1. Leiden (Dukkha)

1. Leiden (Dukkha)
1. Leiden (Dukkha)
1. Leiden (Dukkha)

Dukkha – Das Leiden im frühen Buddhismus: Eine Einführung mit Verweisen auf den Palikanon

Die Erste Edle Wahrheit und ihre Bedeutung für den buddhistischen Weg

Einleitung: Dukkha – Das Herzstück der buddhistischen Lehre

Der Pali-Begriff Dukkha steht im Zentrum der Lehre des Buddha und bildet den Ausgangspunkt für den gesamten buddhistischen Pfad zur Befreiung. Häufig wird Dukkha mit „Leiden“ übersetzt, doch diese Übersetzung greift zu kurz und erfasst nicht die volle Tiefe und Breite des Konzepts. Dukkha ist die Erste der Vier Edlen Wahrheiten (Cattāri Ariyasaccāni), die der Buddha in seiner ersten Lehrrede darlegte. Das Verständnis von Dukkha ist somit fundamental, um die Motivation und das Ziel der buddhistischen Praxis zu begreifen. Es handelt sich nicht um eine pessimistische Weltsicht, sondern um eine realistische Diagnose der menschlichen Existenz – eine Diagnose, die notwendig ist, um den Weg zur Heilung, zur Beendigung des Leidens, beschreiten zu können. Dieser Bericht zielt darauf ab, die vielschichtige Bedeutung von Dukkha zu beleuchten und auf zentrale Lehrreden im Palikanon zu verweisen, die dieses Konzept vertiefen und für interessierte Leser zugänglich machen.

Die Bedeutung von Dukkha: Mehr als nur „Leiden“

2.1 Umfassende Definition

Die gängige Übersetzung von Dukkha als „Leiden“ oder „Schmerz“ ist zwar nicht falsch, aber unvollständig. Der Begriff umfasst ein weites Spektrum an Erfahrungen, das von offensichtlichem körperlichem und seelischem Schmerz bis hin zu subtileren Formen der Unzufriedenheit, des Unbehagens und des Stresses reicht. Weitere mögliche Übersetzungen sind „Unzulänglichkeit“, „Nicht-Befriedigendsein“, „existenzielle Angst“ oder „Stress“. Dukkha beschreibt nicht nur negative Erfahrungen wie Krankheit, Alter und Tod, sondern auch die grundlegende Unbeständigkeit und Bedingtheit des Lebens, die selbst angenehme Erfahrungen letztlich unbefriedigend macht, da sie vergänglich sind (anicca).

Einige etymologische Deutungen des Begriffs illustrieren diese umfassendere Bedeutung. Eine verbreitete Herleitung zerlegt Dukkha in du („schlecht“, „schwierig“) und kha („leer“, „Loch“), was auf das schlecht passende Achsenloch eines Rades anspielt, das zu einer holprigen, unbefriedigenden Fahrt führt. Eine andere mögliche Ableitung von duḥ-stha („schlecht stehen“, „instabil“) betont die inhärente Unsicherheit und Unbeständigkeit aller konditionierten Phänomene.

Es ist wichtig zu verstehen, dass die buddhistische Lehre mit der Betonung von Dukkha keineswegs das Vorhandensein von Glück und Freude im Leben leugnet. Der Buddha erkannte verschiedene Arten von weltlichem Glück an. Die Problematik liegt jedoch darin, dass auch diese glückhaften Zustände vergänglich und bedingt sind und somit keine dauerhafte, endgültige Zuflucht bieten können. Sie sind Teil des Kreislaufs von Entstehen und Vergehen und können daher letztlich nicht vollkommen befriedigen. Das Festhalten an diesen vergänglichen Zuständen in der Erwartung dauerhaften Glücks ist eine Hauptquelle des Leidens.

