
Das Zusammenspiel von Samatha und Vipassanā: Eine Analyse der kanonischen und kommentariellen Sichtweisen
Die zwei Flügel der Befreiung
Inhaltsverzeichnis
- Definition der Schlüsselkonzepte
- Die untrennbare Verbindung als Kern der Lehre
- Methodische Abgrenzung: Kanonische vs. Kommentarielle Perspektive
- Die drei Pfade der Entwicklung: Modelle des Zusammenspiels
- Die Thematik in den großen Nikāya-Sammlungen
- Synthese und Abschluss: Die Einheit in der Vielfalt
- Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente
Im Herzen der buddhistischen Meditationslehre (bhāvanā) stehen zwei zentrale und untrennbar miteinander verbundene geistige Qualitäten: Samatha, die Entwicklung von Geistesruhe, und Vipassanā, die Kultivierung von Einsicht. Gemeinsam bilden sie den Kern des praktischen Weges, der zur Befreiung vom Leiden (dukkha) und zur Verwirklichung des höchsten Ziels, nibbāna, führt. Das harmonische Zusammenspiel dieser beiden Faktoren wird im Palikanon, der ältesten Sammlung buddhistischer Schriften, oft mit den zwei Flügeln eines Vogels verglichen: Beide sind für den Flug unerlässlich; keiner kann den anderen ersetzen. Dieser Artikel beleuchtet das komplexe und vielschichtige Verhältnis zwischen Samatha und Vipassanā, analysiert die unterschiedlichen Modelle ihrer Entwicklung, wie sie sich aus den kanonischen Texten und der späteren Kommentarliteratur ableiten lassen, und zeigt die Flexibilität des buddhistischen Pfades auf, der unterschiedlichen individuellen Veranlagungen Rechnung trägt.
Definition der Schlüsselkonzepte
Um das Zusammenspiel zu verstehen, ist eine klare Definition der beiden Begriffe unerlässlich.
Samatha (Geistesruhe), abgeleitet vom Pāli-Verb sammati (sich beruhigen), bezeichnet die Kultivierung eines ruhigen, unerschütterlichen, gesammelten und daher reinen Geisteszustandes. Das primäre Ziel der Samatha-Praxis ist die Entwicklung von Konzentration (samādhi), die als Einspitzigkeit des Geistes (cittass’ekaggatā) definiert wird. Durch diese Praxis werden die fünf geistigen Hindernisse (pañca nīvaraṇa) – sinnliches Begehren, Übelwollen, Trägheit und Mattheit, Unruhe und Sorge sowie skeptischer Zweifel – vorübergehend überwunden. Ein Geist, der von diesen Hindernissen befreit ist, wird klar, kraftvoll und formbar. In ihrer höchsten Ausprägung kann die Samatha-Praxis zu den meditativen Vertiefungen, den sogenannten jhānas, führen – tiefen Zuständen der Sammlung, die von Glückseligkeit (pīti), Freude (sukha) und Gleichmut (upekkhā) geprägt sind. Die Funktion von Samatha ist es, den Geist zu einer stabilen Plattform zu machen, einem geschärften Instrument, das für die anspruchsvolle Arbeit der Einsicht bereit ist.
Vipassanā (Einsicht), wörtlich „klares Sehen“ oder „besonderes Sehen“ (von vi- für „besonders“ oder „auseinander“ und passanā für „sehen“), ist die intuitive, durchdringende Weisheit (paññā), die die wahre Natur der Realität erkennt. Diese Einsicht ist nicht intellektueller oder philosophischer Natur, sondern eine direkte, erfahrungsbasierte Erkenntnis der drei universellen Daseinsmerkmale (tilakkhaṇa):
- Vergänglichkeit (anicca): die Einsicht, dass alle bedingten Phänomene, ob materiell oder geistig, einem ständigen Wandel unterworfen sind.
- Leidhaftigkeit (dukkha): die Einsicht, dass alles Vergängliche letztlich unbefriedigend und mit Leiden verbunden ist.
- Nicht-Selbst (anattā): die Einsicht, dass es in keinem Phänomen eine beständige, unabhängige und unveränderliche Seele oder ein Selbst gibt.
