
Der Abhidhamma-Piṭaka: Ein umfassender Leitfaden
Ein detaillierter Leitfaden zur Höheren Lehre des Buddha
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Der Dritte Korb und die „Höhere Lehre“
- Zwei Lehrmethoden: Die Sprache der Konvention und die Sprache der Wirklichkeit
- Die Landkarte der Wirklichkeit: Die Kerninhalte des Abhidhamma
- Der praktische Nutzen: Abhidhamma als Werkzeug für die Einsicht (Vipassanā)
- Die Stellung in der Tradition: Wort des Buddha oder spätere Scholastik?
- Glossar zentraler Pāli-Begriffe
- Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente
Einleitung: Der Dritte Korb und die „Höhere Lehre“
Der Pāli-Kanon, die älteste vollständige Sammlung buddhistischer Schriften, gliedert sich traditionell in drei große Teile, die als die „Drei Körbe“ oder Tipiṭaka bekannt sind. Der erste Korb, der Vinaya−Piṭaka, enthält die Ordensregeln für Mönche und Nonnen. Der zweite, der Sutta−Piṭaka, versammelt die Lehrreden (suttas), die der Buddha und seine Hauptschüler bei verschiedenen Gelegenheiten gehalten haben. Der dritte und letzte Korb ist der Abhidhamma−Piṭaka, ein Werk, das oft als das tiefgründigste und komplexeste des gesamten Kanons angesehen wird. Der Name selbst gibt einen Hinweis auf seinen einzigartigen Charakter. Das Pāli-Wort Abhidhamma setzt sich aus zwei Teilen zusammen: abhi, was „höher“, „besonders“, „hervorragend“ oder „subtil“ bedeutet, und Dhamma, was sich auf die Lehre des Buddha oder die grundlegende Natur der Realität bezieht. Somit wird der Abhidhamma oft als die „Höhere Lehre“ oder „Besondere Lehre“ übersetzt. Diese Bezeichnung impliziert keine Überlegenheit gegenüber den Suttas im Sinne einer besseren Lehre für alle, sondern verweist auf eine andere Methode der Darlegung: eine, die tiefgründiger, analytischer und systematischer ist.
Während die Lehren im Sutta−Piṭaka oft verstreut und in narrative Kontexte eingebettet sind, präsentiert der Abhidhamma diese Prinzipien in einem systematischen, philosophischen und psychologischen Rahmen. Er ist keine Sammlung neuer, unabhängiger Lehren, sondern vielmehr eine Neuordnung und detaillierte Ausarbeitung der im Sutta−Piṭaka enthaltenen Wahrheiten. Er stellt die Quintessenz der buddhistischen Lehre dar, indem er die Natur von Geist (nāma) und Materie (rūpa) bis ins kleinste Detail analysiert. Diese Verlagerung des pädagogischen Fokus von einer überzeugenden, situationsbezogenen Erzählung zu einer reinen, erschöpfenden Beschreibung der Realität, wie sie von Moment zu Moment erfahren wird, ist das Kernmerkmal des Abhidhamma. Trotz seiner analytischen Strenge verfolgt der Abhidhamma dasselbe Ziel wie der Rest des Kanons: Er bietet einen Weg zur vollständigen Befreiung vom Leiden (dukkha) und zur Verwirklichung des Nibbāna. Er ist die „ernüchternde und letztlich befreiende Sicht der Dinge, wie sie wirklich sind“ (yathābhūtañāṇadassana).
Zwei Lehrmethoden: Die Sprache der Konvention und die Sprache der Wirklichkeit
Um den einzigartigen Charakter des Abhidhamma−Piṭaka zu verstehen, ist es entscheidend, die beiden unterschiedlichen Lehrmethoden (desanā) zu erkennen, die der Buddha gemäß der Tradition anwandte. Diese Unterscheidung ist der Schlüssel zum Verständnis, warum sich der Stil und Inhalt des dritten Korbes so grundlegend von dem des zweiten unterscheidet.