2.2 Die drei Arten des Leidens

Um die verschiedenen Facetten von Dukkha besser zu verstehen, unterscheidet die buddhistische Lehre traditionell drei Arten oder Ebenen des Leidens:

  1. Dukkha-dukkha (Gewöhnliches Leiden, das Leiden des Leidens): Dies ist die offensichtlichste Form des Leidens, die jeder Mensch erfährt. Sie umfasst körperlichen Schmerz (wie bei Geburt, Krankheit, Verletzung, Alter, Tod) und seelisches Leid (wie Kummer, Sorge, Trauer, Angst, Verzweiflung, Frustration). Es ist das Leid, das direkt als unangenehm und schmerzhaft empfunden wird.
  2. Vipariṇāma-dukkha (Leiden durch Veränderung): Diese Art des Leidens entsteht durch die Unbeständigkeit (anicca) aller Dinge, insbesondere angenehmer Erfahrungen. Glückliche Momente, erfreuliche Zustände oder der Besitz von Dingen, die wir schätzen, sind vergänglich. Wenn sie sich ändern oder enden, entsteht Leid – die Enttäuschung über den Verlust, die Angst vor dem Verlust oder der Stress, der mit dem Festhalten an Vergänglichem verbunden ist. Selbst das Glück verwandelt sich in Leid, wenn die Bedingungen dafür wegfallen.
  3. Saṅkhāra-dukkha (Leiden durch Bedingtheit/Formationen, das Leiden der konditionierten Existenz): Dies ist die subtilste und tiefgreifendste Form von Dukkha. Sie bezieht sich auf die grundlegende Unzulänglichkeit und Unbefriedigendheit, die allen bedingten Phänomenen (saṅkhāras) innewohnt, einfach weil sie bedingt, zusammengesetzt, vergänglich und ohne einen dauerhaften, unabhängigen Kern (Nicht-Selbst, anattā) sind. Es ist die existenzielle Grundspannung oder das Unbehagen, das selbst in neutralen oder scheinbar leidfreien Momenten unterschwellig vorhanden ist, solange die wahre Natur der Wirklichkeit nicht durchschaut ist. Diese Form des Leidens ist oft schwer zu erkennen und hängt eng mit den Fünf Daseinsgruppen (oder Anhaftungsgruppen, pañcupādānakkhandhā) zusammen – Körperlichkeit, Gefühl, Wahrnehmung, Geistesformationen und Bewusstsein – die unsere gesamte konditionierte Erfahrung ausmachen. Weil wir uns mit diesen vergänglichen und unkontrollierbaren Aggregaten identifizieren, entsteht diese fundamentale Form der Unzufriedenheit.

Das Verständnis dieser drei Arten zeigt, dass die buddhistische Analyse des Leidens weit über die Beseitigung von grobem Schmerz hinausgeht. Sie zielt auf die Wurzel des Problems – die grundlegende Natur der bedingten Existenz selbst und unsere Reaktion darauf, die von Anhaften und Ablehnung geprägt ist.

Dukkha und die Vier Edlen Wahrheiten (Cattāri Ariyasaccāni)

Der Begriff Dukkha ist untrennbar mit den Vier Edlen Wahrheiten verbunden, die das Fundament der buddhistischen Lehre bilden. Sie wurden vom Buddha in seiner ersten Lehrrede, dem Dhammacakkappavattana Sutta (SN 56.11), dargelegt. Diese Wahrheiten folgen oft einer logischen Struktur, die an eine medizinische Diagnose erinnert: Feststellung der Krankheit, Identifizierung der Ursache, Feststellung der Heilungsmöglichkeit und Verschreibung der Therapie.

