11. Geburt (Jāti)

11. Geburt (Jāti)
11. Geburt (Jāti)
11. Geburt (Jāti)

Jāti – Geburt: Definition, Kontext und Schlüsseltexte im Palikanon

Eine Erläuterung des elften Glieds im Bedingten Entstehen und seiner Verbindung zum Leiden

Einleitung: Der Begriff Jāti (Geburt) im frühen Buddhismus

Das tiefere Verständnis der buddhistischen Lehre (Dhamma) erfordert eine Auseinandersetzung mit zentralen Begriffen der Pali-Sprache, der Sprache des ältesten buddhistischen Kanons. Diese Begriffe tragen oft Bedeutungen, die über ihre alltäglichen Entsprechungen hinausgehen. Ein solcher Schlüsselbegriff ist Jāti, wörtlich „Geburt“.

Das Verständnis von Jāti ist von zentraler Bedeutung, da es einen Kernaspekt der Analyse des Leidens (Dukkha) darstellt, wie sie in der Ersten Edlen Wahrheit formuliert wird, und eine entscheidende Rolle im Prozess der Wiedergeburt (Saṃsāra) spielt, der durch das Bedingte Entstehen (Paṭiccasamuppāda) erklärt wird. Dieser Bericht zielt darauf ab, den Begriff Jāti für interessierte Laien zu erschließen, seine Definitionen und seinen Kontext zu erläutern und auf Schlüssel-Lehrreden (Suttas) aus den Sammlungen Dīgha Nikāya (DN) und Majjhima Nikāya (MN) zu verweisen, die diesen Begriff beleuchten. Ergänzend werden Hinweise auf relevante Texte im Saṁyutta Nikāya (SN) und Aṅguttara Nikāya (AN) gegeben.

Was bedeutet Jāti ? Definition und Erklärungen

Wörtliche und grundlegende Bedeutung

Im einfachsten Sinne bedeutet Jāti die physische Geburt, das Zur-Welt-Kommen eines Lebewesens. Der Palikanon kennt traditionell vier Arten der Geburt, die die Bandbreite dieses Konzepts illustrieren:

  • Aṇḍaja: Geburt aus einem Ei (wie Vögel, Fische, Reptilien).
  • Jalābuja: Geburt aus einem Mutterleib (wie die meisten Säugetiere und manche Götterwesen).
  • Saṃsedaja: Geburt aus Feuchtigkeit (vermutlich bezogen auf Wesen, deren Eier mikroskopisch klein sind, wie Maden in verrottendem Fleisch).
  • Opapātika: Spontane Geburt oder Geburt durch Transformation (wie die meisten Götterwesen, Devas).

Erweiterte Bedeutung im Dhamma

Im Kontext der buddhistischen Lehre erhält Jāti jedoch tiefere Bedeutungen:

  • Wiedergeburt (Punabbhava) im Saṃsāra: Dies ist die primäre Bedeutung von Jāti im Rahmen des Paṭiccasamuppāda. Hier bezeichnet Jāti nicht nur die erste physische Geburt, sondern das wiederholte Eintreten in einen neuen Existenzzyklus, das „neu Werden“ (bhava) eines Wesens in einer bestimmten Daseinsform als Ergebnis vergangener Handlungen (Kamma). Es ist die Manifestation in einer neuen Existenz innerhalb des leidvollen Kreislaufs von Werden und Vergehen.
  • Entstehen mentaler Phänomene: In einigen Kontexten, insbesondere im späteren Abhidhamma, aber auch in manchen Suttas angedeutet, kann Jāti auch das momentane Entstehen von mentalen Zuständen, Sinneserfahrungen oder der Ich-Wahrnehmung bezeichnen. Dieses Verständnis wendet das Prinzip des Entstehens auf die psychologische Ebene der unmittelbaren Erfahrung an.

Der Schwerpunkt der klassischen Sutta-Erklärungen liegt jedoch auf der (Wieder-)Geburt im existenziellen Sinne. Die unterschiedlichen Bedeutungsebenen von Jāti – physische Geburt, Wiedergeburt, momentanes Entstehen – sind kein Widerspruch, sondern spiegeln verschiedene Anwendungsbereiche der Lehre wider. Die physische Geburt dient als greifbares Beispiel für die universelle Erfahrung des Leidens. Die Wiedergeburt ist zentral für das Verständnis der karmischen Kontinuität über Leben hinweg, wie im Paṭiccasamuppāda dargelegt. Das momentane Entstehen zeigt die Anwendbarkeit des Prinzips auf die Analyse des Geistes im Hier und Jetzt. Für das Verständnis des Bedingten Entstehens ist die Bedeutung als Wiedergeburt die maßgebliche.

