Der weitere Pfad

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Der weitere Pfad: Vom Stromeintritt zur Arahantschaft

Nach dem ersten Ufer – die Reise zur vollständigen Befreiung

Der Stromeintritt, Sotāpatti, ist ein monumentaler Wendepunkt auf dem spirituellen Pfad. Es ist der Moment, in dem das Auge des Dhamma (dhammacakkhu) sich öffnet und der Praktizierende zum ersten Mal die unbedingte Wahrheit, Nibbāna, direkt erblickt. Mit diesem Durchbruch wird ein gewöhnlicher Weltling (puthujjana) zu einem Edlen (ariya), dessen Weg zur endgültigen Befreiung unumkehrbar geworden ist. Doch dieser entscheidende Moment ist nicht das Ende des Weges, sondern sein gesicherter Anfang.

Man kann den Stromeintritt mit dem Lösen eines unkündbaren Tickets für eine lange Reise vergleichen. Das Ziel, die vollständige Befreiung, ist nun garantiert. Die Reise wird maximal sieben weitere Leben in den menschlichen oder himmlischen Sphären dauern, und eine Wiedergeburt in niederen Leidenswelten ist für immer ausgeschlossen. Das Ticket ist gelöst, doch die Reise muss noch angetreten und vollendet werden.

Die Frage, die sich für den Stromeingetretenen (Sotāpanna) stellt, lautet: „Was nun? Wie sieht der weitere Weg aus?“ Der Buddha hat für diese Reise eine präzise und verlässliche Landkarte hinterlassen: die Lehre von den Zehn Fesseln (dasa saṃyojanāni). Das Pāli-Wort saṁyojana bedeutet wörtlich „Joch“ oder „Verbindung“; es sind die geistigen Ketten, die uns an den leidvollen Kreislauf der Wiedergeburten (saṁsāra) binden. Der Pfad zur Befreiung ist ein systematischer Prozess, in dem diese Fesseln erkannt, geschwächt und schließlich endgültig durchtrennt werden.

Die Sicherheit des Stromeingetretenen beruht nicht auf blindem Glauben, sondern auf einem fundamentalen kognitiven Wandel. Durch das direkte Sehen der Realität, wie sie ist, werden die ersten drei Fesseln – die konzeptueller Natur sind – zerstört:

  • Persönlichkeitsglaube (sakkāya-diṭṭhi): Die tief verwurzelte, aber irrige Annahme, dass in den vergänglichen Körper- und Geistprozessen ein beständiges, separates „Ich“ zu finden sei.
  • Skeptischer Zweifel (vicikicchā): Die Unsicherheit über den Buddha, seine Lehre und den Weg zur Befreiung. Da die Wahrheit des Pfades persönlich erfahren wurde, löst sich dieser Zweifel auf.
  • Hängen an Regeln und Riten (sīlabbata-parāmāsa): Der Glaube, dass äußere Rituale oder starre Regeln allein zur Läuterung führen können. Der Praktizierende versteht nun, dass nur die innere Arbeit des Edlen Achtfachen Pfades zur Befreiung führt.

Mit diesem neuen, unerschütterlichen Fundament beginnt die eigentliche Reise, die von den groben emotionalen Verunreinigungen zu den subtilsten Schichten der Anhaftung führt. Im Saṁyojana Sutta (AN 10.13) unterteilt der Buddha die zehn Fesseln in zwei Gruppen: die fünf niederen Fesseln (pañcorambhāgiyāni saṃyojanāni), die an die Sinnenwelt binden, und die fünf höheren Fesseln (pañcuddhambhāgiyāni saṃyojanāni), die an feinere Daseinsformen ketten. Der weitere Pfad ist nichts anderes als das schrittweise Abwerfen dieser verbleibenden sieben Fesseln.

Die Landkarte der Befreiung: Die Zehn Fesseln und die Vier Stufen des Erwachens

Der Weg zur Arahantschaft ist kein willkürlicher Prozess, sondern folgt einer klaren psychologischen Logik. Er schreitet von der Korrektur fundamentaler Ansichten über die Läuterung grober Emotionen bis hin zur Überwindung der subtilsten Anhaftungen an die Existenz selbst voran. Die folgende Tabelle bietet eine Übersicht über diesen progressiven Pfad und dient als Referenz für die detaillierteren Erklärungen der einzelnen Stufen.