  • Die Erste Edle Wahrheit: Die Wahrheit vom Leiden (Dukkha Ariyasacca)
    Diese Wahrheit benennt und erkennt die Realität von Dukkha in all ihren Formen an. Der Buddha definiert sie klassischerweise so: „Geburt ist Leiden, Altern ist Leiden, Krankheit ist Leiden, Tod ist Leiden; Kummer, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung sind Leiden; Vereinigung mit Unliebem ist Leiden; Trennung von Liebem ist Leiden; nicht bekommen, was man wünscht, ist Leiden; kurz gesagt: die fünf Aggregate des Anhaftens (pañcupādānakkhandhā) sind Leiden.“. Diese Wahrheit fordert uns auf, das Leiden nicht zu leugnen oder zu ignorieren, sondern es als grundlegende Tatsache der konditionierten Existenz vollständig zu verstehen (pariññā).
  • Die Zweite Edle Wahrheit: Die Wahrheit von der Leidensentstehung (Dukkha-samudaya Ariyasacca)
    Diese Wahrheit identifiziert die Ursache des Leidens: das Begehren oder der Durst (taṇhā). Es ist dieses Begehren, das zur Wiedergeburt führt, begleitet von Genuss und Gier, hier und dort Freude suchend. Genauer wird unterschieden zwischen dem Begehren nach Sinnesfreuden (kāma-taṇhā), dem Begehren nach Werden oder Existenz (bhava-taṇhā) und dem Begehren nach Nicht-Werden oder Selbstvernichtung (vibhava-taṇhā). Dieses Begehren wurzelt in der Unwissenheit (avijjā) über die wahre Natur der Dinge (insbesondere anicca, dukkha, anattā). Die Aufgabe in Bezug auf diese Wahrheit ist das Aufgeben (pahāna) des Begehrens.
  • Die Dritte Edle Wahrheit: Die Wahrheit von der Leidensaufhebung (Dukkha-nirodha Ariyasacca)
    Diese Wahrheit verkündet die gute Nachricht, dass Leiden beendet werden kann. Die Aufhebung des Leidens (Nirodha) besteht in der restlosen Abkehr von und dem Aufhören eben dieses Begehrens, im Aufgeben, Loslassen, der Befreiung davon und dem Nicht-Anhaften daran. Das Ziel ist Nibbāna (Sanskrit: Nirvāṇa), der Zustand völliger Befreiung vom Leiden und dem Kreislauf der Wiedergeburten. Die Aufgabe hier ist das Verwirklichen (sacchikiriya) dieser Aufhebung.
  • Die Vierte Edle Wahrheit: Die Wahrheit vom Pfad zur Leidensaufhebung (Dukkha-nirodha-gāminī-paṭipadā Ariyasacca)
    Diese Wahrheit beschreibt den praktischen Weg, der zur Aufhebung des Leidens führt: der Edle Achtfache Pfad (Ariya Aṭṭhaṅgika Magga). Er besteht aus acht miteinander verbundenen Faktoren, die in drei Gruppen unterteilt werden:
    • Weisheit (paññā): Rechte Einsicht (sammā-diṭṭhi), Rechtes Denken/Rechte Absicht (sammā-saṅkappa)
    • Sittlichkeit (sīla): Rechte Rede (sammā-vācā), Rechtes Handeln (sammā-kammanta), Rechter Lebenserwerb (sammā-ājīva)
    • Vertiefung/Sammlung (samādhi): Rechte Anstrengung (sammā-vāyāma), Rechte Achtsamkeit (sammā-sati), Rechte Sammlung/Konzentration (sammā-samādhi).

    Die Aufgabe in Bezug auf diese Wahrheit ist die Entwicklung oder Kultivierung (bhāvanā) dieses Pfades.

Der Buddha betonte, dass er erst dann die volle Erleuchtung für sich beanspruchte, als er diese vier Wahrheiten in ihren drei Aspekten (die Wahrheit selbst erkennen, die damit verbundene Aufgabe verstehen, die Aufgabe erfüllt haben) – also in zwölffacher Weise – vollständig durchdrungen hatte. Die Vier Edlen Wahrheiten bieten somit einen umfassenden Rahmen, der das Problem (Dukkha), seine Ursache, seine mögliche Lösung und den Weg dorthin klar strukturiert und praktisch angehbar macht.

Schlüssel-Lehrreden zu Dukkha im Dīgha Nikāya (DN) und Majjhima Nikāya (MN)

Die Sammlungen der langen (Dīgha Nikāya) und mittleren Lehrreden (Majjhima Nikāya) enthalten zahlreiche Suttas, die Aspekte von Dukkha beleuchten. Einige davon sind besonders zentral für das Verständnis dieses Begriffs:

4.1 DN 22: Mahāsatipaṭṭhāna Sutta (Die Große Lehrrede über die Grundlagen der Achtsamkeit)

Diese Lehrrede ist eine der wichtigsten Quellen für die Meditationspraxis im Theravāda-Buddhismus. Sie beschreibt die vier Grundlagen der Achtsamkeit: die Betrachtung des Körpers (kāyānupassanā), der Gefühle (vedanānupassanā), des Geistes (cittānupassanā) und der Geistobjekte oder Prinzipien (dhammānupassanā). Während der Text weitgehend identisch ist mit dem kürzeren Satipaṭṭhāna Sutta (MN 10), enthält DN 22 einen ausführlichen Abschnitt innerhalb der vierten Grundlage (dhammānupassanā), der explizit die Vier Edlen Wahrheiten als Meditationsobjekte behandelt.

