
Upekkhā – Gleichmut im Palikanon
Eine Einführung mit Lehrreden-Verweisen zur Kunst des Gleichmuts im frühen Buddhismus
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Upekkhā – Die Kunst des Gleichmuts im frühen Buddhismus
- Was ist Upekkhā? Definition und Erklärung
- Upekkhā im Kontext: Verbundene Konzepte
- Upekkhā in den Lehrreden: Ausgewählte Suttas aus DN und MN
- Weitere wichtige Textstellen zu Upekkhā im Palikanon
- Zusammenfassung und Ausblick
- Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente
1. Einleitung: Upekkhā – Die Kunst des Gleichmuts im frühen Buddhismus
Im Herzen der buddhistischen Lehre und Praxis steht die Kultivierung von Geisteszuständen, die zu innerem Frieden, Weisheit und letztendlicher Befreiung führen. Eine dieser zentralen Qualitäten ist Upekkhā, oft mit Gleichmut oder Gelassenheit übersetzt. Upekkhā repräsentiert einen Zustand tiefen inneren Gleichgewichts und mentaler Ausgeglichenheit, der es Praktizierenden ermöglicht, den Wechselfällen des Lebens – Freude und Leid, Gewinn und Verlust – mit Klarheit und Stabilität zu begegnen. Diese Qualität ist keine passive Haltung, sondern eine hochentwickelte Fähigkeit des Geistes, die eng mit Weisheit verbunden ist. Ihre Bedeutung wird durch ihre prominente Stellung in zentralen Lehrkonzepten des frühen Buddhismus unterstrichen, wie den vier „Göttlichen Verweilungszuständen“ (Brahmavihāras) und den sieben „Erleuchtungsgliedern“ (Bojjhaṅgas). Dieser Bericht zielt darauf ab, ein klares Verständnis von Upekkhā zu vermitteln und interessierten Lesern einen Weg zu den ursprünglichen Lehrreden im Palikanon zu weisen, die diese wichtige Geisteshaltung beleuchten.
2. Was ist Upekkhā? Definition und Erklärung
Kernbedeutung und Übersetzung
Der Pali-Begriff Upekkhā wird in deutschen Übersetzungen vielfältig wiedergegeben, unter anderem als Gleichmut, Gelassenheit, Gemütsruhe, Gleichgewicht, Unparteilichkeit oder Nicht-Anhaften. Pali-Wörterbücher definieren es oft als „hedonische Neutralität“, „Desinteresse“ oder den „Nullpunkt zwischen Freude und Leid“. Etymologisch setzt sich der Begriff aus der Vorsilbe upa (nahe bei, hinzu, auf etwas zu) und der Wurzel ikkh (sehen, betrachten) zusammen. Dies legt eine Bedeutung nahe wie „nahe dabei zusehen“, „genau hinsehen“ oder „gerecht betrachten“. Es impliziert eine Form des engagierten, aufmerksamen Beobachtens, das die Dinge so nimmt, wie sie sind, anstatt sich abzuwenden oder selektiv wahrzunehmen. Dies steht im Kontrast zu apekkha, das oft mit Verlangen, Sehnsucht oder einem „Wegsehen“ von der gegenwärtigen Realität hin zu einem begehrten Objekt übersetzt wird. Upekkhā beschreibt somit eine inklusive, nicht-diskriminierende Art des Sehens, die alles umfasst, was ins Blickfeld tritt.
Die unterschiedlichen Übersetzungen und Anwendungen von Upekkhā – mal als neutrale Empfindung, mal als ethische Haltung, mal als meditative Stille – deuten nicht auf eine Unklarheit des Begriffs hin, sondern auf seine kontextuelle Reichhaltigkeit. Upekkhā operiert auf verschiedenen Ebenen der buddhistischen Praxis: Es kann die grundlegende Nicht-Reaktivität gegenüber Sinneseindrücken beschreiben, die kultivierte emotionale Ausgeglichenheit gegenüber anderen Lebewesen, die tiefe Stabilität in meditativen Zuständen (jhāna) oder die von Weisheit getragene Unparteilichkeit des befreiten Geistes. Der gemeinsame Nenner ist stets die Freiheit von Störung durch Anziehung (rāga) und Abneigung (dosa). Entscheidend für das Verständnis ist jedoch, die jeweilige Grundlage (Unwissenheit oder Weisheit) und den Anwendungsbereich (Gefühl, ethische Haltung, Meditationszustand) zu unterscheiden.