Fessel (Saṁyojana) Pāli Stufe 1: Stromeingetretener (Sotāpanna) Stufe 2: Einmalwiederkehrer (Sakadāgāmī) Stufe 3: Nichtwiederkehrer (Anāgāmī) Stufe 4: Heiliger (Arahant)
Fünf niedere Fesseln, Pañcorambhāgiyāni
1. Persönlichkeitsglaube sakkāya-diṭṭhi Beseitigt Beseitigt Beseitigt Beseitigt
2. Skeptischer Zweifel vicikicchā Beseitigt Beseitigt Beseitigt Beseitigt
3. Hängen an Riten & Regeln sīlabbata-parāmāsa Beseitigt Beseitigt Beseitigt Beseitigt
4. Sinnliches Begehren kāma-rāga Vorhanden Abgeschwächt Beseitigt Beseitigt
5. Übelwollen / Groll byāpāda / paṭigha Vorhanden Abgeschwächt Beseitigt Beseitigt
Fünf höhere Fesseln, Pañcuddhambhāgiyāni
6. Begehren nach Formexistenz rūpa-rāga Vorhanden Vorhanden Vorhanden Beseitigt
7. Begehren nach forml. Existenz arūpa-rāga Vorhanden Vorhanden Vorhanden Beseitigt
8. Dünkel / Einbildung māna Vorhanden Vorhanden Vorhanden Beseitigt
9. Unruhe / Aufgeregtheit uddhacca Vorhanden Vorhanden Vorhanden Beseitigt
10. Unwissenheit avijjā Vorhanden Vorhanden Vorhanden Beseitigt

Dieser strukturierte Prozess der Läuterung ist wie das Reinigen von Gold, ein Gleichnis, das der Buddha im Aṅguttara Nikāya verwendet. Zuerst werden die groben Verunreinigungen entfernt, dann die feineren, bis schließlich das reine, leuchtende Metall zum Vorschein kommt.

Stufe 2: Der Einmalwiederkehrer (Sakadāgāmī) – Die groben Leidenschaften abschwächen

Nachdem das Fundament der Rechten Ansicht gelegt ist, wendet sich die Praxis den mächtigsten emotionalen Kräften zu, die den Geist an die Sinnenwelt fesseln. Die zweite Stufe des Erwachens, die des Einmalwiederkehrers (Sakadāgāmī), wird durch die signifikante Abschwächung (tanutta) der nächsten beiden Fesseln erreicht. Der Name Sakadāgāmī bedeutet wörtlich „der einmal Wiederkehrende“. Dies verweist darauf, dass ein solcher Edler nach dem Tod höchstens noch einmal in die Sinnenwelt (kāma-loka) wiedergeboren wird, um dort die vollständige Befreiung zu erlangen.

Die Arbeit auf dieser Stufe konzentriert sich auf die Abschwächung, nicht die vollständige Beseitigung, von:

  • a) Fessel 4: Sinnliches Begehren (Kāma-rāga): Dies ist die magnetische Anziehungskraft angenehmer Sinneserfahrungen – schöne Formen, wohlklingende Töne, angenehme Düfte, köstliche Geschmäcker und wohlige Berührungen. Während ein Sotāpanna noch starke Wellen des Verlangens erleben kann, hat dieses Begehren für den Sakadāgāmī seine obsessive und beherrschende Macht verloren. Gedanken des Verlangens können noch auftauchen, aber sie sind seltener, schwächer und vergehen schnell, ohne den Geist in Beschlag zu nehmen.
  • b) Fessel 5: Übelwollen (Byāpāda oder Paṭigha): Dies ist die abstoßende Kraft, die sich gegen unangenehme Erfahrungen richtet und sich als Ärger, Groll, Hass oder Irritation manifestiert. Beim Sakadāgāmī verlieren diese negativen Emotionen ihre zerstörerische Hitze. Ein Funke der Verärgerung mag kurz aufflackern, aber er entfacht kein loderndes Feuer des Zorns mehr. Der Geist ist grundlegend von Frieden und Wohlwollen geprägt.

Im Gleichnis vom Goldschmied aus dem Paṁsudhovaka Sutta (AN 3.101) entspricht diese Phase dem ersten Reinigungsschritt: „So wie ein Goldwäscher oder sein Lehrling zuerst die groben Unreinheiten im Golderz – Sand, Kies und Schmutz – auswäscht, so beseitigt auch ein Praktizierender, der auf den höheren Geist ausgerichtet ist, die groben Unreinheiten: schlechtes Verhalten in Körper, Rede und Geist.“

Die groben Leidenschaften von sinnlichem Begehren und Übelwollen sind der „Kies und Schmutz“ des Geistes. Ihre Abschwächung ist der entscheidende erste Schritt der emotionalen Läuterung, der den Weg für die tiefere und feinere Arbeit ebnet. Der Geist eines Sakadāgāmī ist bereits sehr rein, und die verbleibenden Leidenschaften sind nur noch wie Schatten ihrer früheren Macht.