Der Meditierende wird angeleitet, die Wahrheit vom Leiden, von der Entstehung des Leidens, von der Aufhebung des Leidens und vom Pfad zur Aufhebung des Leidens direkt in der eigenen Erfahrung zu erkennen und zu durchdringen. Dies zeigt, dass das Verständnis von Dukkha nicht nur eine intellektuelle Angelegenheit ist, sondern durch direkte, achtsame Beobachtung der eigenen Körper- und Geistprozesse kultiviert wird. Achtsamkeit (sati) wird hier zum Werkzeug, um die in Abschnitt 3 beschriebenen Wahrheiten erfahrungsmäßig zu verifizieren.

Das Sutta betont das Beobachten des Entstehens und Vergehens (samudaya-vaya-dhamma) in Bezug auf alle vier Grundlagen, was direkt zur Einsicht in anicca und damit auch dukkha und anattā führt.

Quelle: DN 22, Mahāsatipaṭṭhāna Sutta (Die Große Lehrrede über die Grundlagen der Achtsamkeit).
SuttaCentral Link: https://suttacentral.net/dn22/de/sabbamitta

4.2 MN 13: Mahādukkhakkhandha Sutta (Die Große Lehrrede über die Masse des Leidens)

Dieses Sutta bietet eine tiefgehende Analyse des Leidens, insbesondere im Zusammenhang mit Sinnesfreuden (kāmā), aber auch in Bezug auf materielle Formen (rūpa) und Gefühle (vedanā). Die Lehrrede entstand aus einer Begegnung von Mönchen mit Andersgläubigen, die behaupteten, ebenfalls die Überwindung von Sinnesfreuden zu lehren.

Der Buddha zeigt auf, dass ein wahres Verständnis tiefer gehen muss. Er analysiert diese Bereiche anhand von drei Aspekten:

  • Genuss/Befriedigung (assāda): Der vorübergehende, angenehme Aspekt, z.B. die Freude, die aus den fünf Sinnesobjekten (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten) entsteht.
  • Gefahr/Nachteil (ādīnava): Die negativen Konsequenzen und das Leiden, das aus dem Anhaften an diese vergänglichen Freuden resultiert. Das Sutta beschreibt ausführlich, wie das Streben nach Sinnesfreuden zu Konflikten, Streit, Gewalt, Sorgen und letztlich zu leidvollen Wiedergeburten führt. Dies illustriert dukkha-dukkha und vipariṇāma-dukkha.
  • Entrinnen/Ausweg (nissaraṇa): Der Weg zur Befreiung von dieser Anhaftung und dem daraus resultierenden Leiden, der durch das Loslassen des Begehrens ermöglicht wird.

Die detaillierte Analyse von ādīnava macht deutlich, warum selbst scheinbar harmlose Sinnesfreuden eine Quelle tiefen Leidens sein können, wenn man an ihnen hängt. Die klare Gegenüberstellung von Genuss und Gefahr dient dazu, die Motivation für das Loslassen und das Suchen des wahren Entrinnens zu stärken.

Quelle: MN 13, Mahādukkhakkhandha Sutta (Die Große Lehrrede über die Masse des Leidens).
SuttaCentral Link: https://suttacentral.net/mn13/de/sabbamitta

4.3 MN 14: Cūḷadukkhakkhandha Sutta (Die Kleine Lehrrede über die Masse des Leidens)

Dieses Sutta ergänzt MN 13 und beginnt mit einer Frage des Laienanhängers Mahānāma. Obwohl er die Lehre verstanden hat, dass Gier, Hass und Verblendung Verunreinigungen des Geistes sind, wird sein Geist manchmal dennoch davon überwältigt. Er fragt sich, was er noch nicht aufgegeben hat.

Der Buddha erklärt, dass Mahānāma deshalb noch im Hausleben verweile und Sinnesfreuden genieße, weil er eine bestimmte Qualität – das tieferliegende Anhaften an Sinnesfreuden – noch nicht vollständig aufgegeben habe. Er führt aus, dass selbst wenn man mit Weisheit erkannt hat, dass Sinnesfreuden wenig Befriedigung (assāda) und viel Leiden (ādīnava) bringen, man sich dennoch nicht davon abwendet, solange man keine Freude und kein Glück erfährt, die jenseits von Sinnesfreuden und unheilsamen Zuständen liegen (pitisukhaṁ) – oder etwas noch Friedvolleres (wie Nibbāna). Der Buddha berichtet, dass er selbst vor seiner Erleuchtung erst dann die Sinnesfreuden überwinden konnte, als er diese höhere Form des Glücks – die meditativen Vertiefungen (jhāna) – erreicht hatte.

