12. Altern/Tod (Jarāmaraṇa)

12. Altern/Tod (Jarāmaraṇa)
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Jarāmaraṇa – Altern und Tod im frühen Buddhismus: Definition, Kontext und Lehrreden

Eine Untersuchung des letzten Glieds im Bedingten Entstehen und seiner Bedeutung für das Verständnis des Leidens

Einleitung: Jarāmaraṇa – Mehr als nur biologisches Altern und Sterben

Altern und Tod sind universelle menschliche Erfahrungen, Konstanten des Lebens, denen sich niemand entziehen kann. Im Buddhismus wird diesem unumgänglichen Aspekt der Existenz unter dem Pali-Begriff Jarāmaraṇa eine zentrale Bedeutung beigemessen. Dieser Terminus bezeichnet jedoch weit mehr als nur die biologischen Prozesse des Alterns und Sterbens. Er ist tief verwurzelt im Verständnis von Dukkha – dem Leid, der Unzulänglichkeit und der grundlegenden Unbefriedigtheit, die das Dasein im Kreislauf der Wiedergeburten (Saṃsāra) kennzeichnen.

Jarāmaraṇa bildet einen wesentlichen Bestandteil der Ersten Edlen Wahrheit, der Wahrheit vom Leiden. Bereits die Geburt (Jāti) wird als leidhaft erkannt, da sie unausweichlich zu Alter und Tod führt. Das Verständnis von Jarāmaraṇa ist somit unerlässlich, um die Natur des Leidens, die Dynamik des Saṃsāra und letztlich den Weg zur Befreiung (Nibbāna) zu erfassen.

Dieser Bericht erläutert den Begriff Jarāmaraṇa, seine Bestandteile und die damit verbundenen leidvollen Aspekte. Er beleuchtet seine zentrale Stellung als letztes Glied in der Kette des Bedingten Entstehens (Paṭiccasamuppāda) und identifiziert Schlüssel-Lehrreden (Suttas) aus den großen Sammlungen des Palikanons – Dīgha Nikāya (DN), Majjhima Nikāya (MN), Samyutta Nikāya (SN) und Aṅguttara Nikāya (AN) –, die diesen Begriff näher erklären und kontextualisieren. Ziel ist es, interessierten Lesern einen fundierten Zugang zu diesem wichtigen Konzept zu ermöglichen und auf relevante Textstellen für ein vertieftes Studium zu verweisen.

Definition und Bestandteile von Jarāmaraṇa

Der Begriff Jarāmaraṇa ist ein Kompositum aus zwei Pali-Wörtern: Jarā und Maraṇa.

  • Jarā (Altern): Dieses Wort bezeichnet das Altern, die Hinfälligkeit, den Verfall und die Gebrechlichkeit. In den kanonischen Texten wird Jarā oft detailliert beschrieben als: „Altern, Hinfälligkeit, Zerbrochenheit, Ergrauen, Runzligwerden, Schwinden der Lebenskraft, Schwächung der Fähigkeiten der verschiedenen Wesen in dieser oder jener Gruppe von Wesen“. Die etymologischen Wurzeln des Wortes deuten auf „mürbe werden“, „verfallen“, „verzehrt werden“ hin. Jarā impliziert somit einen fortschreitenden Prozess des körperlichen und geistigen Niedergangs, oft in einem Sinne, der die damit verbundene Kläglichkeit betont. Ein verwandter Begriff ist jarādhamma, was bedeutet, der Natur des Alterns oder Verfalls unterworfen zu sein.
  • Maraṇa (Tod): Dieses Wort bedeutet Tod, Sterben, Vergehen, das Ende der sichtbaren Existenz. Die kanonische Definition umfasst: „Das Verscheiden, Hinscheiden, Zerbrechen, Verschwinden, Sterben, der Tod, die Vollendung der Zeit, das Zerbrechen der Aggregate (Khandhas), das Wegwerfen des Körpers, die Unterbrechung der Lebensfakultät der verschiedenen Wesen in dieser oder jener Gruppe von Wesen“. Die Wurzel mṛ (sterben) findet sich in vielen indoeuropäischen Sprachen wieder. Im buddhistischen Kontext sind auch verwandte Praktiken wie maraṇasati oder maraṇānussati, die Achtsamkeit bzw. das Gedenken an den Tod, von Bedeutung, um die Vergänglichkeit zu verinnerlichen und die Anhaftung an das Leben zu lockern.

