bedingten, zusammengesetzten, entstandenen Phänomene (physisch und mental), alles außer Nibbāna. | Gestaltungen, Formationen, Bedingtes, Konstruktionen, Phänomene | Anicca (Vergänglichkeit), Dukkha (Leidhaftigkeit), Anattā (Nicht-Selbst), Saṅkhata (Bedingtes), Asaṅkhata (Unbedingtes = Nibbāna) |
Aktiv / Paṭiccasamuppāda (2. Glied) | Karmisch wirksame Willenshandlungen (cetanā) von Körper, Rede und Geist; getrieben von Unwissenheit (avijjā). Kann heilsam, unheilsam oder unerschütterlich sein (abhisaṅkhāra). | Willensformationen, karmische Formationen, Gestaltungen, Triebe | Kamma (Karma), Cetanā (Absicht), Avijjā (Unwissenheit), Paṭiccasamuppāda (Bedingtes Entstehen), Saṃsāra (Kreislauf der Wiedergeburten) |
Aktiv / Pañca Khandha (4. Aggregat) | Gruppe von Geistesfaktoren (cetasika), die Willensaspekte beinhalten; zentral ist cetanā (Absicht/Volition) bezüglich der 6 Sinnesobjekte. Umfasst auch Dispositionen, Gewohnheiten etc. | Geistesformationen, Willensformationen, Mentale Formationen | Pañca Khandha (Fünf Aggregate), Cetanā (Absicht), Kamma, Cetasika (Geistesfaktoren), Upādānakkhandha (Aggregate des Anhaftens) |
Spezifisch (z.B. MN 44) | Funktionale Aspekte, die in Meditation relevant sind: kāya-s. (Atem), vacī-s. (Denken/Prüfen), citta-s. (Gefühl/Wahrnehmung). | Körperfunktion/-formation, Sprachfunktion/-formation, Geistesfunktion/-formation | Meditation (Jhāna, Nirodhasamāpatti), Ānāpānasati (Achtsamkeit auf den Atem), Vitakka/Vicāra (Gedankenfassen/Prüfen), Vedanā/Saññā (Gefühl/Wahrnehmung) |
Spezifisch (z.B. DN 16) | Lebenskraft, Vitalprinzip. | Lebensformation, Lebenskraft | Leben, Tod, Vergänglichkeit |
Spezifisch (z.B. Iddhipāda, Abhidhamma) | Willensanstrengung, Bemühung, Veranlassung. | Willensanstrengung, Bemühung | Iddhipāda (Wege zur Macht), Samādhi (Konzentration), Bewusstseinsanalyse (Abhidhamma) |
3. Saṅkhāra in zentralen Lehrkonzepten
Saṅkhāra spielt eine Schlüsselrolle in zwei fundamentalen Lehrgebäuden des Buddhismus: den Fünf Aggregaten (Pañca Khandha) und dem Bedingten Entstehen (Paṭiccasamuppāda).
3.1 Saṅkhāra als Teil der Fünf Aggregate ( Pañca Khandha )
Die Lehre von den Fünf Aggregaten analysiert die gesamte psycho-physische Erfahrung eines Lebewesens in fünf Gruppen oder „Haufen“ (khandha). Diese sind:
- Körperlichkeit (rūpa-kkhandha): Materie, der physische Körper und die Sinnesorgane.
- Gefühl (vedanā-kkhandha): Angenehme, unangenehme und neutrale Empfindungen, die aus Sinneskontakt entstehen.
- Wahrnehmung (saññā-kkhandha): Das Erkennen, Identifizieren und Benennen von Objekten.
- Geistesformationen (saṅkhāra-kkhandha): Die Gruppe, die Saṅkhāra im spezifischen Sinn umfasst.
- Bewusstsein (viññāṇa-kkhandha): Das grundlegende Gewahrsein oder Erkennen durch die sechs Sinne (fünf äußere Sinne plus Geist).