Vipassanā ist die transformative Kraft, die Unwissenheit (avijjā) entwurzelt und den Geist von den Fesseln der Anhaftung befreit. Sie ist der entscheidende Faktor, der zur Weisheit und letztlich zur vollständigen Befreiung führt.
Die untrennbare Verbindung als Kern der Lehre
In den Lehrreden des Buddha (Suttas) werden Samatha und Vipassanā nicht als konkurrierende oder voneinander unabhängige Meditationssysteme dargestellt. Vielmehr sind sie komplementäre Aspekte eines einzigen, integrierten Pfades – des Edlen Achtfachen Pfades. Samatha fällt unter die Gruppe der Konzentration (samādhi-kkhandha), die die Faktoren Rechte Anstrengung, Rechte Achtsamkeit und Rechte Konzentration umfasst. Vipassanā ist der Kern der Weisheitsgruppe (paññā-kkhandha), die Rechte Ansicht und Rechte Absicht beinhaltet. Eine Lehrrede im Aṅguttara Nikāya verdeutlicht diese untrennbare Beziehung:
„Werden zwei Dinge entwickelt, führen sie zum Wissen: Ruhe (samatha) und Einsicht (vipassanā). Wird die Ruhe entwickelt, welchen Nutzen bringt sie? Der Geist wird entwickelt. Wird der Geist entwickelt, welchen Nutzen bringt sie? Alle Gier wird aufgegeben. Wird die Einsicht entwickelt, welchen Nutzen bringt sie? Die Weisheit wird entwickelt. Wird die Weisheit entwickelt, welchen Nutzen bringt sie? Alle Unwissenheit wird aufgegeben.“
Diese Passage zeigt, dass die Reinigung des Geistes von Gier (durch Samatha) und die Befreiung von Unwissenheit (durch Vipassanā) zwei Seiten derselben Medaille sind. Der Geist wird durch Ruhe von den groben Befleckungen gereinigt und durch Einsicht von den subtilen Wurzeln des Leidens befreit.
Methodische Abgrenzung: Kanonische vs. Kommentarielle Perspektive
Eine entscheidende Differenzierung für das Verständnis des Themas liegt in der Unterscheidung zwischen den frühen kanonischen Texten (den Nikāyas) und der späteren, stark systematisierenden Kommentarliteratur, zu der das Abhidhamma Piṭaka und insbesondere der im 5. Jahrhundert n. Chr. verfasste Visuddhimagga („Der Pfad der Reinigung“) von Buddhaghosa gehören. In den Suttas des Palikanons werden Samatha und Vipassanā überwiegend als Qualitäten des Geistes beschrieben, die sich im Verlauf der Praxis organisch entfalten. Sie sind das Ergebnis der Kultivierung von Achtsamkeit (sati) und anderer Pfadfaktoren, nicht notwendigerweise getrennte, methodische Techniken. Der Fokus liegt auf einem ganzheitlichen Weg. Die spätere Kommentarliteratur, getrieben von dem Bedürfnis nach scholastischer Analyse und einem systematischen Lehrplan, tendierte dazu, diese beiden Qualitäten in distinkte Meditationspfade oder „Fahrzeuge“ (yāna) zu formalisieren. Der Visuddhimagga beispielsweise präsentiert Samatha und Vipassanā als zwei separate Techniken und systematisiert verschiedene Meditationsobjekte und -methoden, die entweder primär der Ruhe oder primär der Einsicht dienen sollen. Diese Entwicklung von integrierten Qualitäten hin zu separaten methodischen Systemen ist der historische Ursprung vieler moderner Debatten darüber, welcher Ansatz „besser“ oder „notwendiger“ sei. Ein tiefes Verständnis der Thematik erfordert daher die Anerkennung dieses historischen Wandels in der Perspektive. Die folgenden Abschnitte werden die aus dieser Entwicklung hervorgegangenen Modelle detailliert untersuchen und sie anhand der kanonischen Quellen überprüfen.
Die drei Pfade der Entwicklung: Modelle des Zusammenspiels
Aus den kanonischen und kommentariellen Texten lassen sich drei grundlegende Modelle für das Zusammenspiel von Samatha und Vipassanā ableiten. Diese Modelle sind keine sich gegenseitig ausschließenden Dogmen, sondern repräsentieren unterschiedliche Schwerpunkte und Herangehensweisen, die der Flexibilität der buddhistischen Lehre und den unterschiedlichen Neigungen der Praktizierenden Rechnung tragen.