Das Sutta enthält auch eine Auseinandersetzung mit den Nigaṇṭhas (Jainas), in der der Buddha deren extreme Askese kritisiert. Er argumentiert, dass ihre Selbstquälerei schmerzhaft und unfruchtbar ist und nicht zur Befreiung führt, während er selbst durch seine Praxis einen Zustand höchsten Glücks erreichen konnte, der weit über weltliche Freuden hinausgeht. Dies unterstreicht die Bedeutung des Mittleren Weges und die Rolle von meditativen Errungenschaften (samādhi, jhāna) bei der Überwindung von Dukkha, das aus Anhaftung entsteht.

Es zeigt eindrücklich, dass intellektuelles Verständnis allein nicht ausreicht, sondern durch die Kultivierung heilsamer Geisteszustände ergänzt werden muss, um eine wirkliche Alternative zu den vergänglichen Freuden zu finden.

Quelle: MN 14, Cūḷadukkhakkhandha Sutta (Die Kleine Lehrrede über die Masse des Leidens).
SuttaCentral Link: https://suttacentral.net/mn14/de/sabbamitta

Das Saṃyutta Nikāya (SN): Die Sammlung der Wahrheiten (Sacca Saṃyutta)

Das Saṃyutta Nikāya, die „Sammlung der verbundenen Lehrreden“, gruppiert kürzere Suttas nach thematischen Gesichtspunkten. Für das Thema Dukkha ist insbesondere das 56. Buch (Saṃyutta) von großer Bedeutung. Es trägt den Namen Sacca Saṃyutta – die Sammlung, die sich explizit mit den (Vier Edlen) Wahrheiten (sacca) befasst. Diese Sammlung enthält zahlreiche Suttas, die verschiedene Aspekte der Vier Edlen Wahrheiten beleuchten und somit eine reiche Quelle für das Verständnis von Dukkha und dem Weg zu seiner Überwindung darstellen.

Die Existenz eines ganzen Kapitels, das diesem Kernthema gewidmet ist, unterstreicht die zentrale Stellung der Wahrheiten in der Lehre des Buddha.

5.1 SN 56.11: Dhammacakkappavattana Sutta (Die Lehrrede vom Ingangsetzen des Rades der Lehre)

Wie bereits erwähnt, ist dies die traditionell als erste Lehrrede des Buddha betrachtete Sutta, gehalten vor den fünf Asketen im Wildpark bei Isipatana (nahe Benares/Varanasi). Sie ist von herausragender Bedeutung, da sie den Beginn der öffentlichen Lehrtätigkeit des Buddha markiert und die grundlegenden Prinzipien seiner Lehre einführt.

Das Sutta beginnt mit der Ablehnung der beiden Extreme: dem Hängen an Sinnesfreuden (als niedrig, gemein und unzuträglich) und der Selbstquälerei (als schmerzhaft, unwürdig und unzuträglich). Stattdessen legt der Buddha den Mittleren Weg dar, der zu Einsicht, Wissen, Frieden, Erkenntnis, Erleuchtung und Nibbāna führt – und dieser Mittlere Weg ist der Edle Achtfache Pfad.

Den Kern des Suttas bildet die erste ausführliche Darlegung der Vier Edlen Wahrheiten. Hier findet sich die kanonische Definition der Ersten Wahrheit, die Dukkha beschreibt (Geburt, Altern, Krankheit, Tod, etc., siehe Abschnitt 3). Ebenso werden die Ursache (taṇhā), die Aufhebung (nirodha) und der Pfad (magga) dargelegt. Das Sutta beschreibt auch die dreifache Drehung des Rades der Lehre in Bezug auf jede der vier Wahrheiten – das Erkennen der Wahrheit, das Verstehen der damit verbundenen Aufgabe und die Bestätigung der Erfüllung dieser Aufgabe –, was zu den zwölf Aspekten des Verständnisses führt. Dieses Sutta ist somit die grundlegende Referenz für das Verständnis von Dukkha im Kontext der Vier Edlen Wahrheiten.