Entscheidend für das Verständnis von Jarāmaraṇa im buddhistischen Kontext ist, dass der Begriff selten isoliert verwendet wird. Insbesondere im Rahmen des Bedingten Entstehens wird er typischerweise von einer Reihe weiterer Begriffe begleitet, die das damit verbundene psychische und emotionale Leid beschreiben: soka (Kummer, Gram), parideva (Wehklagen, Jammer), dukkha (Schmerz, körperliches oder seelisches Leid), domanassa (Betrübnis, Trübsinn, geistiger Schmerz) und upāyāsā (Verzweiflung, Qual).

Die explizite Nennung dieser Begleiterscheinungen unterstreicht, dass der Buddhismus Jarāmaraṇa nicht nur als neutralen biologischen oder physikalischen Prozess betrachtet. Vielmehr liegt der Fokus auf der erlebten Erfahrung des Leidens, die untrennbar mit der Konfrontation mit der eigenen Vergänglichkeit, dem Verlust geliebter Menschen und Objekte sowie dem unaufhaltsamen Verfall verbunden ist. Der Terminus Dukkha erscheint hierbei sowohl als spezifischer Schmerz innerhalb der Formel als auch als übergeordnete Kategorie der Unzulänglichkeit, für die Jarāmaraṇa ein primäres Beispiel darstellt. Die Definition von Jarāmaraṇa umfasst somit notwendigerweise auch diese Dimension des existenziellen Leidens.

Die Lehrreden betonen die Universalität von Jarāmaraṇa. Altern und Tod betreffen alle an Bedingungen geknüpften Wesen im Saṃsāra, unabhängig von ihrem Status, Reichtum oder ihrer Macht – Menschen, Tiere, Götter und Höllenwesen gleichermaßen. Selbst Erleuchtete (Arahants) sind dem Zerfall ihres physischen Körpers unterworfen, auch wenn sie dem Kreislauf der Wiedergeburten entronnen sind.

Jarāmaraṇa im Kontext des Bedingten Entstehens ( Paṭiccasamuppāda )

Die tiefere Bedeutung von Jarāmaraṇa erschließt sich vor allem durch seine Einbettung in die Lehre vom Bedingten Entstehen (Pali: paṭiccasamuppāda, Sanskrit: pratītyasamutpāda). Diese zentrale Doktrin des Buddhismus beschreibt das grundlegende Gesetz der Kausalität und Interdependenz aller Phänomene. Sie besagt, dass nichts aus sich selbst heraus oder ohne Ursache existiert, sondern alles in Abhängigkeit von spezifischen Bedingungen entsteht und vergeht: „Wenn dieses ist, entsteht jenes; mit dem Entstehen dieses entsteht jenes. Wenn dieses nicht ist, entsteht jenes nicht; mit dem Aufhören dieses hört jenes auf.“ Die Wichtigkeit dieser Lehre wird durch die Aussage des Buddha unterstrichen: „Wer bedingtes Entstehen sieht, sieht den Dhamma (die Lehre). Wer den Dhamma sieht, sieht bedingtes Entstehen.“.

Die bekannteste Darstellung des Bedingten Entstehens ist die zwölfgliedrige Kette (Dvādaśa-nidāna), die den Prozess erklärt, wie durch eine Abfolge von Ursachen und Wirkungen der Kreislauf der Wiedergeburten (Saṃsāra) aufrechterhalten wird und wie Leiden (Dukkha) entsteht.

Die zwölf Glieder des Bedingten Entstehens

Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Standardreihenfolge der zwölf Glieder:

Nr. Pali Term Deutsche Übersetzung
1 Avijjā Unwissenheit
2 Saṅkhārā (Willens-)Formationen, Gestaltungen
3 Viññāṇa Bewusstsein
4 Nāmarūpa Name-und-Form, Geist-und-Körper
5 Saḷāyatana Sechs Sinnestore/-bereiche
6 Phassa Kontakt, Berührung
7 Vedanā Gefühl, Empfindung
8 Taṇhā Begehren, Durst
9 Upādāna Anhaften, Ergreifen
10 Bhava Werden, Existenz
11 Jāti Geburt
12 Jarāmaraṇa Altern und Tod