Modell 1: Das sequenzielle Modell – Samatha als unerschütterliches Fundament
Beschreibung des Modells
Das sequenzielle Modell beschreibt einen Pfad, bei dem der Meditierende zunächst die Praxis der Geistesruhe (samatha-bhāvanā) kultiviert, um eine hohe Stufe der Konzentration und geistigen Stabilität zu erreichen. Das Ziel dieser ersten Phase ist oft die Erlangung der meditativen Vertiefungen, der jhānas. Ein Geist, der in den jhānas geschult ist, ist frei von den fünf Hindernissen, außerordentlich klar, kraftvoll und von tiefem inneren Frieden durchdrungen. Diese stabile und reine geistige Plattform wird dann als Grundlage (pādaka) oder Fundament genutzt, um die eigentliche Einsichtsarbeit zu leisten. Mit diesem hochgradig gesammelten Geist wendet sich der Praktizierende der Vipassanā-Praxis zu und untersucht die Natur der körperlichen und geistigen Phänomene, um deren Vergänglichkeit, Leidhaftigkeit und Nicht-Selbst-Natur direkt zu erkennen. Die Logik dieses Ansatzes ist intuitiv: So wie man den Grund eines Sees nur erkennen kann, wenn das Wasser ruhig und klar ist, kann der Geist die subtile Realität der Phänomene nur dann durchdringen, wenn er von den Wellen der Unruhe und den Trübungen der Begierde befreit ist.
Kanonische Belege und Analyse
Dieses Modell findet in den Suttas zahlreiche Belege. Viele Lehrreden beschreiben den Edlen Achtfachen Pfad in einer progressiven Abfolge, die mit Ethik (sīla) beginnt, über Konzentration (samādhi) zu Weisheit (paññā) führt, was eine sequenzielle Entwicklung impliziert. Ein expliziter kanonischer Beleg findet sich im Aṅguttara Nikāya 4.170, dem Yuganaddha Sutta. Dort beschreibt der ehrwürdige Ānanda vier Wege, auf denen Mönche und Nonnen die Arahantschaft (die höchste Stufe der Befreiung) erlangen. Der erste dieser Wege lautet:
„Da entwickelt ein Mönch die Einsicht, der die Geistesruhe vorausgegangen ist (samatha-pubbaṅgamaṁ vipassanaṁ bhāveti). Während er dies tut, entsteht in ihm der Pfad. Er pflegt diesen Pfad, entwickelt ihn und macht viel daraus. Dadurch gibt er die Fesseln auf und beseitigt die zugrundeliegenden Neigungen.“
Dieser Vers legitimiert unmissverständlich den Ansatz, bei dem Samatha der Vipassanā-Praxis vorangestellt wird. Andere Lehrreden beschreiben diesen Prozess im Detail. Es wird gelehrt, dass ein Praktizierender nach dem Erreichen und Verweilen in einem der jhānas aus diesem Zustand wieder auftaucht und die mentalen Faktoren, die während der Vertiefung präsent waren – wie Gefühl (vedanā), Wahrnehmung (saññā), Geistesformationen (saṅkhārā) und Bewusstsein (viññāṇa) – als vergänglich, leidhaft und nicht-selbst kontempliert. Ein klassisches Beispiel hierfür ist das Mahāsaḷāyatanika Sutta (MN 149). Obwohl dieser Text, wie später gezeigt wird, primär das integrierte Modell stützt, kann seine Struktur auch sequenziell interpretiert werden. Der Buddha erklärt, dass erst durch die Entwicklung der Faktoren des Edlen Achtfachen Pfades, einschließlich der Rechten Konzentration (sammā-samādhi, die oft mit den jhānas gleichgesetzt wird), der Geist fähig wird, die wahre Natur der sechs Sinnesgrundlagen und der daraus entstehenden Erfahrungen zu durchschauen und sich von der Anhaftung an sie zu lösen. Die Konzentration schafft die notwendige Voraussetzung für die befreiende Einsicht.