Diese Aggregate sind die Bausteine unserer Erfahrungswelt. Im Zustand der Unwissenheit (avijjā) neigen wir dazu, uns mit ihnen zu identifizieren und sie als ein beständiges „Ich“ oder „Selbst“ anzusehen. Daher werden sie auch als „Aggregate des Anhaftens“ (upādānakkhandha) bezeichnet, da sie die Objekte unseres Klammerns sind.
Das vierte Aggregat, saṅkhārakkhandha, ist eine komplexe Gruppe, die eine Vielzahl von Geistesfaktoren (cetasika) umfasst. In den Suttas wird es oft durch seinen Kernaspekt definiert: die sechs Klassen von Willensregungen (cha cetanākāyā) in Bezug auf die sechs Arten von Sinnesobjekten (Formen, Töne, Gerüche, Geschmäcke, Berührungen, Geistobjekte). Saṅkhārakkhandha beinhaltet somit unsere Absichten, Neigungen, mentalen Gewohnheiten, Vorurteile, Reaktionsmuster und willentlichen Impulse, die unser Denken, Sprechen und Handeln prägen. Es ist dieser willentliche Aspekt (cetanā) innerhalb des saṅkhārakkhandha, der als Motor für Kamma fungiert. Unsere bewusst oder unbewusst geformten Reaktionen und Absichten, die unter dieses Aggregat fallen, erzeugen karmische Spuren und zukünftige Resultate.
Der spätere Abhidhamma erweitert die Liste der Faktoren im saṅkhārakkhandha auf etwa 50, schließt aber Gefühl (vedanā) und Wahrnehmung (saññā) explizit aus, da diese eigene Aggregate bilden.
3.2 Saṅkhāra im Bedingten Entstehen ( Paṭiccasamuppāda )
Das Bedingte Entstehen (Paṭiccasamuppāda) beschreibt den dynamischen Prozess, durch den Leiden (dukkha) in Abhängigkeit von bestimmten Bedingungen entsteht und wie es durch das Aufheben dieser Bedingungen beendet werden kann. Die Standardformel umfasst zwölf Glieder:
- Unwissenheit (avijjā) bedingt
- Formationen/Gestaltungen (saṅkhārā) bedingen
- Bewusstsein (viññāṇa) bedingt
- Geist-und-Körper (nāma-rūpa) bedingt
- Sechs Sinnesgrundlagen (saḷāyatana) bedingen
- Kontakt (phassa) bedingt
- Gefühl (vedanā) bedingt
- Begehren/Durst (taṇhā) bedingt
- Anhaften/Ergreifen (upādāna) bedingt
- Werden (bhava) bedingt
- Geburt (jāti) bedingt
- Altern und Tod (jarā-maraṇa), Kummer, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung.
In dieser Kette bezieht sich Saṅkhāra als zweites Glied spezifisch auf die karmisch aktiven Willensformationen (körperlich, sprachlich, geistig), die durch Unwissenheit (avijjā) angetrieben werden. Der entscheidende Zusammenhang lautet: Avijjā-paccayā saṅkhārā – „Bedingt durch Unwissenheit entstehen Formationen“. Die Unkenntnis über die wahre Natur der Wirklichkeit (Vergänglichkeit, Leidhaftigkeit, Nicht-Selbst) und die Vier Edlen Wahrheiten ist der Nährboden für diese willentlichen Handlungen, die uns im Kreislauf der Wiedergeburten gefangen halten.
Diese Formationen wiederum bedingen das nächste Glied: Saṅkhāra-paccayā viññāṇaṃ – „Bedingt durch Formationen entsteht Bewusstsein“. Die karmische Prägung durch vergangene Willenshandlungen (Saṅkhāras) beeinflusst die Art und Weise, wie das Bewusstsein im nächsten Moment oder bei einer Wiedergeburt entsteht und welche Erfahrungen es macht.