Jarāmaraṇa bildet das zwölfte und letzte Glied dieser Kette. Seine Entstehung ist direkt durch das vorhergehende Glied, die Geburt (Jāti), bedingt. Die Formel lautet: Jāti-paccayā jarāmaraṇaṁ – „Mit Geburt als Bedingung entsteht Altern und Tod“. Dies verdeutlicht, dass der Akt der Geburt in eine bedingte Existenzform – sei es als Mensch, Tier oder Gott – unausweichlich die Bedingungen für den späteren Verfall und Tod schafft. Die gesamte Kette, beginnend mit der grundlegenden Unwissenheit (Avijjā) über die wahre Natur der Dinge (insbesondere die Vier Edlen Wahrheiten und die Nicht-Existenz eines permanenten Selbst), führt über verschiedene psychologische und physische Prozesse zur Wiedergeburt und damit unweigerlich zu Alter und Tod.

Die Darstellung der zwölf Glieder schließt oft mit der Feststellung: Evam-etassa kevalassa dukkhakkhandhassa samudayo hoti – „So kommt die Entstehung dieser ganzen Masse des Leidens zustande“. Diese Aussage verbindet die gesamte Kausalkette, die in Jarāmaraṇa samt Kummer, Klagen, Schmerz, Betrübnis und Verzweiflung gipfelt, explizit mit dem Ursprung des Leidens. Jarāmaraṇa ist somit nicht als isoliertes, zufälliges Unglück zu verstehen, sondern als der logische und vorhersagbare Endpunkt eines durch spezifische, unpersönliche Bedingungen gesteuerten Prozesses. Das Erkennen dieser Bedingtheit ist entscheidend, denn es eröffnet die Möglichkeit, den Prozess umzukehren. So wie das Entstehen der Glieder zum Leiden führt, führt das Aufhören (Nirodha) der Bedingungen zum Aufhören des Leidens, wie es in der umgekehrten Reihenfolge des Paṭiccasamuppāda dargelegt wird (Jāti-nirodhā jarāmaraṇaṁ… nirodho hoti).

Lehrreden (Suttas) zu Jarāmaraṇa im Dīgha Nikāya (DN) und Majjhima Nikāya (MN)

Die Sammlungen der längeren (Dīgha Nikāya) und mittleren Lehrreden (Majjhima Nikāya) enthalten einige der wichtigsten Diskurse, die sich eingehend mit Jarāmaraṇa und seiner Rolle im Bedingten Entstehen befassen.

DN 15: Mahānidāna Sutta (Die große Lehrrede von den Ursachen / Große Lehrrede von der Entstehung)

Diese Lehrrede gilt als eine der tiefgründigsten Analysen des Bedingten Entstehens im Palikanon. Obwohl die hier dargestellte Kette leicht von der Standardform abweicht (sie beginnt bei Jarāmaraṇa und führt zurück bis zur wechselseitigen Abhängigkeit von Bewusstsein und Name-und-Form, wobei Avijjā und Saṅkhārā nicht explizit genannt werden), erläutert sie die Verknüpfung zwischen Geburt und Altern/Tod auf besonders eindringliche Weise. Der Buddha fragt Ānanda rhetorisch: „Wenn es, Ānanda, überhaupt keine Geburt gäbe, nirgendwo und auf keine Weise […]; würde dann wohl bei gänzlicher Abwesenheit von Geburt, durch Aufhören der Geburt, Altern und Tod offenbar werden?“ Ānanda verneint dies, worauf der Buddha schließt: „Darum eben, Ānanda, ist dies die Ursache, dies der Grund, dies der Ursprung, dies die Bedingung für Altern und Tod, nämlich Geburt.“. Diese kontrafaktische Fragestellung macht die kausale Abhängigkeit unmissverständlich klar.

Darüber hinaus legt das Sutta einen besonderen Fokus auf die wechselseitige Bedingtheit von Bewusstsein (Viññāṇa) und Geist-Körperlichkeit (Nāmarūpa) als zentralen Motor, der den gesamten Zyklus antreibt, welcher letztlich in Jāti und Jarāmaraṇa mündet. Das Verständnis dieser Dynamik bietet tiefere Einblicke in die Mechanismen, die zur Fortsetzung des Leidenszyklus führen.