Modell 2: Das integrierte Modell – Die gepaarte Entwicklung (yuganaddha)
Beschreibung des Modells
Das integrierte Modell beschreibt die Kultivierung von Samatha und Vipassanā nicht als zwei aufeinanderfolgende Stufen, sondern als einen dynamischen, sich gegenseitig bedingenden und stärkenden Prozess. Der Pāli-Begriff für diesen Ansatz ist yuganaddha, was wörtlich „im Joch verbunden“ oder „gepaart“ bedeutet. In diesem Modell führt die Entwicklung von Ruhe zu tieferer Einsicht, und die gewonnene Einsicht wiederum vertieft und festigt die Ruhe. Sie sind wie zwei Tänzer, die sich in perfekter Harmonie bewegen, oder wie die bereits erwähnten zwei Flügel eines Vogels, die simultan und koordiniert arbeiten müssen, um den Vogel in die Höhe zu tragen. Dieser Ansatz vermeidet eine künstliche Trennung der beiden Qualitäten und spiegelt wider, wie sie in der meditativen Erfahrung oft untrennbar miteinander verwoben sind.
Analyse zentraler kanonischer Texte
Dieses Modell ist im Palikanon prominent vertreten und wird durch einige der wichtigsten Lehrreden zum Thema gestützt.
Aṅguttara Nikāya 4.170 – Yuganaddha Sutta (Gepaart)
Dieses Sutta ist der Schlüsseltext für das Verständnis der Flexibilität des buddhistischen Pfades. Wie bereits erwähnt, beschreibt Ānanda vier Wege zur Arahantschaft. Während der erste Weg das sequenzielle Modell stützt, beschreiben die nächsten beiden Wege alternative Abfolgen und die gepaarte Entwicklung. Der vierte Weg stellt eine besondere Variante dar. Die folgende Tabelle fasst diese vier Pfade zusammen und verdeutlicht die vom Kanon gebotene Vielfalt.
Pfad | Beschreibung (Pāli-Terminus) | Erläuterung der Praxis | Kanonische Bedeutung |
---|---|---|---|
1 | Samatha-pubbaṅgamaṁ vipassanaṁ bhāveti | „Zuerst wird die Geistesruhe (Samatha) entwickelt, die als stabile Basis für die nachfolgende Kultivierung der Einsicht (Vipassanā) dient.“ | Legitimiert das sequenzielle Modell (Samatha-zuerst). |
2 | Vipassanā-pubbaṅgamaṁ samathaṁ bhāveti | „Zuerst wird die Einsicht (Vipassanā) entwickelt, und auf dieser Grundlage entsteht und vertieft sich die Geistesruhe (Samatha).“ | Legitimiert ein alternatives sequenzielles Modell und stützt den sukkha-vipassanā-Ansatz. |
3 | Samatha-vipassanaṁ yuganaddhaṁ bhāveti | Geistesruhe und Einsicht werden untrennbar und parallel entwickelt. Sie bedingen und verstärken sich gegenseitig in einem dynamischen Prozess. | Stellt das Ideal des integrierten, „gepaarten“ Pfades dar. |
4 | Dhammuddhacca-viggahitaṁ mānasaṁ hoti | „Der Geist ist von einer Unruhe bezüglich der Lehre ergriffen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt legt sich diese Unruhe, der Geist sammelt sich (samādhi), und daraus entsteht der Pfad.“ | Beschreibt einen unkonventionelleren, eher kognitiv-intellektuell beginnenden Weg zur Sammlung und Einsicht. |
Der dritte Pfad, die yuganaddha-Entwicklung, repräsentiert das integrierte Modell in seiner reinsten Form. Der vierte Pfad ist besonders aufschlussreich. Der Begriff dhammuddhacca („Unruhe bezüglich der Lehre“) kommt im Kanon nur hier vor und ist daher von besonderem Interesse. Er beschreibt einen Geist, der durch das intensive Nachdenken und Ringen mit der Lehre (Dhamma) in einen Zustand der Agitation gerät. Kommentatoren und moderne Gelehrte spekulieren, dass dies den Weg eines Praktizierenden beschreiben könnte, der sich primär intellektuell mit den Lehren auseinandersetzt. Die intensive mentale Energie, die in das Verstehen der Lehre investiert wird, kann an einem Punkt der Erschöpfung des konzeptuellen Denkens in eine kraftvolle Form der Sammlung (samādhi) umschlagen, aus der dann der Pfad der Einsicht geboren wird. Dieser Weg legitimiert eine Herangehensweise, die für viele moderne Sucher relevant ist, die ihren Zugang zum Buddhismus zunächst über das Studium und die philosophische Auseinandersetzung finden. Er zeigt, dass selbst intellektuelle Unruhe ein Sprungbrett für tiefe meditative Erfahrung sein kann.