Die Analyse der Aggregate (Khandhas) und des Bedingten Entstehens (Paṭiccasamuppāda) sind nicht voneinander getrennt. Saṅkhāra bildet eine entscheidende Brücke zwischen der Beschreibung dessen, was wir (fälschlicherweise) als „Selbst“ wahrnehmen (die Aggregate), und dem Prozess, wie dieses „Selbst“ und sein Leiden immer wieder neu entstehen (Paṭiccasamuppāda). Die willentlichen Impulse (cetanā), die als Kern des saṅkhārakkhandha (4. Aggregat) identifiziert werden, sind genau jene Saṅkhāras, die als 2. Glied im Bedingten Entstehen fungieren, angetrieben durch Unwissenheit (avijjā). Das vierte Aggregat ist also keine statische Komponente der Persönlichkeit, sondern der dynamische Motor innerhalb der Aggregate, der den gesamten leidvollen Kreislauf in Gang hält.
Damit trägt Saṅkhāra auf zweifache Weise zum Leiden bei:
- Aktiv: Als willentliche Formationen (kamma), die durch ihre karmischen Folgen den Kreislauf von Wiedergeburt und leidvollen Erfahrungen fortsetzen.
- Passiv: Als die bedingte, konstruierte Natur aller Phänomene (einschließlich der Aggregate selbst), die inhärent vergänglich und daher unbefriedigend sind, wenn man an ihnen festhält.
Das Erkennen beider Aspekte ist für die Befreiung wesentlich.
4. Ausgewählte Lehrreden (Suttas) zu Saṅkhāra
Obwohl der Begriff Saṅkhāra in unzähligen Lehrreden des Palikanons vorkommt, gibt es einige Suttas, die ihn besonders klar definieren oder spezifische Aspekte seiner Bedeutung beleuchten. Die folgenden Beispiele beziehen sich auf die Sammlungen Dīgha Nikāya (DN), Majjhima Nikāya (MN), Samyutta Nikāya (SN) und Aṅguttara Nikāya (AN). Die angegebenen Referenzen folgen der Nummerierung und den Titeln auf suttacentral.net.
4.1 Aus der Längeren Sammlung (Dīgha Nikāya – DN)
- DN 33, Saṅgīti Sutta (Das Rezitieren): Dieses Sutta, das Lehraussagen systematisch nach Zahlen gruppiert, definiert im Abschnitt der Dreiergruppen die drei Arten von Abhisaṅkhāra (verdienstvolle, nicht-verdienstvolle, unerschütterliche Formationen). Diese werden als karmische Gestaltungen erklärt, die für die Wiedergeburt in den entsprechenden Daseinsbereichen (Sinneswelt, feinkörperliche Welt, formlose Welt) relevant sind.
Referenz: DN 33, Saṅgīti Sutta, Das Rezitieren (z.B. Abschnitt 3.1.10). Verfügbar auf: https://suttacentral.net/dn33 - DN 16, Mahāparinibbāna Sutta (Die Große Lehrrede vom Erlöschen): In dieser berühmten Lehrrede über die letzten Monate und das Verlöschen des Buddha wird der Begriff āyusaṅkhāra verwendet. Der Buddha gibt hier willentlich die „Lebensgestaltung“ oder „Lebenskraft“ auf, die seinen physischen Körper erhält. Diese spezifische Verwendung unterscheidet sich von den mentalen oder karmischen Formationen und bezieht sich auf die vitalen Kräfte.
Referenz: DN 16, Mahāparinibbāna Sutta, Die Große Lehrrede vom Erlöschen (z.B. Kapitel 3). Verfügbar auf: https://suttacentral.net/dn16
4.2 Aus der Mittleren Sammlung (Majjhima Nikāya – MN)
- MN 44, Cūḷavedalla Sutta (Kleine Vedalla-Lehrrede): Dieses Sutta ist von zentraler Bedeutung, da es spezifische, funktionale Definitionen der drei Saṅkhāras liefert, die sich deutlich von der Verwendung im Kontext von Kamma und Paṭiccasamuppāda unterscheiden. Die Nonne Dhammadinnā erklärt dem Laien Visākha:
- Kāya-saṅkhāra (Körperformation/-funktion) ist das Ein- und Ausatmen (assāsa-passāsā).