Zitat: DN 15, Mahānidāna Sutta (Die große Lehrrede von den Ursachen / Große Lehrrede von der Entstehung). Quelle: SuttaCentral.net/dn15.

DN 22: Mahāsatipaṭṭhāna Sutta (Die große Lehrrede über die Grundlagen der Achtsamkeit)

(Anmerkung: Eine inhaltlich sehr ähnliche Version findet sich als MN 10, Satipaṭṭhāna Sutta).

Dieser grundlegende Text zur Meditationspraxis behandelt Jarāmaraṇa nicht primär auf konzeptueller Ebene, sondern bietet direkte Methoden zur Kontemplation der Vergänglichkeit und des körperlichen Verfalls als Teil der Etablierung von Achtsamkeit (Sati). Im Abschnitt über die Körperbetrachtung (Kāyānupassanā) findet sich die Übung der „Neun Leichenfeldbetrachtungen“ (Navasīvathika Pabbaṁ). Hierbei wird der Meditierende angeleitet, sich Leichname in verschiedenen Stadien des Verfalls vorzustellen – von frisch gestorben und aufgedunsen über von Tieren zerfressen bis hin zu verwitterten Knochen – und dabei zu reflektieren: „Wahrlich, auch dieser mein Körper ist von derselben Beschaffenheit, er wird ebenso werden und ist diesem Zustand nicht entgangen.“. Diese Praxis dient der direkten Konfrontation mit der Realität von Maraṇa (Tod) und Jarā (Verfall) und zielt darauf ab, die Anhaftung an den eigenen Körper zu schwächen und die Furcht vor der Sterblichkeit zu überwinden.

Darüber hinaus beinhaltet die gesamte Satipaṭṭhāna-Praxis die Beobachtung des Entstehens (samudaya) und Vergehens (vaya) aller Phänomene (Körperempfindungen, Gefühle, Geisteszustände, Geistesobjekte), was grundlegend zu einem tieferen Verständnis der universellen Gesetzmäßigkeit der Vergänglichkeit (Anicca) führt und den Geist darauf vorbereitet, Jarāmaraṇa als natürlichen Teil des bedingten Daseins zu akzeptieren.

Zitat: DN 22, Mahāsatipaṭṭhāna Sutta (Die große Lehrrede über die Grundlagen der Achtsamkeit). Quelle: SuttaCentral.net/dn22.

MN 9: Sammādiṭṭhi Sutta (Die Lehrrede über Rechte Ansicht)

In dieser Lehrrede erläutert der ehrwürdige Sāriputta, einer der Hauptschüler des Buddha, die Rechte Ansicht (Sammādiṭṭhi), den ersten und grundlegenden Faktor des Edlen Achtfachen Pfades. Er tut dies, indem er zentrale buddhistische Konzepte systematisch durch die Struktur der Vier Edlen Wahrheiten analysiert: das Phänomen selbst, dessen Ursprung (samudaya), dessen Aufhören (nirodha) und den Weg, der zu dessen Aufhören führt (nirodhagāminī paṭipadā). Diese Analyse wird auch auf die Glieder des Bedingten Entstehens angewendet.

Sāriputta erklärt, dass ein edler Schüler Rechte Ansicht besitzt, wenn er Jarāmaraṇa versteht, den Ursprung von Jarāmaraṇa (nämlich Jāti), das Aufhören von Jarāmaraṇa (welches mit dem Aufhören von Jāti eintritt) und den Pfad, der zum Aufhören von Jarāmaraṇa führt (nämlich den Edlen Achtfachen Pfad). Das Verständnis dieser spezifischen Kausalverknüpfung wird somit explizit als integraler Bestandteil der Rechten Ansicht definiert. Es geht nicht nur um intellektuelles Wissen, sondern um eine Einsicht, die die Grundlage für den gesamten Befreiungsweg bildet. Das Erkennen der bedingten Natur von Altern und Tod ist somit ein wesentlicher Aspekt davon, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind.

Zitat: MN 9, Sammādiṭṭhi Sutta (Die Lehrrede über Rechte Ansicht). Quelle: SuttaCentral.net/mn9.

