
Diṭṭhāsava (Ansichtentrieb): Die Fessel der falschen Ansichten
Verständnis und Überwindung des Ansichtentriebs im Buddhismus
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
Das Studium des frühen Buddhismus führt unweigerlich zur Begegnung mit einer Vielzahl von Begriffen in Pali, der Sprache, in der die ältesten Lehrreden des Buddha überliefert sind. Diese Begriffe sind mehr als nur Vokabeln; sie repräsentieren tiefgreifende psychologische und philosophische Konzepte, deren Verständnis essenziell für die Erfassung der buddhistischen Lehre und Praxis ist. Ein solcher Schlüsselbegriff ist Diṭṭhāsava, oft übersetzt als „Ansichtentrieb“ oder „Trieb der Ansichten“.
Dieser Bericht widmet sich dem Begriff Diṭṭhāsava. Er wird definiert, in seinen größeren konzeptuellen Rahmen – die Āsavas (Triebe, Befleckungen) – eingeordnet und anhand zentraler Lehrreden (Suttas) aus den Sammlungen der längeren und mittleren Lehrreden (Dīgha Nikāya und Majjhima Nikāya) des Palikanons beleuchtet. Ziel ist es, interessierten Lesern, sowohl solchen mit Vorkenntnissen als auch Anfängern, einen fundierten Zugang zu diesem wichtigen Konzept zu ermöglichen und aufzuzeigen, wo im Kanon weiterführende Informationen zu finden sind. Dabei dient die Online-Ressource SuttaCentral.net als primäre Referenz für Textstellen und Übersetzungen.
2. Die Āsavas: Die tief verwurzelten Triebe
Definition und Bedeutung von Āsava
Der Pali-Begriff Āsava (Sanskrit: Āsrava) ist komplex und vielschichtig. Seine etymologische Wurzel liegt im Verb su, was „fließen“ bedeutet. Die Vorsilbe ā- hat zu unterschiedlichen Interpretationen der Fließrichtung geführt: Einige Gelehrte übersetzen Āsava als „Ein-Flüsse“ (influxes, influences), andere als „Aus-Flüsse“ (outflows, effluents). Unabhängig von der exakten etymologischen Herleitung beschreiben die Lehrreden die Āsavas als Zustände, die „beflecken, Existenzerneuerung bringen, Schwierigkeiten bereiten, in Leiden reifen und zu zukünftiger Geburt, Altern und Tod führen“ (vgl. MN 36).
Daher werden Āsavas oft metaphorisch übersetzt als:
- Triebe: Tiefsitzende Neigungen oder Impulse.
- Befleckungen / Verunreinigungen / Verderbnisse: Mentale Unreinheiten, die den Geist trüben.
- Gärstoffe / Fermentationen: Etwas, das im Geist gärt und ihn berauscht oder korrumpiert.
- Kanker: Etwas, das den Geist langsam zersetzt oder korrumpiert.
- Rauschmittel: Ideen oder Neigungen, die den Geist berauschen und ihn daran hindern, sich zu Höherem zu erheben.
In den Texten werden sie auch mit Eiter verglichen, der aus einer Wunde sickert, oder mit lange fermentiertem Alkohol, der berauscht. Sie stellen fundamentale mentale Befleckungen (kilesa) dar, die Lebewesen im leidvollen Kreislauf der Wiedergeburten (saṃsāra) gefangen halten. Die vollständige Überwindung und Zerstörung dieser Triebe (āsavakkhaya) ist ein zentrales Merkmal der Arahantschaft, dem Endziel des buddhistischen Pfades.
Die Vier Āsavas im Überblick
Obwohl manche Suttas, möglicherweise ältere, nur drei Āsavas nennen (Kāmāsava, Bhavāsava, Avijjāsava), ist die häufig in den Kommentaren und auch in einigen Suttas (z.B. DN 16, Pts, Vibh) gefundene Liste der vier Āsavas maßgeblich für das Verständnis von Diṭṭhāsava. Diese sind:
- Kāmāsava (Sinnestrieb): Das Verlangen nach und Anhaften an angenehmen Sinneserfahrungen, die durch die fünf physischen Sinne vermittelt werden (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten). Dieser Trieb wird mit Gier (lobha) in Bezug auf Sinnesobjekte identifiziert.