Quelle: SN 56.11, Dhammacakkappavattana Sutta (Die Lehrrede vom Ingangsetzen des Rades der Lehre / Die erste Lehrrede).
SuttaCentral Link: https://suttacentral.net/sn56.11/de/sabbamitta

Das Aṅguttara Nikāya (AN): Numerische Lehrreden und Dukkha

Das Aṅguttara Nikāya, die „Sammlung der angereihten Lehrreden“, ordnet die Suttas nach der Anzahl der behandelten Themenpunkte – von Einer- bis zu Elfer-Gruppen. Obwohl es vielleicht weniger explizit auf die Definition von Dukkha fokussiert ist als das Sacca Saṃyutta, finden sich auch hier wichtige Lehrreden, die relevante Aspekte beleuchten.

6.1 AN 3.61: Titthāyatana Sutta (Die Lehrrede über die Sektiererischen Lehren / Grundlagen der Sektierer)

In dieser Lehrrede setzt sich der Buddha mit drei damals verbreiteten philosophischen Ansichten über die Ursache von Glück und Leid auseinander. Diese drei Ansichten sind:

  1. Alles Erleben (Freude, Schmerz, neutrales Gefühl) ist durch vergangene Taten (pubbekamma) vorherbestimmt.
  2. Alles Erleben ist durch die Schöpfung eines höchsten Gottes (issaranimmāna) verursacht.
  3. Alles Erleben geschieht ohne Ursache und Bedingung (ahetu-appaccayā), also zufällig.

Der Buddha widerlegt diese drei Lehren, indem er aufzeigt, dass sie konsequent zu Ende gedacht zur Untätigkeit oder Handlungsunfähigkeit (akiriyā) führen. Wenn alles durch die Vergangenheit, einen Gott oder den Zufall bestimmt ist, gibt es keinen Grund und keine Motivation für eigenes Bemühen, für ethisches Handeln oder für die Entwicklung des Geistes. Man hätte keinen Anlass mehr zu unterscheiden, was getan und was nicht getan werden sollte. Solche Ansichten untergraben die persönliche Verantwortung.

Demgegenüber stellt der Buddha seine eigene Lehre, die auf dem Prinzip der Bedingtheit (siehe Paṭiccasamuppāda, Bedingtes Entstehen) und den Vier Edlen Wahrheiten beruht. Seine Lehre identifiziert spezifische, beeinflussbare Ursachen für Dukkha – nämlich Begehren (taṇhā) und Unwissenheit (avijjā) – und zeigt einen Weg auf, diese Ursachen durch eigene Anstrengung auf dem Edlen Achtfachen Pfad zu beseitigen.

Indem der Buddha deterministische und zufallsbasierte Erklärungen für Leid zurückweist, betont er die Möglichkeit der Selbstbefreiung durch das Verstehen und Bearbeiten der tatsächlichen Ursachen von Dukkha. Dies unterstreicht die Bedeutung der Rechten Einsicht (sammā-diṭṭhi) als Grundlage für einen wirksamen Weg aus dem Leiden und verleiht dem Einzelnen die Handlungsfähigkeit zurück.

Quelle: AN 3.61, Titthāyatana Sutta (Die Lehrrede über die Sektiererischen Lehren / Grundlagen der Sektierer).
SuttaCentral Link: https://suttacentral.net/an3.61/de/sabbamitta

6.2 AN 10.2: Cetanākaraṇīya Sutta (Die Lehrrede darüber, was durch Absicht zu tun ist)

Diese Lehrrede bietet einen wertvollen Einblick in die positive Dynamik des buddhistischen Pfades, der von Dukkha wegführt. Sie beschreibt eine Kette von heilsamen Zuständen, bei der jeder Zustand auf natürliche Weise zum nächsten führt, ohne dass eine willentliche Anstrengung nötig ist, um den jeweils nächsten Schritt herbeizuführen. Die Sequenz lautet:

  1. Tugendhaftes Verhalten (sīla) führt zu Reuelosigkeit (avippaṭisāra).
  2. Reuelosigkeit führt zu Freude (pāmojja).
  3. Freude führt zu Ekstase/Verzückung (pīti).
  4. Ekstase führt zu körperlicher Ruhe (passaddhi).
  5. Körperliche Ruhe führt zu Glückseligkeit/Wohlgefühl (sukha).
  6. Glückseligkeit führt zu Sammlung des Geistes (samādhi).
  7. Sammlung führt zu Wissen und Sehen der Dinge, wie sie wirklich sind (yathābhūta-ñāṇadassana).
  8. Wissen und Sehen führt zu Ernüchterung/Abwendung (nibbidā).
  9. Ernüchterung führt zu Loslösung/Entsagung (virāga).
  10. Loslösung führt zu Wissen und Sehen der Befreiung (vimutti-ñāṇadassana).