Weitere Erwähnungen im Palikanon

Über die genannten Hauptlehrreden hinaus finden sich zahlreiche weitere Erwähnungen und Erläuterungen von Jarāmaraṇa und verwandten Themen im Palikanon, insbesondere im Samyutta Nikāya und im Aṅguttara Nikāya.

Samyutta Nikāya (SN): Das Nidāna Saṃyutta (SN 12)

Der Samyutta Nikāya (Die Gruppierte Sammlung) ordnet Lehrreden thematisch an. Das gesamte 12. Kapitel, das Nidāna Saṃyutta („Verbundene Lehrreden über Ursachen“ oder „über Bedingtes Entstehen“), ist ausschließlich dem Paṭiccasamuppāda gewidmet. Es enthält eine Fülle von Suttas, die die zwölf Glieder und ihre Beziehungen untersuchen.

  • SN 12.1 (Paṭiccasamuppāda Sutta): Präsentiert die grundlegende Vorwärts- und Rückwärtssequenz der Kette, einschließlich Jāti paccayā Jarāmaraṇaṁ… und Jāti nirodhā Jarāmaraṇaṁ… nirodho hoti (Mit Geburt als Bedingung… / Mit dem Aufhören der Geburt hört Altern und Tod auf…).
  • SN 12.2 (Vibhaṅga Sutta): Liefert die detaillierten Standarddefinitionen für jedes der zwölf Glieder, einschließlich der bereits zitierten Definitionen von Jarā und Maraṇa.
  • SN 12.71 (Samaṇabrāhmaṇa Sutta): Stellt fest, dass wahre Asketen und Brahmanen diejenigen sind, die Jarāmaraṇa, dessen Ursprung, dessen Aufhören und den Pfad, der zu dessen Aufhören führt, verstehen. Dies bekräftigt die Bedeutung dieses Verständnisses für den spirituellen Weg, ähnlich wie in MN 9.

Zitat: SN 12, Nidāna Saṃyutta (Die Lehrreden über Ursachen / Bedingtes Entstehen). Beispiele: SN 12.1, SN 12.2, SN 12.71. Quelle: SuttaCentral.net/sn12.

Samyutta Nikāya (SN): Weitere relevante Suttas

SN 3.3 (Jarāmaraṇa Sutta / Rāja Sutta): Berichtet von einer Frage König Pasenadis an den Buddha, ob es eine Befreiung von Alter und Tod gäbe. Der Buddha verneint dies und erklärt, dass niemand, der geboren wurde – ob König, Brahmane, Händler, Bauer oder selbst ein erleuchteter Mönch hinsichtlich seines physischen Körpers – dem Altern und Sterben entgehen kann. Diese Sutta unterstreicht eindrücklich die Unausweichlichkeit und Universalität von Jarāmaraṇa für alle bedingten Existenzen.

Zitat: SN 3.3, Jarāmaraṇa Sutta / Rāja Sutta (Lehrrede über Altern und Tod / An den König). Quelle: SuttaCentral.net/sn3.3.

Aṅguttara Nikāya (AN): Kontemplation über Vergänglichkeit und Tod

Der Aṅguttara Nikāya (Die Angereihte Sammlung), der Lehrreden nach numerischen Gruppen ordnet, enthält ebenfalls wichtige Texte, die das Verständnis von Jarāmaraṇa unterstützen, insbesondere durch die Betonung von Vergänglichkeit (Anicca) und die Praxis der Achtsamkeit auf den Tod (Maraṇasati).

AN 5.57: Upajjhatthana Sutta (Die Lehrrede über die Themen zur Kontemplation / Fünf Betrachtungen): Diese bekannte und oft zitierte Lehrrede empfiehlt fünf Tatsachen zur regelmäßigen Kontemplation für Laien und Ordinierte:

  1. ‚Ich unterliege dem Altern, bin dem Altern nicht entkommen.‘ (Jarādhammomhi jaraṃ anatīto)
  2. ‚Ich unterliege der Krankheit, bin der Krankheit nicht entkommen.‘ (Vyādhidhammomhi vyādhiṃ anatīto)
  3. ‚Ich unterliege dem Tod, bin dem Tod nicht entkommen.‘ (Maraṇadhammomhi maraṇaṃ anatīto)
  4. ‚Von allem, was mir lieb und angenehm ist, muss ich mich trennen und scheiden.‘ (Sabbehi me piyehi manāpehi nānābhāvo vinābhāvo)
  5. ‚Ich bin der Besitzer meiner Taten (Karma), Erbe meiner Taten, Taten sind mein Ursprung, Taten mein Verwandter, Taten meine Zuflucht. Was auch immer ich für Taten vollbringe, gute oder schlechte, deren Erbe werde ich sein.‘ (Kammassakomhi kammadāyādo…).