Vohāra-desanā: Die konventionelle Lehre der Suttas
Der Sutta−Piṭaka verwendet überwiegend die Methode der konventionellen Lehre, auf Pāli vohāra−desanā genannt. Diese Lehre bedient sich der konventionellen Sprache und Wahrheit (vohāra−sacca oder sammuti−sacca), die wir im Alltag verwenden. Hier spricht der Buddha von „Personen“, „Männern“, „Frauen“, von „ich“ und „du“, von Wesen, die wiedergeboren werden. Diese Ausdrucksweise ist nicht im absoluten Sinne wahr, sondern eine Vereinfachung, die auf die Verständnisfähigkeit und die spezifischen Bedürfnisse der Zuhörer zugeschnitten ist. Der Buddha nutzte Gleichnisse, Anekdoten und Dialoge, um seine Botschaft zugänglich und überzeugend zu vermitteln. Diese Methode ist wie ein guter Reiseführer, der eine Landschaft mit vertrauten Begriffen und Bildern beschreibt, um den Reisenden sicher an sein Ziel zu bringen.
Paramattha-desanā: Die absolute Lehre des Abhidhamma
Der Abhidhamma−Piṭaka hingegen bedient sich ausschließlich der Methode der absoluten oder ultimativen Lehre, der paramattha−desanā. Hier wird die Realität nicht mehr in konventionellen Begriffen beschrieben, sondern in ihren letzten, nicht weiter reduzierbaren Bestandteilen analysiert. Diese letzten Wirklichkeiten werden paramattha−dhammā genannt. In dieser Darstellungsweise gibt es keine „Person“ oder „Ich“, sondern nur ein komplexes Zusammenspiel von unpersönlichen mentalen und physischen Phänomenen, die von Moment zu Moment nach klar definierten Gesetzen entstehen und vergehen. Die Lehre ist hier abstrakt, systematisch und frei von jeglichen narrativen Elementen, Persönlichkeiten oder Anekdoten.
Zwei Analogien können diesen Unterschied verdeutlichen:
- Die Fluss-Analogie: Im Sutta−Piṭaka könnte der Buddha die Vergänglichkeit anhand eines Flusses erklären: „Oh Mönche, dieser Fluss ist unbeständig; eines Tages wird er austrocknen.“ Dies ist eine konventionelle Wahrheit, die jeder versteht. Im Abhidhamma würde derselbe Fluss als ein ununterbrochener Strom von unzähligen, winzigen materiellen Einheiten (rūpa−kalāpas) beschrieben, die in jedem Augenblick entstehen und vergehen. Der Begriff „Fluss“ ist hier nur ein mentales Konzept, das über diesen unpersönlichen Prozess gelegt wird. Der Abhidhamma betrachtet die Realität sozusagen auf einer „verpixelten Ebene“, auf der nur die fundamentalen Bausteine sichtbar sind.
- Die Analogie von Kochen und Chemie: Der Sutta−Piṭaka ist wie ein Kochbuch. Er liefert ein erprobtes Rezept (den Achtfachen Pfad), das, wenn man ihm folgt, zu einem köstlichen Mahl (der Befreiung) führt. Man muss nicht die chemischen Prozesse verstehen, um das Rezept erfolgreich anzuwenden. Der Abhidhamma ist wie ein Lehrbuch der Chemie. Er erklärt die zugrundeliegenden molekularen Strukturen der Zutaten und die exakten chemischen Reaktionen, die beim Kochen ablaufen. Ein Meisterkoch, der sowohl das Rezept als auch die Chemie versteht, besitzt ein weitaus tieferes und umfassenderes Wissen über sein Handwerk.
Diese Unterscheidung zwischen konventioneller und absoluter Realität ist nicht nur eine akademische Feinheit. Sie bildet die Grundlage der Einsichtsmeditation (vipassanā). Der Meditierende lernt, durch die konventionelle Wahrnehmung seiner selbst (z.B. „mein Ärger“, „mein Gedanke“) hindurchzuschauen und die absolute Realität dahinter zu erkennen: den unpersönlichen, bedingten Fluss von mentalen und physischen Phänomenen. Der Abhidhamma liefert die detaillierte Landkarte für diese Entdeckungsreise.