Samyutta Nikāya 35.245 – Koṭṭhika Sutta (auch als Kiṁsuka Sutta bekannt)
In dieser Lehrrede wird die Beziehung zwischen Samatha und Vipassanā durch eine eindrucksvolle Parabel illustriert. Der Körper wird mit einer Festung mit sechs Toren (den sechs Sinnen) verglichen. Die Achtsamkeit ist der wachsame Torwächter. Samatha und Vipassanā werden als ein „schnelles Botenpaar“ (sīghadūtayugaṁ) beschrieben. Diese Boten überbringen dem „Kommandanten der Festung“ (dem Bewusstsein) einen „genauen Bericht“ (yathābhūtaṁ paṭivedenti) über die Realität. Dieser Bericht ist nibbāna, und der Weg, den die Boten nehmen, ist der Edle Achtfache Pfad. Das Bild des „Botenpaares“ unterstreicht ihre untrennbare, kooperative und dynamische Funktion. Sie arbeiten zusammen, um die befreiende Botschaft zu übermitteln.
Majjhima Nikāya 149 – Mahāsaḷāyatanika Sutta (Die große Lehrrede an den sechsfachen Bereich)
Dieser Text bietet einen der klarsten und stärksten Belege für das integrierte Modell. Der Buddha erklärt, wie die korrekte Betrachtung der Sinneserfahrungen zur Entwicklung des gesamten Edlen Achtfachen Pfades führt. Wenn ein Praktizierender die sechs inneren und äußeren Sinnesgrundlagen (Auge und Form, Ohr und Ton etc.) und die daraus entstehenden Kontakte, Gefühle und Bewusstseinszustände als das erkennt, was sie wirklich sind – vergänglich und nicht-selbst –, dann wird er von der Gier und Anhaftung befreit. Für eine solche Person, so der Buddha, entwickeln sich die Pfadfaktoren harmonisch. Er schließt mit der entscheidenden Aussage:
„In ihm schreiten diese beiden Phänomene gepaart voran: Geistesruhe und Einsicht (Tassimā dve dhammā yuganaddhā).“
Weiterhin erklärt der Buddha, dass Samatha und Vipassanā die Qualitäten sind, die durch direktes Wissen entwickelt werden müssen, während Unwissenheit und Gier aufgegeben und Wissen und Befreiung verwirklicht werden müssen. Diese Lehrrede stellt das gepaarte Voranschreiten von Ruhe und Einsicht als direktes Ergebnis der korrekten Achtsamkeitspraxis dar und verankert das integrierte Modell tief in der kanonischen Lehre.
Modell 3: Der Pfad der „Trockenen Einsicht“ (sukkha-vipassanā)
Beschreibung des Modells
Das dritte Modell ist der Pfad des sukkha-vipassaka, des „trockenen Einsicht-Praktizierenden“. Der Begriff „trocken“ (sukkha) bedeutet hier, dass dieser Pfad ohne die „Befeuchtung“ oder die tiefen Glückseligkeitszustände der meditativen Vertiefungen (jhāna) beschritten wird. Dieser Ansatz stellt die direkte Kultivierung von Vipassanā in den Vordergrund, ohne die formale Entwicklung der voll ausgebildeten jhānas als zwingende Voraussetzung anzusehen. Es ist ein Weg, der sich auf die unmittelbare Untersuchung der Realität durch Achtsamkeit konzentriert.
Die notwendige Rolle der Konzentration
Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis, dass „trockene Einsicht“ die völlige Abwesenheit von Konzentration bedeutet. Dies ist unzutreffend. Der Palikanon und die Kommentare sind sich einig, dass ein gewisses Maß an Konzentration für die Entwicklung von Einsicht unerlässlich ist. Der Unterschied liegt in der Art und Tiefe der Konzentration. Anstelle der tiefen und anhaltenden Absorptionskonzentration (appanā samādhi) der jhānas stützt sich der sukkha-vipassanā-Pfad auf die sogenannte Momentkonzentration (khaṇika samādhi). Diese Konzentration ist die Fähigkeit, den Geist von Moment zu Moment auf das wechselnde Meditationsobjekt (z.B. das Heben und Senken der Bauchdecke, die Empfindungen im Körper, aufkommende Gedanken) zu fokussieren. Obwohl sie flüchtiger ist als die jhāna-Konzentration, ist sie stark genug, um die geistigen Hindernisse im jeweiligen Moment zu unterdrücken und ein klares Erkennen der Daseinsmerkmale zu ermöglichen.