- Vacī-saṅkhāra (Sprachformation/-funktion) ist das Gedankenfassen (vitakka) und Prüfen/Überlegen (vicāra).
- Citta-saṅkhāra (Geistesformation/-funktion) sind Gefühl (vedanā) und Wahrnehmung (saññā).
Der Kontext dieser Definitionen ist die meditative Praxis: Diese Formationen sind Faktoren, die in bestimmten meditativen Zuständen zur Ruhe kommen oder aufhören. Vacī-saṅkhāra (Denken und Prüfen) hört im zweiten Jhāna (Vertiefung) auf, kāya-saṅkhāra (der Atem) hört im vierten Jhāna auf, und citta-saṅkhāra (Gefühl und Wahrnehmung) hören in der „Erlöschung von Wahrnehmung und Gefühl“ (nirodhasamāpatti) auf.
Referenz: MN 44, Cūḷavedalla Sutta, Kleine Vedalla-Lehrrede. Verfügbar auf: https://suttacentral.net/mn44 - MN 120, Saṅkhārupapatti Sutta (Lehrrede über die Wiedergeburt durch Gestaltungen): Dieses Sutta illustriert die aktive, welterschaffende Kraft von Saṅkhāra im Sinne bewusster Absicht oder Aspiration. Es beschreibt, wie ein Praktizierender, der bestimmte Tugenden (Glaube, Ethik, Gelehrsamkeit, Großzügigkeit, Weisheit) besitzt, durch gezielte Ausrichtung des Geistes (saṅkhāra) seine Wiedergeburt in einem gewünschten Bereich (z.B. unter wohlhabenden Brahmanen oder Göttern) lenken kann.
Referenz: MN 120, Saṅkhārupapatti Sutta, Lehrrede über die Wiedergeburt durch Gestaltungen. Verfügbar auf: https://suttacentral.net/mn120 - (Optional: MN 10, Satipaṭṭhāna Sutta, erwähnt ebenfalls den Atem als kāya-saṅkhāra im Rahmen der Achtsamkeitsmeditation, was die Definition in MN 44 stützt).
4.3 Aus der Gruppierten Sammlung (Samyutta Nikāya – SN)
Obwohl es im Samyutta Nikāya kein eigenes Kapitel (Saṃyutta) gibt, das ausschließlich Saṅkhāra gewidmet ist, wird der Begriff in mehreren wichtigen Kapiteln ausführlich behandelt.
- SN 12, Nidāna Saṃyutta (Kapitel über Bedingtheit): Dies ist die primäre Quelle für das Verständnis von Saṅkhāra als zweitem Glied des Bedingten Entstehens (Paṭiccasamuppāda).
- SN 12.2, Vibhaṅga Sutta (Analyse): Bietet die Standarddefinition von Saṅkhāra in diesem Kontext: die drei Arten von willentlichen Handlungen (körperlich, sprachlich, geistig), die aus Unwissenheit entstehen.
Referenz: SN 12.2, Vibhaṅga Sutta, Analyse. Verfügbar auf: https://suttacentral.net/sn12.2 - SN 12.51, (Titel variiert, z.B. Abhisankhara Sutta) Lehrrede über die Gestaltungen: Definiert Saṅkhāra (hier als Abhisaṅkhāra) alternativ über die drei ethischen Qualitäten: verdienstvoll, nicht-verdienstvoll und unerschütterlich.
Referenz: SN 12.51, (Abhisankhara Sutta), Lehrrede über die Gestaltungen. Verfügbar auf: https://suttacentral.net/sn12.51
- SN 12.2, Vibhaṅga Sutta (Analyse): Bietet die Standarddefinition von Saṅkhāra in diesem Kontext: die drei Arten von willentlichen Handlungen (körperlich, sprachlich, geistig), die aus Unwissenheit entstehen.
