Selbst Prüfen

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Die Bedeutung eigener Erfahrung und kritischer Prüfung im Dhamma (Kalama Sutta)

Einleitung: Wem sollst Du glauben?

Stell dir vor, du lebst in einer Stadt, durch die ständig verschiedene Wanderlehrer ziehen. Jeder verkündet seine eigene Lehre als die einzig wahre und kritisiert gleichzeitig die Lehren aller anderen. Wem würdest du glauben?

Genau in dieser Situation befanden sich die Kālāmer, als der Buddha ihre Stadt Kesaputta besuchte. Sie sagten zu ihm: „Wir sind verwirrt und im Zweifel, Bhante, welcher dieser guten Asketen die Wahrheit sagt und welcher die Unwahrheit“.

Kennst du dieses Gefühl? In unserer modernen Welt werden wir täglich mit einer Flut von Informationen, Meinungen, Ideologien und „Wahrheiten“ konfrontiert – in den Medien, im Internet, von Experten, Gurus und Politikern. Es ist oft schwer zu entscheiden, was glaubwürdig ist und was nicht.

Die Antwort, die der Buddha den Kālāmern gab, ist auch heute noch von revolutionärer Bedeutung und wird oft als die „Charta der freien Untersuchung“ bezeichnet.

Die Charta der freien Untersuchung: Worauf Du Dich NICHT verlassen solltest (Kālāma Sutta, AN 3.65)

Der Buddha riet den Kālāmern nicht, ihm blind zu glauben. Stattdessen gab er ihnen eine Liste von zehn Quellen der Erkenntnis, auf die sie sich nicht allein verlassen sollten, um die Wahrheit einer Lehre zu beurteilen:

  1. Mündliche Überlieferung (anussava): Nicht einfach glauben, was immer wieder erzählt wird.
  2. Tradition/Ahnenreihe (paramparā): Nicht einfach glauben, weil es „schon immer so war“ oder von Generation zu Generation weitergegeben wurde.
  3. Gerüchte/Hörensagen (itikirā): Nicht einfach glauben, was „man sagt“ oder was gerade populär ist.
  4. Heilige Schriften (piṭaka-sampadāna): Nicht einfach glauben, nur weil es in einem alten Buch steht (selbst wenn es als heilig gilt).
  5. Logisches Denken/Vernünfteln (takka-hetu): Nicht einfach glauben, weil etwas logisch oder spekulativ hergeleitet wurde.
  6. Schlussfolgerndes Denken/Methodisches Vorgehen (naya-hetu): Nicht einfach glauben, weil eine Schlussfolgerung auf einer bestimmten Methode oder einem System basiert.
  7. Oberflächliches Abwägen von Gründen (ākāra-parivitakka): Nicht einfach glauben, weil etwas nach oberflächlicher Betrachtung plausibel erscheint.
  8. Übereinstimmung mit eigenen Ansichten nach Überlegung (diṭṭhi-nijjhān-akkhanti): Nicht einfach glauben, weil eine Lehre die eigenen, bereits vorhandenen Überzeugungen bestätigt.
  9. Scheinbare Kompetenz des Sprechers (bhabba-rūpatā): Nicht einfach glauben, weil der Lehrer charismatisch, redegewandt oder angesehen ist.
  10. Autorität des Lehrers („Der Asket ist unser Guru“) (samaṇo no garū): Nicht einfach glauben, nur weil es der eigene Lehrer oder Meister sagt.

Der Buddha sagte: „Kommt, Kālāmas, geht nicht nach mündlicher Überlieferung… oder weil ihr denkt: ‚Der Asket ist unser Guru'“.

Es ist wichtig zu verstehen: Der Buddha lehnt diese Quellen nicht komplett ab. Tradition, Schriften, Lehrer und Logik können wertvolle Hinweise geben. Aber sie sind kein Ersatz für deine eigene kritische Prüfung und Erfahrung. Blinder Glaube wird hier klar abgelehnt.

Das Kriterium der eigenen Erfahrung: Heilsam oder Unheilsam?

Was ist also das entscheidende Kriterium, um eine Lehre anzunehmen oder abzulehnen? Der Buddha gab den Kālāmern einen sehr pragmatischen Maßstab an die Hand: Wisse für dich selbst! (attana’va janeyyatha).