Jāti als Aspekt des Leidens ( Dukkha )

Die Erste der Vier Edlen Wahrheiten benennt Jāti explizit als Dukkha (Leiden, Unzulänglichkeit): „Jātipi dukkhā, jarāpi dukkhā, maraṇampi dukkhaṁ…“ – „Geburt ist Leiden, Altern ist Leiden, Tod ist Leiden…“. Warum wird Geburt als leidhaft betrachtet?

  • Der physische Prozess der Geburt ist oft schmerzhaft.
  • Geburt bedeutet das Eintreten in eine unsichere Welt, den Beginn des Kampfes ums Überleben und die Konfrontation mit Bedürftigkeit.
  • Vor allem aber ist Geburt leidhaft, weil sie unweigerlich zu Altern (Jarā), Krankheit (Byādhi) und Tod (Maraṇa) führt. Jede Existenz, die mit Jāti beginnt, ist dem Verfall und dem Ende unterworfen.
  • Geburt ist der Beginn von Bedürftigkeit und dem Streben nach Erfüllung, das nie dauerhaft befriedigt werden kann.

Standarddefinition aus den Suttas

Der Palikanon liefert eine präzise, wiederkehrende Definition von Jāti, die sich auf die Wiedergeburt bezieht. Sie findet sich prominent im Saṁyutta Nikāya (SN 12.2) und im Majjhima Nikāya (MN 141) sowie implizit im Dīgha Nikāya (DN 22):

Katamā ca, bhikkhave, jāti? Yā tesaṁ tesaṁ sattānaṁ tamhi tamhi sattanikāye jāti sañjāti okkanti abhinibbatti khandhānaṁ pātubhāvo āyatanānaṁ paṭilābho. Ayaṁ vuccati, bhikkhave, jāti.

„Was aber, ihr Mönche, ist Geburt? Der verschiedenen Wesen in dieser oder jener Wesensart Geburt (jāti), Wiedergeburt (sañjāti), Empfängnis/Eintreten [in den Mutterschoß] (okkanti), Hervortreten/Entstehen (abhinibbatti), Manifestation der Daseinsgruppen (khandhānaṁ pātubhāvo), Erwerbung der Sinnesgrundlagen (āyatanānaṁ paṭilābho): Das, ihr Mönche, nennt man Geburt.“

Diese Definition umfasst den gesamten Prozess des In-Existenz-Tretens eines Wesens in einer bestimmten Daseinsform, einschließlich der Entstehung seiner psycho-physischen Bestandteile (Aggregate, khandha) und seiner Sinnesfähigkeiten (āyatana).

Jāti im Kontext des Bedingten Entstehens ( Paṭiccasamuppāda )

Der Begriff Jāti ist untrennbar mit dem Konzept des Paṭiccasamuppāda (Bedingtes Entstehen oder Abhängiges Entstehen) verbunden, einer der zentralen Lehren des Buddha. Dieses Prinzip beschreibt die grundlegende Bedingtheit aller physischen und psychischen Phänomene und erklärt, wie der leidvolle Kreislauf der Wiedergeburten (Saṃsāra) entsteht und wie er durchbrochen werden kann. Die Kernaussage lautet:

Imasmiṁ sati idaṁ hoti; imassuppādā idaṁ uppajjati. Imasmiṁ asati idaṁ na hoti; imassa nirodhā idaṁ nirujjhati.

„Wenn dieses ist, ist das; durch das Entstehen von diesem entsteht jenes. Wenn dieses nicht ist, ist das nicht; durch das Aufhören von diesem hört jenes auf.“

Der Paṭiccasamuppāda wird meist als eine Kette von zwölf Gliedern dargestellt, die den Prozess von Unwissenheit (Avijjā) bis zu Alter und Tod (Jarāmaraṇa) beschreibt.

Jāti als 11. Glied

In dieser zwölfteiligen Kette nimmt Jāti die elfte Position ein. Sie ist bedingt durch das zehnte Glied, Bhava (Werden), und bildet ihrerseits die Bedingung für das zwölfte Glied, Jarāmaraṇa (Altern und Tod).