Stufe 3: Der Nichtwiederkehrer (Anāgāmī) – Das Ende der sinnlichen Fesseln

Die dritte Stufe der Heiligkeit markiert einen tiefgreifenden und endgültigen Bruch mit der Sinnenwelt. Der Nichtwiederkehrer (Anāgāmī) ist jener Edle, der die Fesseln des sinnlichen Begehrens und des Übelwollens nicht nur abgeschwächt, sondern vollständig und an der Wurzel durchtrennt hat. Der Name Anāgāmī bedeutet „der Nicht-Wiederkehrende“, denn ein solcher Mensch wird nach dem Tod niemals mehr in die Sinnenwelt – weder als Mensch noch als Deva in den Sinneshimmeln – zurückkehren. Er hat die fünf niederen Fesseln (pañcorambhāgiyāni saṃyojanāni), die an diese Sphäre binden, restlos beseitigt.

Die Konsequenz dieses Durchbruchs ist ein Geist von außergewöhnlicher Reinheit und unerschütterlichem Frieden. Da die Anziehungskraft angenehmer Sinnesobjekte (kāma-rāga) und die Abstoßung unangenehmer Erfahrungen (byāpāda) erloschen sind, verweilt der Geist in einer tiefen Gleichmut gegenüber den Wechselfällen des Lebens. Der Buddha beschreibt im Potaliya Sutta (MN 54) die Gefahren der Sinnesfreuden mit eindringlichen Gleichnissen: Sie sind wie ein kahler Knochen, der einem hungrigen Hund zugeworfen wird und keine Sättigung bringt; wie eine brennende Fackel, die gegen den Wind getragen wird und den Träger verbrennt; oder wie geliehene Güter, die zurückgegeben werden müssen. Der Anāgāmī hat diese Gefahren so tief durchschaut, dass er die Fackel endgültig losgelassen hat.

Im Gleichnis vom Goldschmied (AN 3.101) entspricht diese Stufe der Beseitigung der mittleren und feinen Unreinheiten: „Nachdem die groben Unreinheiten beseitigt sind, wäscht der Goldwäscher die mittleren Unreinheiten aus – feinen Kies und groben Sand. Wenn diese beseitigt sind, wäscht er die feinen Unreinheiten aus – feinen Sand und schwarzen Staub. Danach bleibt nur noch der reine Goldstaub übrig.“ Der Geist des Anāgāmī ist wie dieser reine Goldstaub, befreit von allen Verunreinigungen, die aus der Sinnenwelt stammen.

Da der Anāgāmī nicht mehr in die Sinnenwelt zurückkehrt, führt sein Weg nach dem Tod in besondere, erhabene Daseinsbereiche, die als die Reinen Verweilungsstätten (Suddhāvāsa) bekannt sind. Dies sind fünf feinstoffliche Himmelswelten, die ausschließlich Nichtwiederkehrern vorbehalten sind. In dieser friedvollen Umgebung, frei von den Ablenkungen der Sinnlichkeit, vollenden sie den Pfad und erreichen das endgültige Nibbāna. Diese fünf Welten sind:

  • Aviha (die Unbeschwerten),
  • Atappa (die Sorgenfreien),
  • Sudassa (die Schönen),
  • Sudassī (die Klarsehenden) und
  • Akaniṭṭha (die Höchsten).

Die letzte Etappe: Die fünf höheren, subtilen Fesseln zur Arahantschaft

Obwohl der Geist des Anāgāmī von außergewöhnlicher Reinheit ist, ist er noch nicht vollständig befreit. Die Anhaftung an die Sinnenwelt ist überwunden, doch nun müssen die subtilsten Formen der Bindung an die Existenz selbst durchtrennt werden. Dies sind die fünf höheren Fesseln (pañcuddhambhāgiyāni saṃyojanāni), deren Beseitigung zur Arahantschaft führt.

Das Gleichnis vom Goldschmied (AN 3.101) beschreibt diese letzte Phase als den Schmelzprozess: „Wenn nur noch der Goldstaub übrig ist, gibt der Goldschmied ihn in einen Schmelztiegel. Er bläst darauf, schmilzt ihn und schmilzt ihn zusammen, bis alle Schlacke entfernt ist. Das Gold ist nun geschmolzen, geläutert, rein, geschmeidig, formbar und leuchtend. Welches Schmuckstück auch immer man daraus fertigen möchte, es wird seinen Zweck erfüllen.“

Dieser intensive, finale Läuterungsprozess im Feuer der Weisheit verbrennt die letzten, subtilsten Unreinheiten des Geistes:

Begehren nach feinkörperlicher Existenz (Rūpa-rāga): Dies ist die Anhaftung an die tiefen Glücks- und Ruhe-Zustände, die in den meditativen Vertiefungen der Form-Sphäre (rūpa-jhāna) erfahren werden. Der Meditierende hat die grobe Sinnlichkeit hinter sich gelassen, haftet aber nun an der verfeinerten, inneren Glückseligkeit der Konzentration. Selbst diese erhabenen Zustände werden zur Fessel, wenn sie nicht als bedingt, vergänglich und unpersönlich durchschaut werden.