Prüfe die Lehre anhand ihrer Auswirkungen in deiner eigenen Erfahrung:

  • Ablehnen: „Sondern wenn ihr, Kālāmas, für euch selbst wisst: ‚Diese Dinge sind unheilsam (akusala); diese Dinge sind verwerflich; diese Dinge werden von den Weisen getadelt; diese Dinge führen, wenn sie angenommen und unternommen werden, zu Schaden und Leid‘, dann solltet ihr sie aufgeben“*
  • Annehmen: „Sondern wenn ihr für euch selbst wisst: ‚Diese Dinge sind heilsam (kusala); diese Dinge sind unsträflich; diese Dinge werden von den Weisen gepriesen; diese Dinge führen, wenn sie angenommen und unternommen werden, zu Wohl und Glück‘, dann solltet ihr in Übereinstimmung mit ihnen leben und sie praktizieren“*.

Der Maßstab ist also nicht abstrakte Wahrheit, sondern die konkrete, beobachtbare Konsequenz für dein Wohlbefinden und das Wohlbefinden anderer. Was führt zu Leid, Konflikt, Unruhe? Was führt zu Frieden, Harmonie, Glück?

Der Buddha verband dies direkt mit den Wurzeln von Kusala (Heilsam) und Akusala (Unheilsam):

  • Unheilsam (Akusala) sind Handlungen und Geisteszustände, die aus Gier (lobha), Hass (dosa) und Verblendung/Unwissenheit (moha) entstehen. Diese führen unweigerlich zu Leid für dich selbst und andere.
  • Heilsam (Kusala) sind Handlungen und Geisteszustände, die aus Nicht-Gier (alobha – Großzügigkeit, Zufriedenheit), Nicht-Hass (adosa – Liebe, Mitgefühl) und Nicht-Verblendung (amoha – Weisheit, Klarheit) entstehen. Diese führen zu Wohlbefinden und Glück.

Der Buddhismus ermutigt dich also zu einem fast wissenschaftlichen Vorgehen: Beobachte die Ursachen (deine Absichten und Geisteszustände) und die Wirkungen (Leid oder Wohlbefinden) in deiner eigenen Erfahrung. Das ist die Grundlage für deine Entscheidung, was du annehmen und praktizieren möchtest.

Dein persönlicher Kompass in der modernen Welt

Diese über 2500 Jahre alte Anleitung zur freien Untersuchung ist heute relevanter denn je. In einer Zeit der Informationsüberflutung, widersprüchlicher Expertenmeinungen und gezielter Desinformation gibt dir die Kālāma Sutta einen persönlichen ethischen Kompass.

Frage dich bei Informationen, Lebensstilen, Ideologien oder auch spirituellen Lehren:

  • Basieren sie auf Gier, Hass oder Verblendung?
  • Führen sie zu mehr Anhaftung, Konflikt, Verwirrung? Werden sie von weisen, ausgeglichenen Menschen kritisiert?
  • Dann sei vorsichtig und lehne sie ab.
  • Basieren sie auf Großzügigkeit, Mitgefühl und Weisheit?
  • Führen sie zu mehr Frieden, Verständnis, Freiheit? Werden sie von weisen Menschen gelobt?
  • Dann prüfe sie weiter und integriere sie in dein Leben.

Dieser Ansatz erfordert Mut zur Eigenverantwortung und die Bereitschaft, deine eigenen Erfahrungen ernst zu nehmen. Er schützt dich vor Dogmatismus und Manipulation. Nutze diesen Kompass, um deinen eigenen Weg zu finden – auch im Umgang mit den Lehren auf dieser Webseite. Prüfe selbst!

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Dhamma als Lehrer

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Was passiert, wenn der Lehrer nicht mehr da ist? In seiner letzten Weisung ermahnte der Buddha seine Anhänger: „Seid euch selbst eine Insel (attadīpa), habt den Dhamma als eure Insel (dhammadīpā), sucht keine andere Zuflucht“. Erfahre hier, was dieser Aufruf zur Selbstverantwortung bedeutet und wie die Lehre selbst – der Dhamma, verbunden mit ethischer Lebensführung (Vinaya) – Dein zuverlässigster Führer auf dem Weg zur Befreiung sein kann.