Sutta-Piṭaka vs. Abhidhamma-Piṭaka im Überblick
Die folgende Tabelle fasst die wesentlichen Unterschiede zusammen:
Merkmal | Sutta-Piṭaka | Abhidhamma-Piṭaka |
---|---|---|
Lehrmethode | Vohāra−desanā (Konventionelle Lehre) | Paramattha−desanā (Absolute Lehre) |
Sprache | „Konventionell, narrativ (z.B. „Person“, „Ich“)“ | „Absolut, analytisch (z.B. khandha, citta)“ |
Fokus | „Praktischer Weg, Ethik, Narrative“ | Philosophische & psychologische Analyse |
Zielgruppe | „Breites Publikum, an den Zuhörer angepasst“ | „Studierende, die eine systematische Analyse suchen“ |
Stil | „Gleichnisse, Dialoge, Geschichten“ | „Listen, Matrizen (mātikā), Definitionen“ |
Analogie | „Kochrezept, Reiseführer“ | „Chemische Formel, GPS-Koordinaten“ |
Die Landkarte der Wirklichkeit: Die Kerninhalte des Abhidhamma
Das Herzstück des Abhidhamma ist seine detaillierte Analyse der gesamten erfahrbaren Realität. Diese Analyse zerlegt die Welt in ihre fundamentalen, nicht weiter reduzierbaren Bausteine und beschreibt die Gesetze, nach denen sie interagieren.
A. Die vier letzten Wirklichkeiten (Paramattha Dhammas)
Der Abhidhamma postuliert, dass alles, was existiert, auf vier „letzte Wirklichkeiten“ oder paramattha−dhammā zurückgeführt werden kann. Dies sind die einzigen Phänomene, die aus absoluter Sicht wirklich existieren, da sie ihre eigene, intrinsische Natur besitzen (sabhāva).
- Citta (Bewusstsein)
Citta ist die fundamentale Fähigkeit des Geistes, ein Objekt zu erkennen oder zu erfahren (ārammaṇa). Es ist der „Anführer“ oder „Vorläufer“ bei jedem kognitiven Akt. Jedes einzelne Bewusstseinsmoment ist extrem kurzlebig und entsteht nur, um ein einziges Objekt zu erfassen – sei es ein Anblick, ein Geräusch, ein Geruch, ein Geschmack, eine Berührung oder ein reiner Gedanke. Der Abhidhamma klassifiziert citta in 89 (oder in einer detaillierteren Analyse 121) verschiedene Arten. Diese werden nach ihrer ethischen Qualität (jāti) in heilsame (kusala), unheilsame (akusala), resultierende (vipāka) und funktionale (kiriya) Bewusstseinsmomente unterteilt. Zudem werden sie nach der Ebene (bhūmi) unterschieden, auf der sie auftreten, wie der Sinnessphäre (kāmāvacara), der Form-Sphäre (rūpāvacara), der formlosen Sphäre (arūpāvacara) oder der überweltlichen Ebene (lokuttara). - Cetasika (Geistesfaktoren)
Kein citta entsteht jemals allein. Es wird immer von einer Gruppe von cetasikas oder Geistesfaktoren begleitet. Dies sind 52 verschiedene mentale Phänomene, die zusammen mit dem Bewusstsein entstehen und vergehen, dasselbe Objekt erfahren und dieselbe physische Basis nutzen. Die cetasikas sind es, die dem an sich neutralen Bewusstseinsakt seine spezifische „Färbung“ oder seinen Charakter verleihen. Ein Bewusstseinsmoment ist nicht von sich aus „gierig“; er wird gierig, weil der Geistesfaktor Gier (lobha) mit ihm zusammen entsteht. Zu den 52 cetasikas gehören:- Universelle Faktoren: wie Gefühl (vedanā), Wahrnehmung (saññā) und Willensabsicht (cetanā), die in fast jedem citta vorhanden sind.
- Unheilsame Faktoren: wie Gier (lobha), Hass/Abneigung (dosa), Verblendung (moha), Stolz (māna) und Neid (issā).
- Schöne (heilsame) Faktoren: wie Vertrauen (saddhā), Achtsamkeit (sati), Großzügigkeit (alobha), Nicht-Hass (als liebende Güte, adosa) und Weisheit (paññā).