Kanonische Grundlagen
Obwohl der Begriff sukkha-vipassaka selbst nicht im Sutta-Piṭaka vorkommt, lässt sich das Modell aus Lehrreden ableiten, die einen direkten Weg der Achtsamkeit und Einsicht betonen. Der Prototyp für diesen Ansatz ist das Majjhima Nikāya 10 – Satipaṭṭhāna Sutta (Die Lehrrede über die Grundlagen der Achtsamkeit). Dieses Sutta wird vom Buddha als „der einzige Weg“ (ekāyano maggo) zur Reinigung der Wesen und zur Überwindung des Leidens vorgestellt. Es leitet den Praktizierenden an, vier Bereiche der Erfahrung ununterbrochen zu beobachten (anupassanā): den Körper (kāya), die Gefühle (vedanā), den Geist (citta) und die Geistesobjekte oder Prinzipien (dhammā). Durch die achtsame Beobachtung des ständigen Entstehens und Vergehens (samudaya-vaya-dhammānupassī) innerhalb dieser vier Bereiche entwickelt der Praktizierende direkt die Einsicht in anicca, dukkha und anattā. Bemerkenswerterweise werden die jhānas im Satipaṭṭhāna Sutta nicht als zwingende Voraussetzung für den Beginn dieser Praxis genannt. Die Praxis der Achtsamkeit selbst, wenn sie mit Eifer, klarem Verstehen und Achtsamkeit ausgeführt wird, führt zur Überwindung von Gier und Trauer und somit zu einem Zustand ausreichender geistiger Sammlung, der die Einsicht ermöglicht. Dies liefert die kanonische Grundlage für einen Pfad, der die Einsicht direkt durch Achtsamkeit kultiviert.
Die entscheidende Rolle der Kommentarliteratur
Während die kanonischen Grundlagen für den sukkha-vipassanā-Pfad eher implizit sind, ist es die spätere Kommentarliteratur, allen voran der Visuddhimagga, die dieses Modell systematisiert, theoretisch untermauert und damit popularisiert hat. Buddhaghosas monumentales Werk fungierte wie ein systematisierender Filter, der die vielfältigen und oft kontextabhängigen Lehren der Suttas in einen strukturierten, umfassenden Lehrplan goss. Der Visuddhimagga leistet für den trockenen Einsichtspfad zweierlei:
- Theoretische Fundierung: Er definiert und legitimiert explizit die khaṇika samādhi (Momentkonzentration) als eine für die Einsichtsarbeit ausreichende Form der Konzentration. Der Text stellt klar, dass „keine Einsicht ohne momentane Konzentration zustande kommt“ und unterscheidet diesen Weg von dem des „Gelassenheits-Fahrzeugs“ (samatha-yānika), der die jhānas erfordert.
- Systematisierung der Praxis: Er unterscheidet klar zwischen Praktizierenden, deren Fahrzeug die Gelassenheit ist, und solchen, deren Fahrzeug die Einsicht ist (vipassanā-yānika). Für letztere beschreibt er einen Pfad, der direkt mit der Analyse von Geist und Materie (nāma-rūpa) beginnt, gestützt auf die Momentkonzentration.
Durch diese klare Systematisierung gab der Visuddhimagga dem sukkha-vipassanā-Ansatz ein starkes doktrinäres Fundament. Die modernen Vipassanā-Bewegungen, die im 20. Jahrhundert in Asien entstanden und sich weltweit verbreitet haben, stehen in direkter intellektueller und praktischer Nachfolge dieser kommentariellen Tradition. Sie betonen oft einen reinen Einsichtsansatz, der auf der Praxis des satipaṭṭhāna basiert und die jhānas als optional oder sogar als möglichen Umweg betrachtet. Ohne die Systematisierung durch den Visuddhimagga hätte dieser Ansatz wahrscheinlich nicht die gleiche Prominenz und Legitimität in der Theravāda-Tradition erlangt.