- SN 22, Khandha Saṃyutta (Kapitel über die Aggregate): Dieses Kapitel ist die Hauptquelle für das Verständnis des vierten Aggregats, saṅkhārakkhandha.
- SN 22.56, (Parivatta Sutta?) Lehrrede über die Umdrehung(?): Definiert saṅkhārakkhandha als die sechs Klassen von Willensregungen (cha cetanākāyā) in Bezug auf die sechs Sinnesobjekte.
Referenz: SN 22.56, Parivatta Sutta (?), Lehrrede über die Umdrehung(?). Verfügbar auf: https://suttacentral.net/sn22.56 - SN 22.79, Khajjanīya Sutta (Lehrrede über das Verzehren): Enthält eine auf den ersten Blick zirkulär erscheinende Definition: Die Geistesformationen (saṅkhārā) als Aggregat werden so genannt, weil sie „das Bedingte gestalten/konstruieren“ (saṅkhatamabhisaṅkharonti), und zwar bedingte Körperlichkeit als Körperlichkeit, bedingtes Gefühl als Gefühl,…, bedingte Geistesformationen als Geistesformationen, usw.. Dies betont weniger den Inhalt als vielmehr die Funktion des Aggregats: seine aktive Rolle im fortwährenden Prozess des Konstruierens und Konditionierens der gesamten Erfahrungswelt.
Referenz: SN 22.79, Khajjanīya Sutta, Lehrrede über das Verzehren. Verfügbar auf: https://suttacentral.net/sn22.79 - SN 22.90, Channa Sutta (Lehrrede an Channa): Verwendet Saṅkhāra im selben Kontext doppelt: einmal für das Aggregat der Geistesformationen und einmal im allgemeinsten Sinn für „alle Gestaltungen“ in der Aussage sabbe saṅkhārā aniccā („Alle Gestaltungen sind vergänglich“).
Referenz: SN 22.90, Channa Sutta, Lehrrede an Channa. Verfügbar auf: https://suttacentral.net/sn22.90
- SN 22.56, (Parivatta Sutta?) Lehrrede über die Umdrehung(?): Definiert saṅkhārakkhandha als die sechs Klassen von Willensregungen (cha cetanākāyā) in Bezug auf die sechs Sinnesobjekte.
4.4 Aus der Angereihten Sammlung (Aṅguttara Nikāya – AN)
- AN 3.136, Uppāda Sutta (Lehrrede über das Entstehen) (früher als AN 3.134 nummeriert): Dieses prägnante Sutta ist berühmt für die Formulierung der universellen Wahrheiten über die Natur der bedingten Existenz. Es stellt fest, dass unabhängig davon, ob ein Buddha in der Welt erscheint oder nicht, bestimmte Naturgesetze bestehen bleiben:
- Sabbe saṅkhārā aniccā – Alle Gestaltungen sind vergänglich.
- Sabbe saṅkhārā dukkhā – Alle Gestaltungen sind leidhaft.
- Sabbe dhammā anattā – Alle Phänomene sind Nicht-Selbst.
Das Sutta betont, dass ein Buddha diese Wahrheiten erkennt und sie lehrt, um anderen den Weg zur Befreiung zu weisen.
Referenz: AN 3.136, Uppāda Sutta, Lehrrede über das Entstehen. Verfügbar auf: https://suttacentral.net/an3.136 - (Optional: Eine Lehrrede in AN 1 behandelt das Ansammeln von „disharmonischen“ oder „harmonischen“ Handlungen von Körper, Rede und Geist, was sich auf die drei Arten von karmischen Saṅkhāras bezieht).
Die Gegenüberstellung der Definitionen, insbesondere der drei Saṅkhāras in MN 44 (Atem, Denken, Fühlen/Wahrnehmen) und SN 12.2 (körperliche, sprachliche, geistige Willenshandlungen), macht überdeutlich: Die Bedeutung von Saṅkhāra hängt entscheidend vom jeweiligen Lehrkontext ab. Einmal geht es um funktionale Aspekte im Rahmen der Meditation, das andere Mal um die kausale Dynamik von Kamma und Wiedergeburt. Diese Kontexte nicht zu unterscheiden, führt unweigerlich zu Missverständnissen.