Erläuterung der Bedingtheit

  • Bhava paccayā jāti (Durch Werden bedingt ist Geburt): Das zehnte Glied, Bhava (Werden), bezeichnet den karmischen Prozess (kamma-bhava), der durch vergangene Handlungen (Kamma), Begehren (Taṇhā) und Anhaften (Upādāna) gespeist wird und das Potential für eine neue Existenz schafft. Bhava ist die treibende Kraft, die Tendenz oder der Drang, wieder zu existieren. Wenn dieses Potential zur Reife gelangt, manifestiert es sich als Jāti, das tatsächliche Eintreten in eine neue Daseinsform (upapatti-bhava). Jāti ist also die konkrete Verwirklichung des durch Bhava geschaffenen Potentials.
  • Jāti paccayā jarāmaraṇaṁ (Durch Geburt bedingt sind Altern und Tod): Sobald ein Wesen geboren ist (Jāti), ist es unausweichlich dem Prozess des Alterns (Jarā) und schließlich dem Tod (Maraṇa) unterworfen, begleitet von den bekannten Formen des Leidens wie Kummer, Klage, Schmerz, Trübsal und Verzweiflung (sokaparidevadukkhadomanassupāyāsā). Jāti öffnet somit das Tor zu all den Leiden, die mit einer verkörperten Existenz verbunden sind.

Das Verständnis der Kette BhavaJātiJarāmaraṇa offenbart eine wichtige Dynamik: Jāti ist nicht bloß ein zufälliges Ereignis, sondern das direkte Resultat unserer karmischen Prägungen (Kamma) und unseres Werdensdrangs (Bhava). Sie markiert den Übergang vom karmischen Potential zur leidvollen Realität einer neuen Existenz. Diese Einsicht ist fundamental, denn sie zeigt, dass Leiden nicht schicksalhaft oder grundlos ist, sondern aus spezifischen, durchbrechbaren Bedingungen entsteht – insbesondere aus Unwissenheit (Avijjā) und Begehren (Taṇhā), den Wurzeln des gesamten Prozesses.

Vorstellung der Nachbarglieder

  • Bhava (Werden, Glied 10): Dieser Begriff umfasst zwei Aspekte:
    • Kamma-bhava: Der aktive, karmisch wirksame Prozess des Handelns (körperlich, sprachlich, geistig), der die Bedingungen für zukünftige Existenzen schafft.
    • Upapatti-bhava: Die passive, karmisch gewirkte Existenz selbst, die als Ergebnis von kamma-bhava entsteht und in der sich das Wesen wiederfindet.
  • Jarāmaraṇa (Altern und Tod, Glied 12): Dieser Doppelbegriff beschreibt den unvermeidlichen Verfallsprozess aller geborenen Wesen.
    • Jarā (Altern): Definiert als das Altwerden, Gebrechlichkeit, graue Haare, faltige Haut, Schwinden der Lebenskraft und Nachlassen der Sinnesfähigkeiten.
    • Maraṇa (Tod): Definiert als das Hinscheiden, Vergehen, Auflösen, Verschwinden, Sterben, Vollendung der Lebenszeit, Auflösung der Aggregate (khandha) und das Wegwerfen des Leichnams.

Schlüssel-Lehrreden zu Jāti in DN und MN

Die Sammlungen der langen (Dīgha Nikāya) und mittleren Lehrreden (Majjhima Nikāya) enthalten einige grundlegende Texte, die Jāti erklären oder definieren:

DN 15: Mahānidāna Sutta (Die große Lehrrede über die Ursachen)

Relevanz: In dieser tiefgründigen Lehrrede widerlegt der Buddha die Annahme seines Schülers Ānanda, das Bedingte Entstehen sei leicht zu verstehen. Er analysiert die Kette detailliert, sowohl vorwärts (anuloma) als auch rückwärts (paṭiloma). Die Abhängigkeit von Altern und Tod (Jarāmaraṇa) von der Geburt (Jāti) wird explizit durch die Frage untersucht: „Wie aber, Ānanda, ist durch Geburt bedingt Altern und Tod?… Wenn es, Ānanda, für die verschiedenen Wesen in den verschiedenen Wesensarten ganz und gar keine Geburt gäbe… würde dann wohl Altern und Tod offenbar werden?“ Ānanda verneint dies, worauf der Buddha schließt: „Darum eben, Ānanda, ist dies der Grund, dies die Ursache, dies der Ursprung, dies die Bedingung für Altern und Tod, nämlich Geburt.“. Dieselbe Logik wird auf die Abhängigkeit von Jāti von Bhava (Werden) angewendet. Die Rede zeigt somit eindrücklich die kausale Notwendigkeit von Jāti für das nachfolgende Leiden und seine eigene Bedingtheit durch Bhava.