- Rūpa (Materie, Körperlichkeit)
Rūpa bezeichnet die 28 Kategorien physischer Phänomene. Der Abhidhamma definiert Materie als das, was sich unter dem Einfluss von Bedingungen wie Hitze und Kälte verändert oder „verformt“. Die Grundlage aller Materie bilden die vier „Großen Elemente“ (mahā−bhūta):- Das Erdelement (paṭhavī−dhātu): die Eigenschaft der Festigkeit, Härte oder Weichheit.
- Das Wasserelement (āpo−dhātu): die Eigenschaft des Zusammenhalts oder der Kohäsion.
- Das Feuerelement (tejo−dhātu): die Eigenschaft der Temperatur (Hitze oder Kälte).
- Das Windelement (vāyo−dhātu): die Eigenschaft der Bewegung oder des Drucks.
Diese sind keine Substanzen, sondern fundamentale Qualitäten, die in jeder materiellen Einheit vorhanden sind. Zu den 24 abgeleiteten materiellen Phänomenen (upādā−rūpa) gehören die physischen Sinnesorgane (z.B. die sensitive Schicht im Auge) und die Sinnesobjekte (z.B. sichtbare Form).
- Nibbāna (Nirwana)
Nibbāna ist die vierte und einzige unbedingte (asaṅkhata) letzte Wirklichkeit. Im Gegensatz zu citta, cetasika und rūpa, die alle bedingt (saṅkhata) sind und daher dem Gesetz von Entstehen und Vergehen unterliegen, ist Nibbāna zeitlos und unveränderlich. Es ist das endgültige Erlöschen der drei Geistesgifte Gier, Hass und Verblendung und somit die vollständige Befreiung vom Kreislauf der Wiedergeburten (saṃsāra). Nibbāna ist kein Ort, sondern ein erfahrbares Objekt des überweltlichen Bewusstseins (lokuttara−citta). Wie alle anderen dhammas ist auch Nibbāna durch das Merkmal des Nicht-Selbst (anattā) gekennzeichnet.
B. Die sieben Bücher des Abhidhamma-Piṭaka
Der Abhidhamma−Piṭaka besteht aus sieben Büchern (pakaraṇa), die eine systematische Untersuchung der Realität darstellen. Die Struktur dieser Bücher offenbart einen klaren pädagogischen Aufbau: von der Auflistung der Grundelemente über deren Analyse und Zuordnung bis hin zur Untersuchung ihrer dynamischen Wechselbeziehungen.
- Dhammasaṅgaṇī (Aufzählung der Phänomene): Das Grundlagenwerk. Es beginnt mit einer Matrix (mātikā) von Lehrpunkten und klassifiziert alle dhammas als heilsam, unheilsam oder unbestimmt.
- Vibhaṅga (Das Buch der Analyse): Analysiert die Themen des Dhammasaṅgaṇī (wie die fünf Aggregate, khandha) im Detail, wobei sowohl die Sutta-Methode als auch die strengere Abhidhamma-Methode angewendet werden.
- Dhātukathā (Abhandlung über die Elemente): Ein technisches Werk, das die Beziehungen zwischen den dhammas der mātikā und den Systemen der Aggregate, Sinnesgrundlagen und Elemente untersucht.
- Puggalapaññatti (Beschreibung von Personen): Einzigartig im Abhidhamma, da es konventionelle Begriffe verwendet, um verschiedene Persönlichkeitstypen entsprechend ihrer spirituellen Entwicklung zu klassifizieren. Viele dieser Typologien stammen aus dem Aṅguttara Nikāya.
- Kathāvatthu (Streitpunkte): Eine Sammlung von Debatten über strittige Lehrpunkte, die dem Mönch Moggaliputta-Tissa während des Dritten Buddhistischen Konzils zugeschrieben wird. Es klärt die orthodoxe Theravāda-Position gegenüber den Ansichten anderer früher buddhistischer Schulen.
- Yamaka (Das Buch der Paare): Ein Werk der angewandten Logik, das die dhammas durch Paare von Fragen und Gegenfragen analysiert, um ihre Bedeutung präzise und unmissverständlich zu definieren.