Der Zweck dieser Reflexionen wird explizit genannt: Die Kontemplation über Altern, Krankheit und Tod dient dazu, den Rausch (die „Berauschtheit“, mada) der Jugend, der Gesundheit und des Lebens zu überwinden oder zumindest zu schwächen. Diese Sutta bietet somit eine sehr konkrete, alltagstaugliche Praxis, um sich den Kernaspekten von Jarāmaraṇa (Altern, Tod) und dem damit verbundenen Leid der Trennung (vinābhāvo) bewusst zu werden und eine heilsame Geisteshaltung dazu zu entwickeln. Sie schlägt eine Brücke zwischen dem tiefgründigen Verständnis des Bedingten Entstehens und einer zugänglichen spirituellen Übung.

Achtsamkeit auf den Tod (Maraṇasati): Neben AN 5.57 wird die formale Meditationspraxis der Achtsamkeit auf den Tod (Maraṇasati) an verschiedenen Stellen im Aṅguttara Nikāya (z.B. AN 6.19, AN 6.20, AN 8.74) und anderen Teilen des Kanons erwähnt und empfohlen. Sie dient dazu, ein Bewusstsein für die eigene Sterblichkeit zu kultivieren, spirituelle Dringlichkeit (Saṃvega) zu wecken und die Einsicht in die Vergänglichkeit zu vertiefen.

Zitat: AN 5.57, Upajjhatthana Sutta (Die Lehrrede über die Themen zur Kontemplation / Fünf Betrachtungen). Quelle: SuttaCentral.net/an5.57.

Zusammenfassung und Ausblick

Jarāmaraṇa, das Altern und der Tod, ist im frühen Buddhismus weit mehr als ein biologisches Faktum. Es repräsentiert einen zentralen Aspekt von Dukkha, der grundlegenden Unzulänglichkeit des Daseins, und umfasst neben dem physischen Verfall und dem Sterben auch das damit verbundene psychische Leid wie Kummer, Klagen, Schmerz, Betrübnis und Verzweiflung.

Die Lehre vom Bedingten Entstehen (Paṭiccasamuppāda) zeigt Jarāmaraṇa als das zwölfte Glied einer Kausalkette, das unausweichlich aus der Geburt (Jāti) folgt. Diese Einbettung verdeutlicht, dass Altern und Tod keine zufälligen Ereignisse sind, sondern gesetzmäßige Konsequenzen eines durch Unwissenheit und Begehren angetriebenen Prozesses.

Das Verständnis von Jarāmaraṇa und seiner Ursachen ist daher keine Quelle des Pessimismus, sondern ein fundamentaler Schritt auf dem buddhistischen Weg. Es ist, wie im Sammādiṭṭhi Sutta (MN 9) dargelegt, ein wesentlicher Bestandteil der Rechten Ansicht (Sammādiṭṭhi), die den Edlen Achtfachen Pfad zur Befreiung einleitet.

Der Palikanon bietet sowohl tiefgründige Analysen dieses Themas, wie im Mahānidāna Sutta (DN 15) und im Nidāna Saṃyutta (SN 12), als auch praktische Methoden zur Kultivierung einer heilsamen Auseinandersetzung damit, wie die Achtsamkeitsübungen im Mahāsatipaṭṭhāna Sutta (DN 22) und die Kontemplationen im Upajjhatthana Sutta (AN 5.57).

Die hier vorgestellten Lehrreden und Konzepte bieten einen Einstiegspunkt. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Originaltexten, beispielsweise über die Ressource SuttaCentral.net, kann das Verständnis dieser fundamentalen Aspekte der buddhistischen Lehre weiter fördern und zur persönlichen Reflexion anregen. Die Konfrontation mit der Realität von Jarāmaraṇa kann so von einer Quelle der Angst zu einem Katalysator für spirituelles Wachstum und die Entwicklung von Weisheit und Mitgefühl werden.

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