Quelle: Dīgha Nikāya 15 (DN 15), Mahānidāna Sutta (Die große Lehrrede über die Ursachen), https://suttacentral.net/dn15/de/sabbamitta

DN 22: Mahāsatipaṭṭhāna Sutta (Die große Lehrrede über die Grundlagen der Achtsamkeit)

Relevanz: Als eine der wichtigsten Meditationsanleitungen behandelt diese Rede die vier Grundlagen der Achtsamkeit. Im vierten Abschnitt, der Betrachtung der Daseinsphänomene (Dhammānupassanā), legt der Buddha die Vier Edlen Wahrheiten dar. Bei der Erläuterung der Ersten Edlen Wahrheit über das Leiden (Dukkha Sacca) wird Jāti als erste Form des Leidens genannt: „Jātipi dukkhā…“ (Geburt ist Leiden…). Die hier implizit vorausgesetzte Definition von Jāti ist die Standarddefinition, wie sie auch in MN 141 und SN 12.2 explizit gegeben wird, und verankert Jāti fest im Kontext der grundlegenden Leidensanalyse.

Quelle: Dīgha Nikāya 22 (DN 22), Mahāsatipaṭṭhāna Sutta (Die große Lehrrede über die Grundlagen der Achtsamkeit), https://suttacentral.net/dn22/de/sabbamitta (Hinweis: Deutsche Übersetzung von Sabbamitta für DN 22 auf SuttaCentral derzeit nicht verfügbar, siehe englische Versionen oder andere deutsche Übersetzungen).

MN 141: Saccavibhaṅga Sutta (Die Lehrrede über die Darlegung der Wahrheiten)

Relevanz: Hier legt der Ehrwürdige Sāriputta, einer der Hauptschüler des Buddha, die Vier Edlen Wahrheiten detailliert dar. Die Erklärung der Ersten Wahrheit (Leiden) beginnt mit Jāti, gefolgt von der ausführlichen Standarddefinition, die bereits oben zitiert wurde: „Katamā cāvuso, jāti? Yā tesaṁ tesaṁ sattānaṁ tamhi tamhi sattanikāye jāti sañjāti okkanti abhinibbatti khandhānaṁ pātubhāvo āyatanānaṁ paṭilābho. Ayaṁ vuccatāvuso, jāti.“ Diese Rede liefert somit eine der klarsten und autoritativsten Definitionen von Jāti im Palikanon, direkt im Kontext der fundamentalen Lehre vom Leiden.

Quelle: Majjhima Nikāya 141 (MN 141), Saccavibhaṅga Sutta (Die Lehrrede über die Darlegung der Wahrheiten), https://suttacentral.net/mn141/de/sabbamitta (Hinweis: Deutsche Übersetzung von Sabbamitta für MN 141 auf SuttaCentral derzeit nicht verfügbar, siehe englische Versionen oder andere deutsche Übersetzungen).

Diese Lehrreden beleuchten Jāti aus sich ergänzenden Blickwinkeln. DN 15 konzentriert sich auf die kausale Dynamik innerhalb des Paṭiccasamuppāda und demonstriert die Abhängigkeitsverhältnisse. DN 22 und MN 141 hingegen positionieren Jāti als grundlegende Form des Leidens im Rahmen der Vier Edlen Wahrheiten und liefern die präzise Standarddefinition. Das Verständnis beider Aspekte – der mechanistischen Rolle im Wiedergeburtszyklus und der existenziellen Bedeutung als Leiden – ist für ein umfassendes Bild unerlässlich.

Weitere wichtige Textstellen in SN und AN

Über DN und MN hinaus finden sich bedeutende Erklärungen und Bezüge zu Jāti auch im Saṁyutta Nikāya und Aṅguttara Nikāya.