Abgrenzung von Gleichgültigkeit
Eine zentrale Klarstellung in den buddhistischen Texten und Kommentaren betrifft die Abgrenzung von Upekkhā gegenüber bloßer Gleichgültigkeit, Apathie oder gefühlskalter Unempfindlichkeit. Gleichgültigkeit, manchmal als aññāṇa-upekkhā (auf Unwissenheit basierender Gleichmut) bezeichnet, entspringt oft einem Mangel an Interesse, Ignoranz oder subtiler Abneigung. Sie beinhaltet Werturteile und schließt Aspekte der Realität aus oder ignoriert sie. Sie wird als „naher Feind“ (āsanna-paccatthika) von Upekkhā betrachtet – eine Eigenschaft, die ihr oberflächlich ähnelt, aber ihrem Wesen subtil entgegensteht.
Echter Gleichmut im buddhistischen Sinne ist hingegen tief in Weisheit (paññā) und Verständnis verwurzelt. Er ist eine aktive, nicht-diskriminierende Qualität, die die Realität ohne Voreingenommenheit oder Bevorzugung umfasst. Es bedeutet Freiheit von selbstbezogenen Bezugspunkten und den Forderungen des Egos nach Vergnügen oder Status, jedoch keine Gleichgültigkeit gegenüber dem Wohlergehen anderer. Upekkhā wächst aus Wissen, während Gleichgültigkeit aus Ignoranz oder Egoismus erwächst.
Upekkhā als ethische Qualität und Geisteshaltung
Es ist wichtig zu verstehen, dass Upekkhā als eine der zu kultivierenden Tugenden (wie in den Brahmavihāras oder Bojjhaṅgas) eine ethische Qualität darstellt, die zur Gruppe der Geistesformationen (saṅkhāra-kkhandha) gehört. Sie sollte daher nicht mit dem neutralen Gefühl (adukkhamasukhā vedanā) verwechselt werden, das manchmal ebenfalls als upekkhā bezeichnet wird. Während neutrales Gefühl einfach eine Art von Empfindung ist (weder angenehm noch unangenehm), ist der ethische Gleichmut eine aktiv entwickelte Geisteshaltung.
Diese Haltung manifestiert sich als innere Ausgeglichenheit, unerschütterliche Geistesfreiheit und Stabilität angesichts der acht weltlichen Bedingungen (aṭṭhaloka dhamma): Gewinn und Verlust, Ansehen und Missachtung, Lob und Tadel, sowie Freude und Leid. Sie ermöglicht es, den Wechselfällen des Lebens mit innerer Ruhe und Klarheit zu begegnen, ohne von ihnen aus dem Gleichgewicht gebracht zu werden.
3. Upekkhā im Kontext: Verbundene Konzepte
3.1 Upekkhā als eine der vier Göttlichen Verweilungszustände (Brahmavihāra)
Die vier Brahmavihāras
Upekkhā ist prominent als einer der vier Brahmavihāras bekannt, auch „Göttliche Verweilungszustände“ oder Appamaññā („Unermesslichkeiten“) genannt. Diese vier sind:
- Mettā: Liebende Güte, Wohlwollen, Freundlichkeit – der Wunsch nach Glück und Wohlergehen für alle Wesen.
- Karuṇā: Mitgefühl – der Wunsch, dass alle leidenden Wesen frei von Leid sein mögen.
- Muditā: Mitfreude, anteilnehmende Freude – die Freude am Glück und Erfolg anderer, frei von Neid.
- Upekkhā: Gleichmut, Gelassenheit, Unparteilichkeit – die Fähigkeit, allen Wesen mit Ausgeglichenheit und Weisheit zu begegnen.
Diese vier Geisteshaltungen werden als „unermesslich“ bezeichnet, da sie in der Meditation und im täglichen Leben grenzenlos auf alle Wesen ohne Unterschied ausgedehnt werden sollen.