Die Thematik in den großen Nikāya-Sammlungen
Die Art und Weise, wie das Thema Samatha und Vipassanā in den großen Sammlungen des Sutta-Piṭaka behandelt wird, liefert weitere wichtige Hinweise auf seine ursprüngliche Bedeutung.
Aṅguttara Nikāya (Die Angereihte Sammlung)
Die Struktur des Aṅguttara Nikāya, der die Lehrreden nach der Anzahl der behandelten Themen ordnet (Einer-Buch, Zweier-Buch etc.), erweist sich als idealer Ort, um die Vielfalt der spirituellen Pfade darzulegen. Das bereits ausführlich analysierte AN 4.170 (Yuganaddha Sutta) aus dem Vierer-Buch ist hierfür das beste Beispiel. Indem Ānanda genau „vier“ Wege zur Befreiung aufzählt, verankert er die Pluralität der Herangehensweisen fest im Kanon. Die numerische Struktur des AN verleiht der Idee, dass es nicht nur einen einzigen, starren Weg gibt, sondern verschiedene gültige methodische Schwerpunkte, eine besondere Autorität.
Samyutta Nikāya (Die Gruppierte Sammlung)
Im Gegensatz zum Aṅguttara Nikāya findet sich im Samyutta Nikāya, der die Lehrreden thematisch gruppiert, kein eigenes Kapitel (saṃyutta), das explizit dem Thema „Samatha und Vipassanā“ gewidmet ist. Diese Abwesenheit ist jedoch kein Versäumnis, sondern ein äußerst aussagekräftiger Befund. Sie deutet darauf hin, dass die frühen Zusammensteller des Kanons Samatha und Vipassanā nicht als ein separates Thema über den Pfad betrachteten, sondern als integrale, untrennbare Bestandteile des Pfades selbst. Die Konzepte sind stattdessen tief in die zentralen thematischen Kapitel des Samyutta Nikāya eingewoben:
- Im Magga Saṃyutta (SN 45), das den Edlen Achtfachen Pfad behandelt, sind Rechte Konzentration (sammā-samādhi, der Bereich von Samatha) und Rechte Ansicht/Rechte Absicht (sammā-diṭṭhi/sammā-saṅkappa, der Bereich von Vipassanā) untrennbare Glieder desselben Pfades.
- Im Bojjhaṅga Saṃyutta (SN 46), das die sieben Glieder des Erwachens beschreibt, bilden die beruhigenden Faktoren – Ruhe (passaddhi), Konzentration (samādhi) und Gleichmut (upekkhā) – ein Gegengewicht zu den aktivierenden Faktoren wie der Ergründung der Daseinsgesetze (dhammavicaya), Energie (viriya) und Entzücken (pīti). Das Ziel ist ein dynamisches Gleichgewicht dieser Qualitäten.
- Im Indriya Saṃyutta (SN 48), das die fünf geistigen Fähigkeiten behandelt, arbeiten die Fähigkeit der Konzentration (samādhindriya) und die Fähigkeit der Weisheit (paññindriya) zusammen.
Die Organisationsstruktur des Samyutta Nikāya selbst ist somit der stärkste Beleg für das integrierte Modell. Samatha und Vipassanā sind keine externen Werkzeuge, die man auf den Pfad anwendet; sie sind die innere Dynamik des Pfades, verwoben in sein innerstes Gefüge.
Synthese und Abschluss: Die Einheit in der Vielfalt
Die Analyse der kanonischen und kommentariellen Quellen zeigt ein vielschichtiges Bild des Zusammenspiels von Samatha und Vipassanā. Anstatt eines einzigen, dogmatischen Modells offenbart die buddhistische Lehre eine bemerkenswerte Flexibilität und Anpassungsfähigkeit.
Zusammenfassende Gegenüberstellung der Modelle
Die Untersuchung hat drei primäre Modelle herausgearbeitet:
- Das sequenzielle Modell, bei dem eine tiefgreifende Ruhe als Fundament für die Einsicht dient, findet seine Legitimation direkt im Kanon, insbesondere im Yuganaddha Sutta.