Diese Kaskade heilsamer Zustände zeigt, dass der Weg aus dem Leiden nicht nur ein Prozess der Beseitigung von Negativem ist, sondern auch die aktive Kultivierung positiver Qualitäten beinhaltet. Tugend, Sammlung und Weisheit wirken zusammen und verstärken sich gegenseitig, um den Geist auf natürliche Weise zur Befreiung zu führen. Es illustriert, wie der Pfad selbst eine Quelle von Glück und Wohlbefinden ist, die das Anhaften an niedere Freuden überflüssig macht und so zur Überwindung von Dukkha beiträgt.

Quelle: AN 10.2, Cetanākaraṇīya Sutta (Die Lehrrede darüber, was durch Absicht zu tun ist).
SuttaCentral Link: https://suttacentral.net/an10.2/de/sabbamitta

Dukkha im Licht der Drei Daseinsmerkmale (Tilakkhaṇa)

Das Verständnis von Dukkha wird weiter vertieft, wenn man es im Kontext der Drei Daseinsmerkmale (Tilakkhaṇa) betrachtet. Diese drei Merkmale kennzeichnen alle bedingten Phänomene (saṅkhārā) im Daseinskreislauf (saṃsāra).

  1. Anicca (Vergänglichkeit, Unbeständigkeit): Alle zusammengesetzten Dinge, sowohl materielle als auch geistige, sind einem ständigen Wandel unterworfen. Nichts bleibt gleich; alles entsteht, besteht für eine Weile und vergeht wieder. Diese Einsicht in die universelle Vergänglichkeit ist fundamental.
  2. Dukkha (Leidhaftigkeit, Unzulänglichkeit): Weil alle bedingten Dinge vergänglich (anicca) sind, können sie keine dauerhafte Befriedigung bieten. Das Anhaften an sie, als ob sie beständig wären, führt unweigerlich zu Enttäuschung und Leid. In diesem Sinne wird Dukkha als ein direktes Resultat von Anicca verstanden, wenn Unwissenheit und Begehren hinzukommen. Ein bekannter Ausspruch im Palikanon lautet: “Yaṁ aniccaṁ taṁ dukkhaṁ” – „Was vergänglich ist, das ist leidhaft.“.
  3. Anattā (Nicht-Selbst, Substanzlosigkeit): Es gibt kein dauerhaftes, unabhängiges, unveränderliches „Selbst“, keine „Seele“ oder einen festen Wesenskern in irgendeinem Phänomen. Was wir als „Ich“ oder „Selbst“ wahrnehmen, ist lediglich ein sich ständig verändernder Strom von physischen und mentalen Prozessen (den fünf Aggregaten). Die Vorstellung eines festen Selbst ist eine Illusion, und das Festhalten daran (attavāda) ist eine der tiefsten Wurzeln des Leidens (Dukkha). Wichtig ist, dass Anattā sich auf alle Daseinsphänomene (sabbe dhammā) bezieht, sowohl die bedingten (saṅkhārā) als auch das Unbedingte (asaṅkhata, d.h. Nibbāna). Auch Nibbāna ist ohne Selbst.

Die Drei Daseinsmerkmale sind untrennbar miteinander verbunden. Die Unbeständigkeit (anicca) führt zur Leidhaftigkeit (dukkha), wenn man anhaftet. Und weil die Dinge unbeständig und leidhaft sind, können sie kein wahres, beständiges Selbst (attā) sein. Die Unwissenheit (avijjā) bezüglich dieser drei Merkmale ist die grundlegende Ursache dafür, dass Wesen im leidvollen Kreislauf der Wiedergeburten (saṃsāra) gefangen bleiben. Die Entwicklung von Weisheit (paññā), die diese drei Merkmale klar erkennt, ist daher der Schlüssel zur Überwindung von Dukkha.