Die Rolle von Upekkhā
Innerhalb der Brahmavihāras nimmt Upekkhā eine besondere Stellung ein. Sie wird oft als die Krönung und der ausbalancierende Faktor der vier betrachtet. Upekkhā entsteht aus den anderen drei und vervollkommnet sie, indem sie sicherstellt, dass Mettā, Karuṇā und Muditā unparteiisch und frei von Anhaftung oder Abneigung bleiben. Sie verhindert, dass liebende Güte zu besitzergreifender Liebe oder Anhaftung wird, dass Mitgefühl in lähmende Trauer oder Verzweiflung umschlägt, und dass Mitfreude zu bloßer Aufregung, Vergleich oder Neid wird. Upekkhā fördert eine Haltung der Neutralität und Unparteilichkeit gegenüber allen Wesen, unabhängig davon, ob sie uns nahestehen, fremd sind oder uns feindlich gesinnt sind. Sie überwindet Groll und Zustimmung, Vorurteile und Voreingenommenheit. Sie hilft, Gier und Hass zu überwinden. Ihre „fernen Feinde“ sind Gier und Hass, während ihr „naher Feind“ die Gleichgültigkeit oder Apathie ist.
Die Beschreibung von Upekkhā als Höhepunkt und Vollendung der Brahmavihāras legt ein Entwicklungsmodell nahe. Die emotionalen Qualitäten (Mettā, Karuṇā, Muditā) müssen durch die von Weisheit getragene Unparteilichkeit (Upekkhā) geerdet und ausbalanciert werden, um wahrhaft „göttlich“ oder grenzenlos zu werden. Ohne Upekkhā laufen die anderen drei Gefahr, begrenzt, parteiisch oder instabil zu bleiben und sogar in ihre „nahen Feinde“ (wie Mitleid statt Mitgefühl) abzurutschen. Dies impliziert, dass wahre, befreiende Liebe und Mitgefühl die Entwicklung von Gleichmut erfordern, der auf einem Verständnis der Wirklichkeit (paññā) basiert. Die Metapher des Dachgiebels, der das Gerüst der ersten drei benötigt, unterstreicht diese strukturierende und stabilisierende Funktion.
Upekkhā und Weisheit (Paññā) im Brahmavihāra-Kontext
Der Gleichmut der Brahmavihāras ist untrennbar mit Weisheit (paññā) verbunden. Eine wichtige Facette dieser Weisheit ist das Verständnis, dass alle Wesen „Eigner ihrer Taten“ (kammassakā) sind – dass ihr Glück und Leid wesentlich von ihren eigenen vergangenen und gegenwärtigen Handlungen (kamma) abhängen. Dieses Verständnis ermöglicht es, die Situation anderer klar zu sehen und ihnen mit Wohlwollen und Mitgefühl zu begegnen, ohne von überwältigenden Emotionen oder dem unrealistischen Wunsch, alle äußeren Umstände kontrollieren zu können, mitgerissen zu werden. Upekkhā bedeutet hier nicht Desinteresse, sondern die Anerkennung der Grenzen des eigenen Handelns und der Eigenverantwortung jedes Wesens.
Die volle Entwicklung der Brahmavihāras, einschließlich Upekkhā, erfordert zudem eine solide Grundlage in ethischem Verhalten (sīla) und geistiger Sammlung (samādhi). Dies verortet Upekkhā als eine reife Errungenschaft auf dem buddhistischen Pfad, die auf der Integration von Herz und Geist beruht.
3.2 Upekkhā als eines der sieben Erleuchtungsglieder (Bojjhaṅga)
Die sieben Bojjhaṅgas
Upekkhā ist auch das letzte der sieben Erleuchtungsglieder (satta bojjhaṅgā), Faktoren, die zur Erleuchtung (bodhi) führen. Diese sieben sind:
- Sati: Achtsamkeit – das klare Gewahrsein der gegenwärtigen Erfahrung.
- Dhamma-vicaya: Wirklichkeitsergründung, Untersuchung der Phänomene – das weise Erforschen der Natur der erfahrenen Objekte.
- Viriya: Energie, Willenskraft – die Bemühung und Tatkraft auf dem Weg.
- Pīti: Freude, Verzückung – das freudige Interesse und die Begeisterung, die aus der Praxis entstehen.
- Passaddhi: Gestilltheit, Ruhe – die Beruhigung von Körper und Geist.
- Samādhi: Sammlung, Konzentration – die Einspitzigkeit und Stabilität des Geistes.
- Upekkhā: Gleichmut, Ausgeglichenheit – das vollkommene innere Gleichgewicht.