- Das integrierte Modell der gepaarten Entwicklung (yuganaddha) wird ebenfalls durch zentrale Lehrreden wie das Yuganaddha Sutta, das Koṭṭhika Sutta und das Mahāsaḷāyatanika Sutta gestützt und scheint in der Struktur des Samyutta Nikāya als grundlegendes Prinzip auf.
- Das Modell der trockenen Einsicht (sukkha-vipassanā), das die Einsicht ohne die Notwendigkeit der jhāna-Vertiefungen betont, basiert auf der direkten Achtsamkeitspraxis des Satipaṭṭhāna Sutta und wurde entscheidend durch die Systematisierung im Visuddhimagga geprägt.
Diese Vielfalt ist kein Widerspruch, sondern ein Zeugnis für den pragmatischen Charakter der Lehre des Buddha.
Die Bedeutung der individuellen Veranlagung (carita)
Wie lässt sich diese Vielfalt erklären? Die spätere Kommentarliteratur, insbesondere der Visuddhimagga, führt das Konzept der unterschiedlichen individuellen Veranlagungen oder Temperamente (carita) ein. Es wird argumentiert, dass bestimmte Meditationsobjekte und -methoden für bestimmte Persönlichkeitstypen besser geeignet sind. So mag ein Mensch mit einem ruhigen, konzentrierten Temperament leichteren Zugang zum sequenziellen Pfad über die jhānas finden, während ein Mensch mit einem scharfen, analytischen Geist möglicherweise mehr vom direkten Einsichtsweg profitiert. Das Konzept des carita bietet einen plausiblen Rahmen, um zu verstehen, warum der Buddha seine Lehren oft an die spezifischen Bedürfnisse seiner Zuhörer anpasste. Der Pfad zur Befreiung ist keine Einheitslösung, sondern ein adaptiver Prozess, der die individuelle psychologische Konstitution des Praktizierenden als Ausgangspunkt nimmt.
Konklusion: Das harmonische Gleichgewicht als Ziel
Letztendlich transzendiert das Ziel des Pfades die Debatte über die Methode. Unabhängig davon, ob der Einstieg über die Kultivierung tiefer Ruhe, die direkte Einsicht oder eine gepaarte Entwicklung erfolgt, erfordert die vollständige und unumkehrbare Befreiung vom Leiden (nibbāna) die Verwirklichung eines perfekten und harmonischen Gleichgewichts von Samatha und Vipassanā. Ein Geist, der nur ruhig, aber nicht weise ist, bleibt in subtilen Anhaftungen an friedvolle Zustände gefangen. Ein Geist, der nur analysiert, aber nicht zur Ruhe kommt, bleibt in intellektueller Unruhe verstrickt. Im befreiten Geist eines Arahants sind Samatha und Vipassanā keine getrennten Techniken mehr, sondern die natürlichen, vereinten Ausdrucksformen eines Geistes, der sowohl unerschütterlich still als auch vollkommen klar ist. Sie sind die beiden Flügel, die den Vogel ans Ziel getragen haben und nun in der grenzenlosen Weite der Befreiung ruhen. Der gewählte Pfad ist der Weg dorthin, doch das Ziel ist die Vereinigung dieser beiden befreienden Kräfte.
Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente
- Palikanon.com
- SuttaCentral
- Access to Insight
- Dhamma Wheel Buddhist Forum
- Pure Dhamma
- dhammatalks.org
- Visuddhimagga – The Path of Purification (Internet Archive)
- Abhidhamma.com
- Vipassana Fellowship
- Buddhist Education Centre
- Mindworks
- Bhante Suddhāso
- Wikipedia (Englisch)
- Wikipedia (Deutsch)
- Schatztruhe Palikanon
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Brahmavihārā (4 Unermessliche – Übersicht)
Hier erhältst du einen Überblick über die vier Brahmavihārā, die „Göttlichen Verweilungszustände“, die auch als die Unermesslichen (Appamaññā) bekannt sind. Verstehe das Gesamtkonzept von Mettā (Liebende Güte), Karuṇā (Mitgefühl), Muditā (Mitfreude) und Upekkhā (Gleichmut). Erfahre, warum ihre Kultivierung dein Herz öffnet, hilft, negative Geisteszustände zu überwinden und als „unermesslich“ gilt, da sie grenzenlos auf alle Wesen ausgedehnt werden soll.