- Paṭṭhāna (Das Buch der Bedingungszusammenhänge): Das monumentale Schlusswerk und der Höhepunkt des Abhidhamma. Es beschreibt in erschöpfender Detailfülle die 24 Arten von bedingten Beziehungen (paccaya) und zeigt, wie alle Phänomene in einem riesigen, unauflöslichen Netz von Ursachen und Wirkungen miteinander verbunden sind.
Der praktische Nutzen: Abhidhamma als Werkzeug für die Einsicht (Vipassanā)
Obwohl der Abhidhamma auf den ersten Blick wie eine trockene, akademische Abhandlung wirken mag, liegt sein wahrer Wert in seiner praktischen Anwendung als Unterstützung für die Meditationspraxis, insbesondere für die Einsichtsmeditation (vipassanā). Er fungiert als eine Art hochauflösende Landkarte oder ein detailliertes Feldhandbuch für den Geist, das dem Meditierenden ermöglicht, das Terrain seiner eigenen Erfahrung mit beispielloser Präzision zu navigieren.
Die Kenntnis des Abhidhamma verwandelt die Meditationspraxis von einem passiven Warten auf Einsicht in einen aktiven, investigativen Prozess. Sie stattet den Meditierenden mit den analytischen Werkzeugen aus, um die eigene Erfahrung in Echtzeit zu sezieren und zu verstehen.
- Präzise Identifikation von Geisteszuständen: Anstatt nur vage „Gefühle“ oder „Gedanken“ zu bemerken, kann ein Meditierender mit Abhidhamma-Wissen die aufkommenden mentalen Zustände exakt identifizieren. Er kann unterscheiden, ob ein unangenehmes Gefühl von Abneigung (dosa) begleitet wird, oder ob hinter einem heilsamen Gedanken das Wirken von Vertrauen (saddhā) und Weisheit (paññā) steht. Diese präzise Benennung verhindert, dass man sich mit den Zuständen identifiziert, und fördert eine objektive Beobachtungshaltung.
- De-Konstruktion des „Selbst“: Das Kernziel von vipassanā ist die direkte Erkenntnis der drei Daseinsmerkmale: Vergänglichkeit (anicca), Leidhaftigkeit (dukkha) und Nicht-Selbst (anattā). Der Abhidhamma liefert das theoretische Rüstzeug für diese Erkenntnis, indem er die scheinbar feste Einheit eines „Ich“ in einen unpersönlichen, sich schnell verändernden Fluss von citta, cetasika und rūpa auflöst. Durch die Meditation wird diese theoretische Analyse zur direkten, erlebten Erfahrung. Man sieht, dass es keinen beständigen „Denker“ hinter den Gedanken gibt, sondern nur den Prozess des Denkens selbst.
- Verständnis der Bedingtheit: Das Studium des Abhidhamma, insbesondere des Paṭṭhāna, führt zu einem tiefen Verständnis der bedingten Entstehung (paṭiccasamuppāda). In der Meditation hilft dieses Wissen, Zweifel (vicikicchā) zu überwinden, da man direkt sieht, wie ein mentaler Zustand (z.B. Ärger) nicht aus dem Nichts entsteht, sondern durch spezifische Bedingungen (z.B. einen unangenehmen Sinneseindruck und die gewohnheitsmäßige Tendenz zur Abneigung) hervorgerufen wird.
- Vermeidung von Fehlinterpretationen: Auf dem Weg der Einsicht können intensive meditative Erfahrungen auftreten, wie Visionen, Verzückung oder ungewöhnliche Körperempfindungen. Diese können leicht fehlinterpretiert werden und den Fortschritt behindern. Der Abhidhamma bietet einen nüchternen Rahmen, um solche Phänomene als das zu erkennen, was sie sind: bedingte Geisteszustände und nicht das endgültige Ziel der Befreiung. Er hilft, die echten Stufen der Einsicht von den sogenannten „Verunreinigungen der Einsicht“ (vipassanūpakkilesa) zu unterscheiden.