Die Funktion von Upekkhā im Bojjhaṅga-Kontext
Als siebtes und letztes Glied repräsentiert Upekkhā den Zustand vollkommener mentaler Ausgeglichenheit und Balance, der aus einem gut gesammelten Geist (samādhi) erwächst. Eine entscheidende Funktion von Upekkhā in diesem Kontext ist das Ausbalancieren der anderen Faktoren. Die Bojjhaṅgas können in eine energetisierende Gruppe (Dhamma-vicaya, Viriya, Pīti) und eine beruhigende Gruppe (Passaddhi, Samādhi, Upekkhā) unterteilt werden, wobei Sati (Achtsamkeit) als regulierender Faktor dient. Wenn der Geist durch übermäßige Energie, Untersuchung oder Freude unruhig und aufgewühlt (uddhacca) wird, soll der Praktizierende gezielt die beruhigenden Faktoren, insbesondere Passaddhi, Samādhi und eben Upekkhā, kultivieren, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Upekkhā sorgt dafür, dass der Geist stabil, unerschütterlich und nicht-reaktiv bleibt – eine notwendige Voraussetzung für das Aufkommen befreiender Einsicht (vipassanā).
Idealerweise sollte Upekkhā, ähnlich wie Sati, den gesamten Meditationsprozess als grundlegende Qualität durchdringen. Die Positionierung von Upekkhā als letztes Glied der Bojjhaṅgas unterstreicht seine Rolle als Kulminationspunkt des meditativen Verfeinerungsprozesses innerhalb dieses Systems. Es symbolisiert einen Geist, der sowohl energetisierende als auch beruhigende Zustände gemeistert und harmonisiert hat. Er hat eine stabile, nicht-reaktive Plattform erreicht, von der aus Einsicht (vipassanā) effektiv wirken kann, um Befreiung zu erlangen. Die spezifische Funktion, der Aufgewühltheit entgegenzuwirken, zeigt, dass Upekkhā entscheidend ist, um selbst subtile Hindernisse zu überwinden, die auch in fortgeschrittenen Meditationsstadien noch auftreten können. Es entsteht, wenn man den gesammelten Geist mit Gleichmut betrachtet (samādhitam cittaṁ sādhukaṁ ajjhupekkhitā hoti), was seine Entwicklung nach tiefer Konzentration anzeigt.
3.3 Weitere Aspekte von Upekkhā
Die Bedeutung von Upekkhā zeigt sich auch in weiteren zentralen Bereichen der Lehre:
- Upekkhā in den Jhānas (Vertiefungen): Gleichmut ist ein wesentliches Merkmal der höheren meditativen Vertiefungszustände (jhāna). Im dritten Jhāna tritt Upekkhā an die Stelle der intensiven Freude (pīti) und des Glücks (sukha) der ersten beiden Jhānas. Das vierte Jhāna wird explizit durch vollkommene Reinheit von Gleichmut und Achtsamkeit (upekkhā-sati-pārisuddhi) charakterisiert. Hier erreicht der Geist einen Zustand tiefer Stille und Ausgeglichenheit.
- Sechs-fache Upekkhā (Chaḷaṅg’upekkhā): Dieses Konzept bezieht sich auf die Entwicklung von Gleichmut in Bezug auf die sechs Arten von Sinneseindrücken – Gesehenes, Gehörtes, Gerochenes, Geschmecktes, Berührtes und Gedachtes. Der Praktizierende übt sich darin, auf angenehme oder unangenehme Sinnesobjekte weder mit Freude noch mit Traurigkeit oder Abneigung zu reagieren, sondern gleichmütig, achtsam und mit klarem Verständnis zu verweilen. Dies ist eine grundlegende Praxis der Sinnenzurückhaltung und Achtsamkeit im Alltag.
- Upekkhā als Vollkommenheit (Pāramī): In der Theravāda-Tradition wird Upekkhā als die zehnte der zehn Vollkommenheiten (pāramī) aufgeführt. Die Pāramīs sind Qualitäten, die ein Bodhisatta über lange Zeiträume kultiviert, um die Buddhaschaft zu erlangen. Upekkhā stellt hier die höchste Stufe der geistigen Reife dar, die Fähigkeit zu vollkommener Unparteilichkeit und Ausgeglichenheit zum Wohle aller Wesen.