- Bhavāsava (Werdenstrieb): Das Verlangen nach und Anhaften an fortgesetzter Existenz, sei es in dieser Welt, in feinstofflichen Himmelswelten oder formlosen Bereichen. Dies schließt den Glauben an eine ewige Seele oder ein beständiges Selbst ein. Auch dieser Trieb wird mit Gier (lobha) identifiziert, hier bezogen auf das Werden und Sein.
- Diṭṭhāsava (Ansichtentrieb): Das Verlangen nach und Anhaften an falschen Ansichten, Meinungen, Spekulationen und Doktrinen über die Wirklichkeit. Dieser Trieb wird mit dem Geistesfaktor der falschen Ansicht (diṭṭhi) identifiziert.
- Avijjāsava (Unwissenheitstrieb): Die grundlegende Unwissenheit oder Verblendung (moha) bezüglich der wahren Natur der Phänomene, insbesondere der Vier Edlen Wahrheiten und der Merkmale von Unbeständigkeit (anicca), Leidhaftigkeit (dukkha) und Nicht-Selbst (anattā).
Die folgende Tabelle fasst die vier Āsavas und ihre Überwindung auf dem buddhistischen Pfad zusammen:
Tabelle 1: Die Vier Āsavas
Pali-Begriff | Deutsche Übersetzung | Kurzbeschreibung | Überwindung durch/auf Stufe von |
---|---|---|---|
Kāmāsava | Sinnestrieb | Verlangen nach/Anhaften an Sinnesfreuden | Nichtwiederkehr (anāgāmitā) |
Bhavāsava | Werdenstrieb | Verlangen nach/Anhaften an Existenz/Wiedergeburt | Arahantschaft (arahatta) |
Diṭṭhāsava | Ansichtentrieb | Verlangen nach/Anhaften an falschen Ansichten/Spekulationen | Stromeintritt (sotāpatti) |
Avijjāsava | Unwissenheitstrieb | Grundlegende Unwissenheit bzgl. der Vier Edlen Wahrheiten, anicca, dukkha, anattā | Arahantschaft (arahatta) |
Es ist wichtig zu verstehen, dass die Āsavas keine statischen Entitäten sind. Sie stellen vielmehr die an der Oberfläche sichtbaren Manifestationen tiefer liegender psychologischer Strukturen dar. Texte deuten darauf hin, dass die Āsavas als aktive Begierden oder Triebe aus den Anusaya aufsteigen. Anusaya sind latente, „schlafende“ Neigungen oder mentale Gärstoffe, vergleichbar mit Schlamm am Boden eines Wasserglases, der bei Störung aufgewirbelt wird. Ein starker Sinnesreiz (ārammaṇa) kann eine solche latente Neigung aktivieren, die sich dann als Āsava manifestiert. Dieser Prozess wird wiederum durch die Gati – die tief verwurzelten Gewohnheiten und Charakterzüge einer Person – geformt und aufrechterhalten. Handlungen, die aus den Āsavas entstehen, verstärken die Gati, welche wiederum die Anusaya nähren. Dies verdeutlicht, dass die Überwindung der Āsavas mehr erfordert als nur die momentane Unterdrückung von Begierden; sie verlangt eine grundlegende Transformation der latenten Neigungen und Gewohnheitsmuster durch kontinuierliche Praxis von Ethik (sīla), Konzentration (samādhi) und Weisheit (paññā).
3. Diṭṭhāsava – Der Trieb der Ansichten
Innerhalb des Konzepts der Āsavas nimmt Diṭṭhāsava eine besondere Stellung ein.
Detaillierte Definition
Diṭṭhāsava wird als der „Kanker der falschen Ansicht“ oder der „Rauschtrank der Spekulation“ beschrieben. Er bezeichnet das Festhalten an und das Anhaften (upādāna) an falschen, unbegründeten oder spekulativen Theorien, Dogmen und Meinungen über die grundlegende Natur der Realität, des Selbst (Seele, Ego) und der Welt. Es ist die Neigung des Geistes, sich in intellektuellen Konstrukten zu verfangen und diese für die letzte Wahrheit zu halten.
Zusammenhang mit Diṭṭhi (Ansicht)
Der Begriff Diṭṭhāsava ist untrennbar mit diṭṭhi verbunden. Diṭṭhi bedeutet allgemein „Sichtweise“, „Meinung“, „Glaube“ oder „Theorie“. Im Kontext von Diṭṭhāsava ist jedoch spezifisch das Anhaften an micchā diṭṭhi, also „falsche Ansicht“, gemeint.