Die klassischen Formeln lauten:

  • Sabbe saṅkhārā aniccā – Alle bedingten Dinge sind vergänglich.
  • Sabbe saṅkhārā dukkhā – Alle bedingten Dinge sind leidhaft/unzulänglich.
  • Sabbe dhammā anattā – Alle Phänomene (bedingt und unbedingt) sind ohne Selbst.

Abschließende Betrachtung und Verweise für das weitere Studium

Dukkha ist, wie dargelegt, ein zentraler und vielschichtiger Begriff im frühen Buddhismus. Es bezeichnet weit mehr als nur alltägliches Leid und umfasst die grundlegende Unzulänglichkeit und Unbefriedigendheit, die der bedingten Existenz aufgrund ihrer Vergänglichkeit (anicca) und Substanzlosigkeit (anattā) anhaftet.

Die Analyse von Dukkha in den Drei Arten und im Rahmen der Vier Edlen Wahrheiten dient nicht dem Zweck, eine pessimistische Sichtweise zu fördern, sondern eine klare und realistische Diagnose zu stellen. Diese Diagnose ist der notwendige erste Schritt auf dem Weg zur Befreiung.

Indem die Ursachen von Dukkha – Begehren und Unwissenheit – identifiziert werden, zeigt der Buddha gleichzeitig auf, dass diese Ursachen beseitigt werden können. Der Edle Achtfache Pfad bietet die praktische Methode, um Weisheit, ethisches Verhalten und geistige Sammlung zu kultivieren und so das Anhaften und die daraus resultierende Unzufriedenheit zu überwinden.

Das Verständnis von Dukkha motiviert somit zur Praxis und weist auf das letztendliche Ziel hin: Nibbāna, die vollständige Befreiung von Leiden.

Die in diesem Bericht genannten Lehrreden stellen nur eine kleine Auswahl dar, bieten aber einen guten Einstiegspunkt für ein tieferes Studium. Es wird empfohlen, diese Texte, vorzugsweise über Ressourcen wie SuttaCentral.net, im Kontext zu lesen und über ihre Bedeutung zu reflektieren. Die direkte Auseinandersetzung mit den Quellen ist der beste Weg, um ein authentisches Verständnis der Lehren des Buddha zu entwickeln.

Tabelle der zitierten Lehrreden

Die folgende Tabelle fasst die in diesem Bericht schwerpunktmäßig behandelten Lehrreden zusammen und dient als Referenz für das weitere Studium:

Nikāya Nummer Pali-Titel Deutscher Titel (Vorschlag) Relevanz für Dukkha
SN 56.11 Dhammacakkappavattana Sutta Die Lehrrede vom Ingangsetzen des Rades der Lehre Erste Lehrrede; Definition der 4 Edlen Wahrheiten, inkl. Dukkha.
DN 22 Mahāsatipaṭṭhāna Sutta Die Große Lehrrede über die Grundlagen der Achtsamkeit Meditative Betrachtung der 4 Edlen Wahrheiten als Weg zum Verständnis von Dukkha.
MN 13 Mahādukkhakkhandha Sutta Die Große Lehrrede über die Masse des Leidens Analyse von Dukkha in Bezug auf Sinnesfreuden (assāda, ādīnava, nissaraṇa).
MN 14 Cūḷadukkhakkhandha Sutta Die Kleine Lehrrede über die Masse des Leidens Dukkha durch Anhaftung; Notwendigkeit von Jhāna; Kritik an Askese.
AN 3.61 Titthāyatana Sutta Die Lehrrede über die Sektiererischen Lehren Widerlegung falscher Ansichten über die Ursache von Dukkha; betont Kausalität.
AN 10.2 Cetanākaraṇīya Sutta Die Lehrrede darüber, was durch Absicht zu tun ist Zeigt den positiven Pfad weg von Dukkha durch Kultivierung.

Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente

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Die zweite Wahrheit, Samudaya, enthüllt die Ursache des Leidens. Sie identifiziert das Verlangen oder den „Durst“ (Taṇhā) als die treibende Kraft – das Verlangen nach Sinnesfreuden (kāma-taṇhā), nach Existenz (bhava-taṇhā) und nach Nicht-Existenz (vibhava-taṇhā). Erforsche hier, wie dieses Begehren, tief verwurzelt in der Unwissenheit (Avijjā) über die wahre Natur der Dinge, dich an den leidvollen Kreislauf bindet. Diese Wahrheit fordert dich auf, diese Ursachen in dir selbst zu erkennen und aufzugeben.