Das wiederholte Auftreten von Upekkhā in diesen unterschiedlichen Kontexten – von der Reaktion auf Sinnesreize über die Brahmavihāras und Bojjhaṅgas bis hin zu den tiefsten meditativen Zuständen (Jhāna) und dem höchsten spirituellen Ziel (Pāramī) – verdeutlicht die Skalierbarkeit und fundamentale Natur dieses Prinzips. Es handelt sich nicht um eine einzelne, isolierte Praxis, sondern um ein Kernprinzip geistiger Balance, das auf allen Ebenen des buddhistischen Pfades kultiviert werden muss. Die Beherrschung von Nicht-Reaktivität und weiser Ausgeglichenheit ist somit zentral für das gesamte buddhistische Projekt der Befreiung vom Leiden.
4. Upekkhā in den Lehrreden: Ausgewählte Suttas aus DN und MN
Obwohl Upekkhā in vielen Lehrreden erwähnt wird, gibt es einige Suttas, die besonders aufschlussreiche Erklärungen oder Kontexte bieten. Während im Dīgha Nikāya (DN) Upekkhā hauptsächlich im Standardkontext der Brahmavihāras erscheint, finden sich im Majjhima Nikāya (MN) Lehrreden, die spezifischere Aspekte von Upekkhā detaillierter behandeln. Zwei davon sollen hier vorgestellt werden.
4.1 MN 137 – Saḷāyatanavibhaṅga Sutta (Analyse der sechs Sinnesbereiche)
Inhalt: Diese Lehrrede bietet eine tiefgehende Analyse (vibhaṅga) der Funktionsweise der Wahrnehmung über die sechs inneren und äußeren Sinnesbereiche (Auge/Form, Ohr/Ton etc.). Sie beschreibt, wie aus dem Kontakt von Sinnesorgan und Objekt Bewusstsein und Gefühl entstehen. Ein zentraler Abschnitt analysiert die „achtzehn Arten geistiger Erforschung“ (aṭṭhārasa manopavicārā). Hier wird erklärt, wie das Wahrnehmen eines Objekts dazu führt, dass der Geist dieses Objekt als Grundlage für Freude (somanassa), für Traurigkeit (domanassa) oder eben für Gleichmut (upekkhā) „erforscht“ oder darauf reagiert.
Der entscheidende Punkt für das Verständnis von Upekkhā ist die anschließende Unterscheidung zwischen sechs Arten von „weltlichem“ oder „haushaltsbezogenem Gleichmut“ (gehasita upekkhā) und sechs Arten von „entsagungsbezogenem Gleichmut“ (nekkhammasita upekkhā). Der weltliche Gleichmut entsteht beim gewöhnlichen, ungeschulten Menschen („törichter, verblendeter Weltling“) als eine Art ignorante Neutralität oder Nicht-Reaktion gegenüber Sinnesobjekten. Er überwindet das Objekt nicht und ist letztlich unbefriedigend. Der entsagungsbezogene Gleichmut hingegen entsteht auf der Grundlage von Weisheit (paññā). Er wurzelt im Erkennen der Vergänglichkeit (anicca), des Leidenshaften (dukkha) und der Veränderlichkeit (vipariṇāma) aller Phänomene, einschließlich der Sinnesobjekte selbst. Das Sutta rät dazu, den entsagungsbezogenen Gleichmut zu kultivieren, um den weltlichen Gleichmut zu überwinden.
Bedeutung für Upekkhā: Dieses Sutta ist von herausragender Bedeutung, da es die essenzielle Unterscheidung zwischen einer auf Unwissenheit basierenden Gleichgültigkeit und einem auf Weisheit basierenden, befreienden Gleichmut trifft. Es zeigt auf, dass Upekkhā als Reaktion auf Sinneserfahrung entsteht, aber ihre Qualität und ihr Wert von der zugrundeliegenden Einsicht abhängen. Dies beugt dem Missverständnis vor, dass jede Form von Neutralität oder Nicht-Reaktion bereits die erstrebenswerte buddhistische Tugend sei.