Der Palikanon identifiziert zahlreiche solcher falschen Ansichten. Dazu gehören insbesondere:
- Ewigkeitsglaube (sassatadiṭṭhi): Die Annahme, dass die Welt und/oder die Seele ewig und unveränderlich sind.
- Vernichtungsglaube (ucchedadiṭṭhi): Die Annahme, dass das Selbst oder die Persönlichkeit mit dem Tod vollständig ausgelöscht wird und es keine Kontinuität, keine Wiedergeburt und keine Konsequenzen für Handlungen gibt.
- Persönlichkeitsglaube/Ich-Ansicht (attadiṭṭhi, sakkāyadiṭṭhi): Der Glaube an die Existenz eines permanenten, unabhängigen Selbst oder Egos als Kern der Persönlichkeit.
- Leugnung von Kamma und Wiedergeburt (akiriyadiṭṭhi, natthikadiṭṭhi): Die Ansicht, dass Handlungen keine moralischen Konsequenzen haben und es keine Wiedergeburt gibt.
Das Brahmajāla Sutta (DN 1) listet systematisch 62 verschiedene Arten solcher spekulativen Ansichten auf, die sich auf Vergangenheit, Zukunft und die Beschaffenheit der Welt beziehen.
Der Gegenpol zu micchā diṭṭhi ist sammā diṭṭhi, die „Rechte Ansicht“. Sie ist der erste Faktor des Edlen Achtfachen Pfades und beinhaltet das grundlegende Verständnis der Vier Edlen Wahrheiten, des Prinzips von Kamma und Wiedergeburt sowie des Bedingten Entstehens (paṭiccasamuppāda). Die Entwicklung von sammā diṭṭhi ist der Schlüssel zur Überwindung des Diṭṭhāsava.
Die Gefahr des Anhaftens
Das eigentliche Problem liegt weniger in der Existenz von Ansichten an sich, sondern im Anhaften (upādāna) an ihnen. Wenn Ansichten für absolut wahr gehalten werden, wenn man sich mit ihnen identifiziert und sie gegen andere verteidigt, werden sie zu einer Quelle von Verblendung, Streit und Leiden. Sie bilden ein „Dickicht“ (diṭṭhi-gahana) oder ein „Netz“ (diṭṭhi-jāla), in dem sich der Geist verfängt. Selbst die Ansicht, keine Ansicht zu haben (wie im Fall von Dīghanakha in MN 74), kann zu einer Position werden, an der festgehalten wird.
Die besondere Bedeutung des Diṭṭhāsava ergibt sich daraus, dass er als das primäre Hindernis für den Eintritt in den Strom (sotāpatti), die erste Stufe der buddhistischen Heiligkeit, gilt. Der Stromeintritt ist dadurch gekennzeichnet, dass die ersten drei der zehn Fesseln (saṃyojana), die an den saṃsāra binden, durchbrochen werden: 1. Persönlichkeitsglaube (sakkāyadiṭṭhi), 2. skeptischer Zweifel (vicikicchā) und 3. Anhaften an Regeln und Ritualen (sīlabbataparāmāsa). Der Persönlichkeitsglaube (sakkāyadiṭṭhi) ist eine zentrale Form der falschen Ansicht (micchā diṭṭhi), und das Anhaften daran ist genau das, was Diṭṭhāsava ausmacht. Die Überwindung des Diṭṭhāsava durch die erste tiefgreifende Einsicht in die unpersönliche Natur der Phänomene (anattā) und die Entwicklung Rechter Ansicht (sammā diṭṭhi) ist somit das entscheidende Ereignis des Stromeintritts. Dies unterstreicht, warum die Auseinandersetzung mit den eigenen Ansichten und die Kultivierung von Weisheit nicht nur eine intellektuelle Übung ist, sondern den fundamentalen ersten Schritt auf dem praktischen Weg zur Befreiung darstellt. Diṭṭhāsava ist gewissermaßen der grundlegendste der Triebe, dessen Überwindung die Tür zum Pfad öffnet.
4. Lehrreden (Suttas) zu Diṭṭhāsava und den Āsavas
Die Sammlungen der längeren und mittleren Lehrreden (Dīgha Nikāya und Majjhima Nikāya) enthalten mehrere Suttas, die für das Verständnis von Diṭṭhāsava und den Āsavas von zentraler Bedeutung sind.
Aus dem Majjhima Nikāya (MN)
- MN 2: Sabbāsava Sutta (Alle Triebe)
- Pali/Deutscher Titel: Sabbāsava Sutta / Alle Triebe.