Somit sind das Studium des Abhidhamma und die Praxis der Meditation zwei Flügel, die zusammenwirken. Das Studium gibt der Praxis Präzision und Tiefe, während die Praxis die abstrakten Konzepte des Abhidhamma mit Leben füllt und zur direkten Erfahrung macht.
Die Stellung in der Tradition: Wort des Buddha oder spätere Scholastik?
Die Frage nach dem Ursprung des Abhidhamma−Piṭaka ist eine der faszinierendsten und am meisten diskutierten in der buddhistischen Geschichte. Die Antworten darauf spiegeln eine grundlegende Spannung zwischen traditioneller Überlieferung und historisch-kritischer Forschung wider.
A. Die traditionelle Sicht des Theravāda
Innerhalb der Theravāda-Tradition wird der Abhidhamma−Piṭaka ohne Zweifel als authentisches Wort des Buddha (buddhavacana) angesehen. Die Kommentare liefern eine detaillierte Entstehungsgeschichte:
- Konzeption und Lehre: Der Buddha soll die Lehren des Abhidhamma in der vierten Woche nach seiner Erleuchtung unter dem Bodhi-Baum geistig durchdrungen haben. Später, während seines siebten Regenzeit-Retreats, soll er in den Tāvatiṃsa-Himmel aufgestiegen sein, um den versammelten Devas (Gottheiten), darunter seiner wiedergeborenen Mutter Māyādevī, den vollständigen Abhidhamma über einen Zeitraum von drei Monaten zu lehren. Die Götter konnten diese subtile Lehre aufgrund ihrer feinen geistigen Konstitution ohne Unterbrechung aufnehmen.
- Übertragung an Sāriputta: Täglich kehrte der Buddha kurz auf die Erde zurück, um dem ehrwürdigen Sāriputta, seinem an analytischer Weisheit herausragendsten Schüler, eine Zusammenfassung des am selben Tag gelehrten Abschnitts zu geben. Sāriputta, mit seiner tiefen Einsicht, war in der Lage, diese knappen Zusammenfassungen zu verstehen und sie seinerseits vollständig auszuarbeiten und an seine 500 Schüler weiterzugeben. Auf diese Weise wurde die Lehre in der Menschenwelt verankert.
Befürworter dieser Sichtweise weisen auch auf Textstellen innerhalb des Sutta−Piṭaka hin, in denen der Begriff abhidhamma oder listenartige Strukturen (mātikā), die für den Abhidhamma-Stil typisch sind, erwähnt werden, was auf einen frühen Ursprung hindeutet.
B. Die akademisch-historische Sicht
Die meisten modernen, nicht-konfessionellen Gelehrten kommen zu einem anderen Schluss. Basierend auf textkritischen und vergleichenden Analysen betrachten sie den Abhidhamma−Piṭaka als eine spätere scholastische Entwicklung, die von gelehrten Mönchen in den Jahrhunderten nach dem Parinibbāna des Buddha verfasst wurde. Die Argumente für diese Sichtweise sind:
- Stilistische und sprachliche Unterschiede: Der Stil des Abhidhamma ist hochgradig formalisiert, repetitiv und technisch. Er unterscheidet sich deutlich von der lebendigen, dialogischen und narrativen Form der Suttas. Auch die Terminologie ist spezialisierter und weiterentwickelt.
- Fehlen eines gemeinsamen Abhidhamma: Dies ist vielleicht das stärkste Argument. Während die verschiedenen frühen buddhistischen Schulen (wie Theravāda, Sarvāstivāda etc.) einen weitgehend übereinstimmenden Kanon von Suttas teilten, sind ihre jeweiligen Abhidhamma-Sammlungen völlig unterschiedlich. Der Pāli-Abhidhamma der Theravādins hat kaum Gemeinsamkeiten mit dem Sanskrit-Abhidharma der Sarvāstivādins. Dies legt nahe, dass diese Sammlungen erst nach der Trennung der Schulen unabhängig voneinander entwickelt wurden.