Quellenverweis: MN 137, Saḷāyatanavibhaṅgasutta (Analyse der sechs Sinnesbereiche). https://suttacentral.net/mn137
Vertiefte Betrachtung: Die Struktur des Suttas, die von der grundlegenden Sinneswahrnehmung zu komplexen emotionalen und kognitiven Reaktionen (manopavicāra, somanassa, domanassa, upekkhā) fortschreitet und diese dann anhand der zugrundeliegenden Sichtweise (ignorant vs. weise) differenziert, offenbart ein hochentwickeltes psychologisches Modell. Es legt nahe, dass Gleichmut an sich nicht notwendigerweise heilsam ist; sein Wert hängt vollständig davon ab, ob er aus Verblendung oder aus Einsicht in die wahre Natur der Wirklichkeit (anicca, dukkha, anattā) resultiert. Upekkhā wird somit nicht nur als Gefühl oder Zustand dargestellt, sondern als Indikator für die Beziehung des Individuums zur Realität. Die explizite Gegenüberstellung von gehasita upekkhā des „törichten Weltlings“ und nekkhammasita upekkhā, die aus dem Sehen der Dinge „wie sie wirklich sind, mit rechter Weisheit“ entsteht, etabliert klar eine Wertehierarchie, die auf Weisheit basiert.
4.2 MN 62 – Mahārāhulovādasutta (Die längere Lehrrede mit Ratschlägen für Rāhula)
Inhalt: In dieser Lehrrede gibt der Buddha seinem Sohn, dem Mönch Rāhula, detaillierte Anweisungen zu verschiedenen Meditationstechniken. Ein bemerkenswerter Abschnitt fordert Rāhula auf, seinen Geist wie die vier großen Elemente – Erde, Wasser, Feuer und Wind – sowie wie den Raum zu entwickeln. Der Buddha erklärt: So wie die Erde nicht abgestoßen oder angewidert ist, wenn reine oder unreine Dinge auf sie geworfen werden (wie Exkremente, Urin, Speichel, Eiter, Blut), so solle auch der Meditierende einen Geisteszustand kultivieren, in dem „angenehme und unangenehme Sinneseindrücke den Geist nicht gefangen nehmen und beherrschen“. Gleiches gilt für die Elemente Wasser, Feuer und Wind. Die Meditation über den Raum wird damit begründet, dass der Raum nirgendwo etabliert ist. Diese Praxis zielt darauf ab, eine grundlegende Stabilität, Unerschütterlichkeit und Nicht-Reaktivität zu entwickeln, die dem Wesen von Upekkhā entspricht. Das Sutta behandelt weiterhin die Achtsamkeit beim Atmen (ānāpānassati), eine Praxis, die zu den Jhānas führt, welche ebenfalls Upekkhā beinhalten.
Bedeutung für Upekkhā: Das Sutta liefert eindringliche und kraftvolle Gleichnisse, um die Qualität des Gleichmuts zu veranschaulichen und zu kultivieren: Unparteilichkeit, Stabilität, Widerstandsfähigkeit und Nicht-Reaktivität angesichts aller Arten von Erfahrungen, seien sie angenehm oder unangenehm. Es verbindet diese innere Haltung direkt mit der meditativen Entwicklung und dem Umgang mit Sinneseindrücken im täglichen Leben.
Quellenverweis: MN 62, Mahārāhulovādasutta (Die längere Lehrrede mit Ratschlägen für Rāhula). https://suttacentral.net/mn62
Vertiefte Betrachtung: Die Verwendung der Elemente als Gleichnisse legt nahe, dass die angestrebte Qualität von Upekkhā keine künstlich erzwungene Haltung ist, sondern eine natürliche, fundamentale Stabilität widerspiegelt, die der Realität selbst innewohnt (wie eben den Elementen). Die Kultivierung von Upekkhā bedeutet demnach, den Geist mit dieser grundlegenden nicht-reaktiven Stabilität in Einklang zu bringen, anstatt in konditionierter Reaktivität gefangen zu sein. Das Ziel, dass „angenehme und unangenehme Sinneseindrücke den Geist nicht gefangen nehmen“, beschreibt funktionell den Gleichmut im Angesicht von Sinnesreizen. Die Reihenfolge im Pali-Text, wo die Elementebetrachtung vor der detaillierten Anleitung zu Ānāpānassati steht, könnte darauf hindeuten, dass die Entwicklung dieser elementaren Stabilität eine wichtige Grundlage für tiefere Konzentrationspraktiken schafft, die dann explizit zur Jhāna–Upekkhā führen.
5. Weitere wichtige Textstellen zu Upekkhā im Palikanon
Über die Sammlungen Dīgha Nikāya und Majjhima Nikāya hinaus enthalten auch das Samyutta Nikāya (SN) und das Aṅguttara Nikāya (AN) bedeutsame Lehrreden, die Licht auf verschiedene Aspekte von Upekkhā werfen.