- Relevanz: Dieses Sutta gilt als die maßgebliche Lehrrede über die Methoden zur Überwindung aller Triebe und wird häufig zitiert, wenn es um die praktische Bewältigung der Āsavas geht.
- Inhalt bzgl. Diṭṭhāsava: Das Sutta beginnt mit der Feststellung, dass die Zerstörung der Triebe nur für denjenigen möglich ist, der „weiß und sieht“, und zwar den Unterschied zwischen „weisem Erwägen“ (yoniso manasikāra) und „unweisem Erwägen“ (ayoniso manasikāra). Unweises Erwägen führt dazu, dass unentstandene Triebe (wie der Sinnestrieb, Werdenstrieb und Unwissenheitstrieb) entstehen und bereits entstandene zunehmen. Das Sutta beschreibt dieses unweise Erwägen explizit als das Nachsinnen über spekulative Fragen bezüglich des Selbst in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: „Gab es mich?“, „Bin ich?“, „Was bin ich?“, „Woher kam dieses Wesen?“. Solche Spekulationen sind der Nährboden für falsche Ansichten und damit für den Diṭṭhāsava. Das Sutta listet sechs spezifische falsche Ansichten auf, die daraus entstehen, darunter „Selbst existiert für mich“ und „Kein Selbst existiert für mich“ (wobei letzteres als materialistischer Vernichtungsglaube zu verstehen ist, nicht als die buddhistische Lehre vom Nicht-Selbst). Die erste der sieben vorgestellten Methoden zur Überwindung der Triebe ist die „Überwindung durch Sehen“ (dassanā pahātabbā). Dies bezieht sich auf das „Sehen“ im Sinne von Einsicht, insbesondere das Verstehen der Vier Edlen Wahrheiten durch weises Erwägen. Wer die Dinge im Licht von „Dies ist Leiden“, „Dies ist die Ursache des Leidens“, „Dies ist die Aufhebung des Leidens“, „Dies ist der Pfad zur Aufhebung des Leidens“ betrachtet, bei dem entstehen die Triebe, insbesondere der Ansichts- und Unwissenheitstrieb, nicht bzw. werden überwunden. MN 2 zeigt somit klar den Zusammenhang zwischen unweiser Spekulation und dem Entstehen von Diṭṭhāsava sowie die zentrale Rolle von rechter Einsicht (basierend auf den Vier Edlen Wahrheiten) für dessen Überwindung.
- Quellenangabe: MN 2, Sabbāsava Sutta (Alle Triebe), verfügbar auf SuttaCentral: https://suttacentral.net/mn2 (Deutsche Übersetzung: Mettiko Bhikkhu).
- MN 74: Dīghanakha Sutta (An Dīghanakha)
- Pali/Deutscher Titel: Dīghanakha Sutta / An Dīghanakha.
- Relevanz: Diese Lehrrede illustriert auf prägnante Weise die Problematik des Festhaltens an Ansichten, selbst wenn diese eine skeptische oder nihilistische Form annehmen.
- Inhalt bzgl. Diṭṭhāsava: Der Wanderasket Dīghanakha („Langnagel“) tritt an den Buddha heran und erklärt seine Position: „Nichts ist mir annehmbar“ (sabbaṁ me nakkhamati). Der Buddha weist ihn darauf hin, dass auch diese Ansicht eine Ansicht ist, an der er festhält, und fragt ihn, ob ihm denn diese Ansicht annehmbar sei. Der Buddha analysiert dann drei Arten von Ansichten: 1. „Alles ist mir annehmbar“, 2. „Nichts ist mir annehmbar“, 3. „Einiges ist mir annehmbar, einiges nicht“. Er zeigt auf, dass das Festhalten an jeder dieser Positionen zu Konflikt, Streit und Leid führt. Entscheidend ist jedoch, dass der Buddha die Debatte nicht auf der rein intellektuellen Ebene fortführt. Stattdessen lenkt er Dīghanakhas Aufmerksamkeit auf die direkte Erfahrung: Er fordert ihn auf, den eigenen Körper als unbeständig, leidhaft und nicht-selbst zu betrachten und ebenso die drei Arten von Gefühlen (vedanā – angenehm, schmerzhaft, neutral) zu analysieren. Durch diese Hinwendung zur direkten Einsicht in die Vergänglichkeit und Unzulänglichkeit der eigenen Erfahrung löst sich das Anhaften an spekulativen Ansichten auf. Die Wirkung dieser Methode wird dadurch unterstrichen, dass der zuhörende Sāriputta während dieser Lehrrede die Arahantschaft erlangt, also die vollständige Befreiung von allen Trieben, einschließlich des Diṭṭhāsava. MN 74 demonstriert somit eine praktische Strategie, dem Diṭṭhāsava zu begegnen: durch die Verlagerung des Fokus von abstrakten Konzepten hin zur kontemplativen Untersuchung der unmittelbaren Erfahrung.