- Die Erzählung von der Himmelslehre: Akademiker interpretieren die Geschichte von der Lehre in der Götterwelt nicht als historischen Bericht, sondern als eine narrative Strategie, die später entwickelt wurde, um dem Abhidhamma die höchste Autorität des Buddha-Wortes zu verleihen und ihn im Kanon zu legitimieren.
C. Eine Synthese: Die Keimzelle in den Suttas
Eine vermittelnde Perspektive, die beide Sichtweisen berücksichtigt, erkennt an, dass der Abhidhamma−Piṭaka in seiner endgültigen Form wahrscheinlich eine spätere Kompilation ist, seine konzeptionellen Wurzeln jedoch fest in den frühesten Lehren des Buddha verankert sind. Die analytische Methode und die listenartigen Zusammenfassungen (mātikā), die den Abhidhamma charakterisieren, finden sich bereits in den Suttas. Insbesondere der Aṅguttara Nikāya (die „Sammlung der nummerierten Lehrreden“) gilt als direkter Vorläufer des Abhidhamma-Stils. Seine Gliederung nach numerischen Schemata (das Buch der Einser, das Buch der Zweier usw.) und seine Tendenz, Lehrpunkte in systematischen Listen zu präsentieren, bilden die Keimzelle für die spätere, umfassendere Systematisierung im Abhidhamma. Das Abhidhamma-Buch Puggalapaññatti beispielsweise ist im Wesentlichen eine Ausarbeitung von Personen-Typologien, die direkt aus dem Aṅguttara Nikāya entnommen sind. Suttas wie AN 4.87-90, die verschiedene Asketen-Typen klassifizieren, oder AN 9.42-51, die die neun stufenweisen meditativen Errungenschaften beschreiben, zeigen bereits den analytischen und listenbasierten Stil, der im Abhidhamma zur Vollendung gebracht wurde.
Letztendlich, ob man den Abhidhamma als das wörtliche Diktat des Buddha oder als das Meisterwerk seiner brillantesten Schüler betrachtet, bleibt seine Stellung als monumentale, intern konsistente und tiefgründige Darlegung des Dhamma unbestritten. Für ein tiefes Verständnis des Theravāda-Pfades ist er von unschätzbarem Wert.
Glossar zentraler Pāli-Begriffe
Zum besseren Verständnis sind hier die wichtigsten Pāli-Begriffe aus diesem Artikel mit einer kurzen Erklärung aufgeführt.
- Abhidhamma: (wörtl. „Höhere Lehre“) Der dritte Korb des Pāli-Kanons; eine systematische, philosophische und psychologische Analyse der Lehre des Buddha.
- Akusala: Unheilsam, untüchtig, unheilsbringend. Bezieht sich auf Gedanken, Worte und Taten, die auf Gier, Hass und Verblendung basieren.
- Anattā: Nicht-Selbst, unpersönlich. Eines der drei Daseinsmerkmale; die Lehre, dass es kein permanentes, unveränderliches Selbst oder eine Seele gibt.
- Anicca: Vergänglich, unbeständig. Eines der drei Daseinsmerkmale; die Eigenschaft aller bedingten Phänomene, zu entstehen und zu vergehen.
- Asaṅkhata: Das Unbedingte, Ungeformte. Ein Synonym für Nibbāna, das einzige Phänomen, das nicht aus Bedingungen entsteht.
- Buddhavacana: Das Wort des Buddha; die authentische Lehre.
- Cetasika: Geistesfaktor, mentaler Begleiter. Die 52 mentalen Faktoren, die zusammen mit dem Bewusstsein (citta) entstehen und ihm seinen Charakter verleihen.
- Citta: Bewusstsein, Geist. Der fundamentale Akt des Erkennens eines Objekts.
- Dhamma: Kann (1) die Lehre des Buddha, (2) die kosmische Wahrheit/Gesetzmäßigkeit oder (3) im Abhidhamma-Kontext ein letztes, irreduzibles Phänomen der Realität bedeuten.
- Dosa: Hass, Abneigung, Aversion. Eine der drei Wurzeln des Unheilsamen.
- Dukkha: Leiden, Leidhaftigkeit, Unbefriedigendheit. Eines der drei Daseinsmerkmale; die grundlegende Erfahrung des Leidens in allen Formen.