5.1 Samyutta Nikāya (SN)
Inhalt: Die relevanteste Quelle für Upekkhā im SN ist das SN 46: Bojjhaṅga Saṃyutta (Saṃyutta über die Erwachungsglieder). Dieses gesamte Kapitel mit über 180 kurzen Suttas ist den sieben Erleuchtungsgliedern gewidmet, wobei Upekkhā als siebtes Glied (upekkhā-sambojjhaṅga) ausführlich behandelt wird. Das Bojjhaṅga Saṃyutta erläutert die Bedingungen für das Entstehen und die Entwicklung der Erleuchtungsglieder, ihre Beziehung zu ethischem Verhalten (sīla), ihre Funktion beim Überwinden der fünf Hindernisse (nīvaraṇa) und ihre gegenseitige Balance. Insbesondere wird erklärt, wie Upekkhā zusammen mit Passaddhi (Gestilltheit) und Samādhi (Sammlung) kultiviert werden soll, wenn der Geist durch die energetischen Faktoren (Dhamma-vicaya, Viriya, Pīti) aufgewühlt ist (SN 46.53). Bemerkenswert sind auch Suttas, die berichten, wie die Rezitation der Bojjhaṅgas zur Heilung von Krankheit beitrug, sowohl bei den Ehrwürdigen Mahākassapa (SN 46.14) und Mahāmoggallāna als auch beim Buddha selbst (SN 46.16). Es gibt kein eigenes Saṃyutta, das ausschließlich Upekkhā oder den Brahmavihāras gewidmet ist, aber SN 46 ist die zentrale Quelle für das Verständnis von Upekkhā als Erleuchtungsfaktor.
Quellenverweis Beispiel: SN 46, Bojjhaṅga Saṃyutta (Saṃyutta über die Erwachungsglieder). https://suttacentral.net/sn46
Vertiefte Betrachtung: Die detaillierte Behandlung in SN 46 zeigt, dass die Bojjhaṅgas mehr als nur eine statische Liste sind; sie bilden ein dynamisches System zur Kultivierung des Geistes. Die Rolle von Upekkhā beim Ausbalancieren der geistigen Energien und ihre Verbindung zur Heilung deuten darauf hin, dass sie eine Schlüsselkomponente sowohl für den meditativen Fortschritt als auch für das allgemeine Wohlbefinden ist. Sie stabilisiert den Geist gegen innere Schwankungen (wie Aufgewühltheit) und unterstützt die Resilienz gegenüber äußeren Widrigkeiten (wie Krankheit). Dies unterstreicht die praktische Relevanz von Upekkhā für ein gesundes und befreites Leben.
5.2 Aṅguttara Nikāya (AN)
Inhalt: Im Aṅguttara Nikāya finden sich ebenfalls wichtige Lehrreden. Besonders hervorzuheben ist AN 4.125: Paṭhamamettāsutta (Liebe (1)). Dieses Sutta beschreibt, wie die Kultivierung der vier Brahmavihāras – Mettā, Karuṇā, Muditā und Upekkhā – zur Wiedergeburt in entsprechenden Brahma-Welten führen kann. Upekkhā wird hier mit der Wiedergeburt bei den Göttern der Reichhaltigen Frucht (Vehapphala) assoziiert, deren Lebensspanne 500 Äonen beträgt. Das Sutta betont jedoch einen entscheidenden Unterschied: Während gewöhnliche Weltmenschen (puthujjana) nach Ablauf dieser Lebenszeit wieder in niedere Daseinsbereiche fallen können, erreichen edle Schüler (ariyasāvaka) des Buddha in eben jener Existenz das endgültige Nibbāna. Eine weitere bedeutsame Stelle ist AN 6.13: Nissāraṇīyasutta (Befreiung). Hier identifiziert der Buddha sechs „Auswege“ oder „Befreiungen“ (nissaraṇa) von bestimmten Geistestrübungen. Explizit wird die Entwicklung der „Herzenserlösung durch Gleichmut“ (upekkhā-cetovimutti) als der Ausweg aus Leidenschaft und Begierde (rāga) genannt. Das Sutta erklärt es für „unmöglich“ (aṭṭhānametaṁ, anavakāso), dass Leidenschaft den Geist beherrschen kann, wenn Gleichmut korrekt entwickelt, gepflegt und zur Grundlage gemacht wurde. Analog dazu wird Mettā als Ausweg aus Übelwollen (byāpāda), Karuṇā aus Grausamkeit (vihiṁsā) und Muditā aus Missgunst (arati) bezeichnet.