Begehren nach formloser Existenz (Arūpa-rāga): Eine noch subtilere Fessel ist die Anhaftung an die grenzenlosen, formlosen Vertiefungen (arūpa-jhāna), wie die Sphäre des unendlichen Raumes oder des unendlichen Bewusstseins. Es ist der Wunsch, als reiner Geist zu existieren, frei von jeglicher Form. Dies ist die letzte Anhaftung an ein Werden, an eine zukünftige Existenz, sei sie auch noch so verfeinert.

Dünkel (Māna): Dies ist nicht grober Stolz, sondern die letzte, feine Neigung des Geistes, sich selbst zu verorten und zu vergleichen. Es ist der unterschwellige Gedanke „Ich bin“, der sich in Relation zu anderen manifestiert: „Ich bin besser“, „Ich bin schlechter“ oder „Ich bin gleich“. Es ist das letzte Echo eines Ich-Zentrums, das sich an der Existenz misst, selbst wenn die grobe Ich-Illusion längst durchschaut ist.

Unruhe (Uddhacca): Dies ist keine gewöhnliche Zerstreutheit oder Sorge, sondern eine tief sitzende, subtile Rastlosigkeit des Geistes. Es ist die letzte innere Vibration, die den Geist davon abhält, in absolute, unerschütterliche Stille zu fallen. Es ist die feine Tendenz des Bewusstseins, sich immer noch auf Objekte auszurichten, selbst wenn kein Begehren mehr vorhanden ist.

Unwissenheit (Avijjā): Dies ist die Wurzel aller Fesseln und der letzte Schleier, der die Wahrheit verhüllt. Es ist das fundamentale Nicht-Wissen um die Vier Edlen Wahrheiten und die wahre Natur der Wirklichkeit. Mit der endgültigen und restlosen Beseitigung dieser Unwissenheit ist der Geist vollständig und unwiderruflich befreit.

Fazit: Ein schrittweiser Prozess der vollständigen Befreiung

Der Weg vom Stromeintritt zur Arahantschaft ist ein klar strukturierter, logischer und schrittweiser Prozess der Läuterung. Er führt von der Beseitigung falscher Ansichten über die Zähmung grober Emotionen bis hin zur Entwurzelung der subtilsten geistigen Neigungen. Jede Stufe baut auf der vorhergehenden auf und bereitet den Geist auf die nächsttiefere Ebene der Befreiung vor.

Der Arahant, der Heilige, ist jener, der diese Reise vollendet hat. Er hat alle zehn Fesseln zerstört und die Last des Leidens endgültig abgelegt. In den Worten des Pāli-Kanons hat er „getan, was zu tun war“ (katakaraṇīyo), „die Bürde abgelegt“ (ohitabhāro), „das eigene Ziel erreicht“ (anuppattasadattho) und ist „durch rechtes Verstehen vollkommen befreit“ (sammadaññāvimutto). Sein Geist ist wie das fertig geläuterte Gold aus dem Gleichnis: vollkommen rein, strahlend und frei von jeder Schlacke. Er hat den Kreislauf der Wiedergeburt durchbrochen und Nibbāna verwirklicht – den unbedingten, todlosen Frieden, das endgültige Ende allen Leidens.

Im Ānāpānasati Sutta (MN 118) beschreibt der Buddha eine Versammlung seiner Schüler, in der sich Arahants, Anāgāmīs, Sakadāgāmīs und Sotāpannas befinden. Er bestätigt damit, dass dieser Pfad real ist, dass er von Menschen beschritten wurde und bis zu seinem glorreichen Ende beschritten werden kann. Es ist der Weg, der aus dem Dunkel ins Licht, aus der Gebundenheit in die Freiheit und aus dem Leiden in den unvergänglichen Frieden führt.

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Pfad & Ziel: Die buddhistische Landkarte zum Erwachen
Die buddhistische Lehre ist mehr als eine Philosophie – sie ist ein praktischer Weg mit einem klaren Ziel: der vollständigen Befreiung vom Leiden. Doch wie sieht dieser Weg konkret aus und was sind seine Meilensteine? Unsere Themenseite „Pfad & Ziel“ bietet dir eine detaillierte Landkarte des Erwachens. Entdecke die vier Stufen der Erleuchtung, den praktischen Weg zum entscheidenden Durchbruch des Stromeintritts und die weitere Reise bis zur Arahantschaft.