Die Lehrreden präsentieren Saṅkhāra sowohl analytisch (indem sie den Begriff in verschiedene Typen unterteilen, wie in MN 44, SN 12.2, SN 22.56) als auch synthetisch (indem sie ihn als umfassenden Begriff für die gesamte bedingte Wirklichkeit verwenden, wie in AN 3.136 oder SN 22.90). Dies spiegelt einen pädagogischen Ansatz wider: Zuerst werden spezifische Mechanismen und Komponenten verständlich gemacht (Analyse), um dann die universelle Natur und die Implikationen dieser Komponenten als Ganzes zu erfassen (Synthese). Beide Perspektiven sind für ein vollständiges Verständnis notwendig.
5. Zusammenfassung und Implikationen für die Praxis
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Saṅkhāra ein Begriff mit einem breiten Bedeutungsspektrum ist. Er bezeichnet einerseits passiv das gesamte Gewebe der bedingten Existenz, alles Geformte und Entstandene, das durch Vergänglichkeit und Leidhaftigkeit gekennzeichnet ist. Andererseits bezeichnet er aktiv die willentlichen Kräfte und Gestaltungen, insbesondere Kamma, die diese Existenz formen und den leidvollen Kreislauf der Wiedergeburten (saṃsāra) antreiben, genährt durch Unwissenheit (avijjā).
Das Verständnis von Saṅkhāra ist für die buddhistische Praxis von entscheidender Bedeutung:
- Einsicht in die Natur der Wirklichkeit: Das Erkennen aller Erfahrungen, des eigenen Körpers und Geistes sowie der äußeren Welt als bedingte, vergängliche und leidhafte Gestaltungen (saṅkhārā) ist der Kern der Einsicht (vipassanā). Diese Erkenntnis führt zur Kultivierung von Nicht-Anhaften (nekkhamma), Ernüchterung (nibbidā) und letztlich zur Einsicht in anicca, dukkha und anattā.
- Ethisches Handeln und Geistesreinigung: Das Verständnis der Rolle von willentlichen Formationen (saṅkhārā) als Kamma im Bedingten Entstehen motiviert zu ethischem Verhalten (sīla). Durch Achtsamkeit (sati) können unheilsame Absichten erkannt und heilsame Absichten kultiviert werden, um die Ursachen zukünftigen Leidens zu vermeiden.
- Meditative Praxis: In der Meditation (samādhi und paññā) ist die Achtsamkeit auf das Entstehen und Vergehen subtiler Geistesformationen (saṅkhārakkhandha) zentral. Dies ermöglicht es, automatische Reaktionsmuster zu durchschauen, unheilsame Tendenzen nicht aufkommen zu lassen und den Geist zu beruhigen und zu klären.
- Das Ziel der Befreiung: Das letztendliche Ziel des buddhistischen Pfades, Nibbāna, wird als das „Zur-Ruhe-Kommen aller Gestaltungen“ (sabbasaṅkhārasamatha) oder als das Unbedingte (asaṅkhata) beschrieben – der Zustand jenseits aller bedingten Formationen.
Saṅkhāra ist somit nicht nur ein theoretisches Konzept, sondern bezeichnet den zentralen Angelpunkt der buddhistischen Praxis. Es ist zugleich das Problem (die bedingte, leidhafte Natur der Existenz und der karmische Antrieb) und der Ort, an dem die Lösung ansetzt. Indem Praktizierende durch Ethik, Konzentration und Weisheit bewusst mit ihren Willensformationen (aktives Saṅkhāra) arbeiten, können sie die Natur der bedingten Realität (passives Saṅkhāra), die sie erfahren, transformieren und sie schließlich transzendieren. Es geht nicht darum, etwas Äußeres zu eliminieren, sondern den Prozess des Gestaltens im eigenen Geiststrom zu verstehen und zu verändern.