SN 12: Nidāna Saṃyutta (Die Sammlung der Ursachen / Kapitel über Kausalität)

Relevanz: Dieses gesamte Kapitel (Saṃyutta) des Saṁyutta Nikāya ist ausschließlich dem Bedingten Entstehen (Paṭiccasamuppāda) gewidmet. Es umfasst 93 einzelne Lehrreden und stellt somit die umfangreichste und detaillierteste Quelle zu diesem Thema im Palikanon dar. Es bildet das systematische Zentrum für das Verständnis der Kausalitätslehre.

SN 12.2: Vibhaṅga Sutta (Die Lehrrede über die Analyse)

Besondere Relevanz: Diese kurze, aber äußerst wichtige Lehrrede liefert die maßgeblichen Definitionen für jedes der zwölf Glieder des Bedingten Entstehens. Hier findet sich erneut die bereits zitierte Standarddefinition von Jāti: „Katamā ca, bhikkhave, jāti? Yā tesaṁ tesaṁ sattānaṁ tamhi tamhi sattanikāye jāti sañjāti okkanti abhinibbatti khandhānaṁ pātubhāvo āyatanānaṁ paṭilābho. Ayaṁ vuccati, bhikkhave, jāti.“. Diese Definitionen gelten als Standardreferenz für den gesamten Kanon.

Quelle: Saṁyutta Nikāya 12 (SN 12), Nidāna Saṃyutta (Die Sammlung der Ursachen), https://suttacentral.net/sn12; Speziell: SN 12.2, Vibhaṅga Sutta (Die Lehrrede über die Analyse), https://suttacentral.net/sn12.2/de/sabbamitta (Hinweis: Deutsche Übersetzung von Sabbamitta für SN 12.2 auf SuttaCentral derzeit nicht verfügbar, siehe englische Versionen oder andere deutsche Übersetzungen).

AN 5.57: Upajjhatthana Sutta (Die Lehrrede über die Themen zur Betrachtung)

Relevanz: Diese bekannte und oft zitierte Lehrrede stellt die „Fünf täglichen Betrachtungen“ vor, die von allen – Mönchen wie Laien – regelmäßig reflektiert werden sollen. Die ersten drei dieser Betrachtungen beziehen sich direkt auf die Konsequenzen der Geburt (Jāti):

  1. „Ich unterliege dem Altern (Jarā), ich bin dem Altern nicht entkommen.“ (Jarādhammomhi jaraṃ anatīto.)
  2. „Ich unterliege der Krankheit (Byādhi), ich bin der Krankheit nicht entkommen.“ (Vyādhidhammomhi vyādhiṃ anatīto.)
  3. „Ich unterliege dem Tod (Maraṇa), ich bin dem Tod nicht entkommen.“ (Maraṇadhammomhi maraṇaṃ anatīto.)

Die Notwendigkeit dieser Reflexionen ergibt sich direkt aus der Tatsache, dass man geboren wurde (jātidhamma). Die Betrachtung soll helfen, den Stolz (Mada) auf Jugend, Gesundheit und Leben zu überwinden und ein Gefühl der Dringlichkeit für die Praxis zu entwickeln. Jāti ist hier die unausgesprochene, aber fundamentale Voraussetzung für die leidvollen Realitäten, die kontempliert werden.

Quelle: Aṅguttara Nikāya 5.57 (AN 5.57), Upajjhatthana Sutta (Die Lehrrede über die Themen zur Betrachtung / Die fünf täglichen Betrachtungen), https://suttacentral.net/an5.57/de/sabbamitta (Hinweis: Deutsche Übersetzung von Sabbamitta für AN 5.57 auf SuttaCentral derzeit nicht verfügbar, siehe englische Versionen oder andere deutsche Übersetzungen).

Die unterschiedlichen Schwerpunkte dieser Texte verdeutlichen eine didaktische Struktur im Kanon: SN 12, insbesondere SN 12.2, liefert die systematische, definitorische Grundlage – die „Landkarte“ des Prozesses des Bedingten Entstehens. AN 5.57 hingegen bietet eine konkrete praktische Anwendung – eine „Übung“ zur Kontemplation der direkten Folgen von Jāti, die auf die Geisteshaltung und Motivation des Praktizierenden abzielt. Das Verständnis von Jāti hat somit nicht nur eine intellektuelle, sondern auch eine unmittelbar meditative und ethische Relevanz.