Quellenverweis Beispiele:
- AN 4.125, Paṭhamamettāsutta (Liebe (1)). Link: https://suttacentral.net/an4.125
- AN 6.13, Nissāraṇīyasutta (Befreiung). Link: https://suttacentral.net/an6.13
Vertiefte Betrachtung: Diese Lehrreden im Aṅguttara Nikāya bieten starke funktionale und konsequenzielle Perspektiven auf Upekkhā. AN 4.125 verortet die Praxis der Brahmavihāras innerhalb der buddhistischen Kosmologie und des letztendlichen Ziels der Befreiung. Es zeigt, dass Upekkhā nicht nur zu einer angenehmen Wiedergeburt führt, sondern für den edlen Schüler ein Sprungbrett zur endgültigen Erlösung sein kann. AN 6.13 liefert eine kraftvolle psychologische Einsicht: Upekkhā ist nicht nur passive Balance, sondern eine aktive Kraft, die mächtigen Geistestrübungen wie der Leidenschaft direkt entgegenwirkt und einen Fluchtweg aus ihrem Griff bietet. Dies unterstreicht ihr transformatives Potenzial auf dem Weg zur Befreiung. Die klare Zuordnung von Upekkhā als spezifischem Gegenmittel zu Rāga (Leidenschaft/Begierde) hebt ihre praktische Nützlichkeit bei der Überwindung konkreter mentaler Hindernisse hervor.
6. Zusammenfassung und Ausblick
Upekkhā, der Gleichmut, erweist sich als eine tiefgründige und vielschichtige Qualität im Herzen der buddhistischen Lehre. Sie ist weit mehr als bloße Neutralität oder Indifferenz, von der sie klar abgegrenzt werden muss. Upekkhā manifestiert sich als weise Unparteilichkeit gegenüber allen Wesen, als stabiles mentales Gleichgewicht angesichts der Wechselfälle des Lebens, als Höhepunkt und ausbalancierende Kraft der vier Göttlichen Verweilungszustände (Brahmavihāras) und als wesentliches Glied der sieben Faktoren, die zur Erleuchtung führen (Bojjhaṅgas). Sie durchdringt die tiefsten meditativen Zustände (Jhānas) und ist eine grundlegende Haltung für den geschickten Umgang mit der Welt der Sinne.
Die Analyse ausgewählter Lehrreden, insbesondere aus dem Majjhima Nikāya (MN 137, MN 62) sowie relevanter Texte aus dem Samyutta Nikāya (SN 46) und Aṅguttara Nikāya (AN 4.125, AN 6.13), verdeutlicht die zentrale Rolle von Upekkhā auf dem buddhistischen Pfad. Sie integriert Herzensqualitäten wie Liebe und Mitgefühl mit der Klarheit der Weisheit und dient als direktes Gegenmittel zu mächtigen Geistestrübungen wie der Leidenschaft. Die Kultivierung von Upekkhā ist somit kein optionales Extra, sondern ein integraler Bestandteil des Weges zur Befreiung vom Leiden.
Die in diesem Bericht zitierten Lehrreden bieten einen wertvollen Einstieg für all jene, die ihr Verständnis von Upekkhā vertiefen möchten. Es wird empfohlen, diese Texte auf Portalen wie SuttaCentral.net im vollen Kontext zu lesen, um die Nuancen und die praktische Anwendung dieser essenziellen buddhistischen Tugend weiter zu erforschen und sie im eigenen Leben zu kultivieren.
7. Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente
- University of Colombo: The Ten Kinds of Equanimity (Upekkhā)
- Wikipedia (Englisch): Upekṣā
- Wikipedia (Deutsch): Upekkhā
- Wisdom Library: Definitions for Upekkha
- SuttaCentral: Definitions for upekkhā
- Access to Insight: The Four Sublime States
- Wikipedia: Seven Factors of Awakening
- Buddhist Publication Society: Seven Factors of Enlightenment
- SuttaCentral: MN 137
- SuttaCentral: MN 62
- SuttaCentral: SN 46
- SuttaCentral: AN 4.125
- SuttaCentral: AN 6.13
- Dhamma Wheel Buddhist Forum
- Pariyatti Learning Center
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