Es ist zu hoffen, dass dieser Überblick und die bereitgestellten Sutta-Referenzen Leser dazu ermutigen, die Lehren des Buddha über Saṅkhāra direkt in den Quellen auf suttacentral.net zu erforschen und die Bedeutung dieses tiefgründigen Begriffs in ihrer eigenen Erfahrung zu reflektieren.
6. Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente
Die folgenden Lehrreden aus dem Palikanon behandeln den Begriff Saṅkhāra in besonders relevanter Weise. Sie sind über die angegebenen Links auf suttacentral.net zugänglich (deutsche Übersetzungen können dort ausgewählt werden, sofern verfügbar).
- DN 16: Mahāparinibbāna Sutta (Die Große Lehrrede vom Erlöschen). https://suttacentral.net/dn16 (Erwähnt āyusaṅkhāra).
- DN 33: Saṅgīti Sutta (Das Rezitieren). https://suttacentral.net/dn33 (Definiert abhisaṅkhāra).
- MN 44: Cūḷavedalla Sutta (Kleine Vedalla-Lehrrede). https://suttacentral.net/mn44 (Gibt funktionale Definitionen der drei saṅkhāras im Meditationskontext).
- MN 120: Saṅkhārupapatti Sutta (Lehrrede über die Wiedergeburt durch Gestaltungen). https://suttacentral.net/mn120 (Zeigt saṅkhāra als bewusste Aspiration zur Wiedergeburt).
- SN 12.2: Vibhaṅga Sutta (Analyse). https://suttacentral.net/sn12.2 (Standarddefinition von saṅkhāra im Paṭiccasamuppāda).
- SN 12.51: (Abhisankhara Sutta) Lehrrede über die Gestaltungen. https://suttacentral.net/sn12.51 (Definition über die drei ethischen Qualitäten).
- SN 22.56: (Parivatta Sutta?) Lehrrede über die Umdrehung(?). https://suttacentral.net/sn22.56 (Definition von saṅkhārakkhandha als sechs Willensklassen).
- SN 22.79: Khajjanīya Sutta (Lehrrede über das Verzehren). https://suttacentral.net/sn22.79 (Funktionale Definition von saṅkhārakkhandha als „das Bedingte gestaltend“).
- SN 22.90: Channa Sutta (Lehrrede an Channa). https://suttacentral.net/sn22.90 (Verwendet saṅkhāra für das Aggregat und für „alle Gestaltungen“).
- AN 3.136: Uppāda Sutta (Lehrrede über das Entstehen). https://suttacentral.net/an3.136 (Enthält sabbe saṅkhārā aniccā/dukkhā und sabbe dhammā anattā).
Referenzen (Auswahl):
- Saṅkhāra – Wikipedia
- Saṃskāra – Encyclopedia of Buddhism
- Definitions for: saṅkhāra – SuttaCentral
- Sankhara in Theravada Buddhism – drarisworld – WordPress.com
- Sankhara, Saṅkhāra: 10 definitions – Wisdom Library
- sankhara.pdf – Universität Hamburg
- Help! Meaning of sankhara – Dhamma Wheel Buddhist Forum
- The Meaning of Samskara or Sankhara in Buddhism – Learn Religions
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Viññāṇa (Bewusstsein – 3. Glied)
Aus den Saṅkhārā entsteht Viññāṇa, das Bewusstsein. Dies bezieht sich oft auf das Wiedergeburtsbewusstsein, das eine neue Existenz einleitet, aber auch auf das momentane Sinnesbewusstsein, das durch Sinneskontakt entsteht. Lerne hier die entscheidende Rolle des Bewusstseins als Bindeglied zwischen vergangenen Handlungen und der gegenwärtigen psycho-physischen Existenz kennen und warum es nicht als feste „Seele“ missverstanden werden darf.