Tabelle: Schlüssellehrreden zum Verständnis von Jāti (Geburt)

Sutta (Nr., Pali-Name, Dt. Name) Nikāya Relevanz für Jāti
DN 15, Mahānidāna Sutta (Die große Lehrrede über die Ursachen) DN Erklärt die kausale Abhängigkeit BhavaJātiJarāmaraṇa im Detail durch hypothetische Fragen.
DN 22, Mahāsatipaṭṭhāna Sutta (Die große Lehrrede über die Grundlagen der Achtsamkeit) DN Nennt Jāti als erste Form des Leidens (Dukkha) im Rahmen der Ersten Edlen Wahrheit; enthält Standarddefinition.
MN 141, Saccavibhaṅga Sutta (Die Lehrrede über die Darlegung der Wahrheiten) MN Enthält die detaillierte Standarddefinition von Jāti im Kontext der Ersten Edlen Wahrheit, dargelegt von Sāriputta.
SN 12.2, Vibhaṅga Sutta (Die Lehrrede über die Analyse) SN Liefert die maßgebliche, kanonische Definition aller zwölf Glieder des Paṭiccasamuppāda, einschließlich Jāti.
AN 5.57, Upajjhatthana Sutta (Die Lehrrede über die Themen zur Betrachtung) AN Thematisiert die Folgen von Jāti (Altern, Krankheit, Tod) als Gegenstand täglicher Betrachtung zur Überwindung von Stolz und zur Entwicklung von Dringlichkeit.

Zusammenfassung und Ausblick

Der Pali-Begriff Jāti bedeutet wörtlich „Geburt“, umfasst im buddhistischen Kontext jedoch tiefere Dimensionen. Er bezeichnet nicht nur die physische Geburt, sondern vor allem die Wiedergeburt im leidvollen Kreislauf des Saṃsāra, das erneute In-Existenz-Treten eines Wesens aufgrund vergangener Handlungen (Kamma) und Werdensprozesse (Bhava). Gelegentlich wird der Begriff auch auf das momentane Entstehen mentaler Phänomene angewandt.

Jāti ist ein zentraler Aspekt der Ersten Edlen Wahrheit, da Geburt als inhärent leidhaft angesehen wird – sie ist der Ausgangspunkt für Altern, Krankheit, Tod und alle anderen Formen von Dukkha. Im Bedingten Entstehen (Paṭiccasamuppāda) ist Jāti das elfte Glied, bedingt durch Bhava (Werden) und selbst die Bedingung für Jarāmaraṇa (Altern und Tod). Sie stellt den Punkt dar, an dem karmisches Potential zur leidvollen Realität einer neuen Existenz wird.

Die vorgestellten Lehrreden aus dem Dīgha Nikāya (DN 15, DN 22), Majjhima Nikāya (MN 141), Saṁyutta Nikāya (SN 12.2) und Aṅguttara Nikāya (AN 5.57) beleuchten Jāti aus verschiedenen Perspektiven: Sie erklären die kausale Dynamik, liefern die Standarddefinition, verorten Jāti im Kontext des Leidens und zeigen praktische Wege der Kontemplation auf.

Das Verständnis von Jāti und seiner Bedingtheit ist essentiell, um den Mechanismus des Leidenskreislaufs zu durchschauen und den Weg zur Befreiung (Nibbāna) zu erkennen. Die hier genannten Suttas bieten einen wertvollen Einstieg für ein vertieftes persönliches Studium.

Es ist ermutigend, diese Texte nicht nur intellektuell zu erfassen, sondern ihre Inhalte durch Kontemplation und meditative Praxis zu verinnerlichen und so ihre befreiende Weisheit erfahrbar zu machen. Die Auseinandersetzung mit den Originalquellen, wie sie über Plattformen wie suttacentral.net zugänglich sind, ist dabei ein unschätzbares Hilfsmittel.

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Jarāmaraṇa (Altern & Tod – 12. Glied)
Die unvermeidliche Folge der Geburt ist Jarāmaraṇa – Altern und Tod, begleitet von Kummer, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung (sokaparidevadukkhadomanassupāyāsā). Dieses letzte Glied schließt den Kreis und zeigt die leidvolle Natur der durch Unwissenheit und Begehren bedingten Existenz auf. Es ist die Manifestation des dukkha, dessen Ursachen in den vorherigen Gliedern liegen.