- Khandha: Aggregat, Daseinsgruppe. Die fünf Gruppen (Körperlichkeit, Gefühl, Wahrnehmung, Geistesformationen, Bewusstsein), aus denen die konventionelle „Person“ zusammengesetzt ist.
- Kiriya: Funktional, wirkungslos (in Bezug auf Karma). Eine Klasse von Bewusstsein (z.B. bei einem Arahant), das weder heilsame noch unheilsame karmische Resultate erzeugt.
- Kusala: Heilsam, tüchtig, heilsbringend. Bezieht sich auf Gedanken, Worte und Taten, die frei von Gier, Hass und Verblendung sind.
- Lobha: Gier, Anhaftung, Verlangen. Eine der drei Wurzeln des Unheilsamen.
- Mahā−bhūta: Die vier Großen Elemente (Festigkeit, Kohäsion, Temperatur, Bewegung), die die Grundlage aller Materie bilden.
- Mātikā: Matrix, Inhaltsverzeichnis. Eine Liste von Lehrpunkten, die als Gerüst für die Analyse im Abhidhamma dient.
- Moha: Verblendung, Unwissenheit. Eine der drei Wurzeln des Unheilsamen.
- Nibbāna: (Sanskrit: Nirwana) Das Erlöschen; das höchste Ziel der buddhistischen Praxis, die Befreiung vom Leiden und dem Kreislauf der Wiedergeburten.
- Paramattha−desanā: Lehre im absoluten/ultimativen Sinn. Die Lehrmethode des Abhidhamma.
- Paramattha−sacca: Absolute oder letzte Wahrheit. Die Realität, wie sie ist, zerlegt in ihre unpersönlichen Bestandteile.
- Paccaya: Bedingung, Relation. Im Paṭṭhāna werden 24 Arten von bedingten Beziehungen analysiert.
- Paṭiccasamuppāda: Bedingte Entstehung, Abhängiges Entstehen. Das Gesetz, das erklärt, wie Phänomene in Abhängigkeit von anderen Bedingungen entstehen.
- Piṭaka: (wörtl. „Korb“) Eine der drei Hauptabteilungen des Pāli-Kanons.
- Rūpa: Materie, Körperlichkeit, Form. Die 28 Arten von physischen Phänomenen.
- Saṅkhata: Das Bedingte, Geformte. Bezieht sich auf alle Phänomene (citta,cetasika,rūpa), die aufgrund von Bedingungen entstehen und vergehen.
- Saññā: Wahrnehmung, Erkennen. Einer der universellen Geistesfaktoren und eines der fünf Aggregate.
- Sutta: Lehrrede. Eine Rede des Buddha oder eines seiner Hauptschüler, wie sie im Sutta−Piṭaka gesammelt ist.
- Tipiṭaka: (wörtl. „Drei Körbe“) Der Pāli-Kanon in seiner Gesamtheit (Vinaya−,Sutta−,Abhidhamma−Piṭaka).
- Vedanā: Gefühl, Empfindung (angenehm, unangenehm oder neutral). Einer der universellen Geistesfaktoren und eines der fünf Aggregate.
- Vipassanā: Einsichtsmeditation. Die Praxis der direkten Beobachtung der Realität, um ihre drei Daseinsmerkmale zu erkennen.
- Vipāka: Resultat, karmische Frucht. Bewusstseinsmomente, die das Ergebnis vergangener heilsamer oder unheilsamer Taten sind.
- Vohāra−desanā: Lehre in konventioneller Sprache. Die Lehrmethode, die hauptsächlich im Sutta−Piṭaka verwendet wird.
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Der Vinaya ist das ethische Fundament der buddhistischen Gemeinschaft. Doch sie ist weit mehr als eine bloße Sammlung von Regeln für Ordinierte. Erforsche hier die tiefen Prinzipien von Mitgefühl und Weisheit, die der Vinaya zugrunde liegen. Verstehe ihren Zweck, das harmonische Zusammenleben zu fördern, und entdecke, wie ihre Geisteshaltung auch für Laienpraktizierende ein wertvoller Kompass für ein heilsames Leben (Sīla) sein kann.