- Quellenangabe: MN 74, Dīghanakha Sutta (An Dīghanakha), verfügbar auf SuttaCentral: https://suttacentral.net/mn74.
Aus dem Dīgha Nikāya (DN)
- DN 1: Brahmajāla Sutta (Das Götter-Netz)
- Pali/Deutscher Titel: Brahmajāla Sutta / Das Götter-Netz oder Das allumfassende Netz der Ansichten.
- Relevanz: Dieses erste Sutta der Sammlung der langen Lehrreden bietet eine umfassende und systematische Darstellung von 62 Arten falscher Ansichten (micchā diṭṭhi), die als Grundlage und Inhalt des Diṭṭhāsava dienen.
- Inhalt bzgl. Diṭṭhāsava: Das Sutta beginnt mit der Feststellung, dass Lob und Tadel gegenüber dem Buddha oft nur oberflächliche Aspekte der Ethik betreffen. Der Buddha erklärt dann, dass sein wahres Verdienst tiefer liegt: im Durchschauen eben jener spekulativen Ansichten, an denen andere festhalten. Er katalogisiert diese Ansichten detailliert:
- 18 Ansichten, die sich auf die Vergangenheit beziehen (hauptsächlich Varianten des Ewigkeitsglaubens, basierend auf Erinnerungen an frühere Leben oder logischen Schlussfolgerungen).
- 44 Ansichten, die sich auf die Zukunft beziehen (Annahmen über die Existenz oder Nicht-Existenz nach dem Tod, über Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt etc.).
Der Buddha beschreibt, wie diese Ansichten durch Sinneskontakt und Gefühl entstehen und wie Lebewesen, die daran anhaften, sich darin verstricken wie Fische in einem Netz (jāla). Er selbst habe den Ursprung, die Gefahr und das Entkommen aus all diesen Ansichten erkannt und sei dadurch befreit. Das Brahmajāla Sutta zeigt eindrücklich die enorme Bandbreite philosophischer und metaphysischer Spekulationen auf, an die der Diṭṭhāsava anhaften kann, und stellt ihnen die Befreiung durch Einsicht gegenüber.
- Quellenangabe: DN 1, Brahmajāla Sutta (Das Götter-Netz), verfügbar auf SuttaCentral: https://suttacentral.net/dn1 (Deutsche Übersetzung: Sabbamitta).
- (Optional/Ergänzend) DN 2: Sāmaññaphala Sutta (Die Früchte des Asketenlebens)
- Pali/Deutscher Titel: Sāmaññaphala Sutta / Die Früchte des Asketenlebens oder Die Früchte des kontemplativen Lebens.
- Relevanz: Dieses Sutta beschreibt den berühmten „Stufenweisen Weg“ (anupubbasikkhā) der buddhistischen Praxis von Ethik über Konzentration bis zur Weisheit und den höheren Wissen.
- Inhalt bzgl. Āsavas: Am Höhepunkt dieses Weges, nach der Meisterung der meditativen Vertiefungen (jhāna) und der Entwicklung verschiedener Formen höheren Wissens (abhiññā), steht die „Erkenntnis der Zerstörung der Triebe“ (āsavakkhayañāṇa). Der Praktizierende erkennt klar: „Dies sind die Triebe“, „Dies ist ihre Entstehung“, „Dies ist ihre Aufhebung“, „Dies ist der Weg zu ihrer Aufhebung“. Er weiß: „Geburt ist zerstört, das heilige Leben ist gelebt, was zu tun war, ist getan, es gibt kein Zurück mehr zu irgendeinem Daseinszustand“. DN 2 rahmt somit die Überwindung aller Āsavas (implizit auch des Diṭṭhāsava als Teil davon) als die höchste und ultimative Frucht des gesamten buddhistischen Pfades ein.
- Quellenangabe: DN 2, Sāmaññaphala Sutta (Die Früchte des Asketenlebens), verfügbar auf SuttaCentral: https://suttacentral.net/dn2.
Die hier vorgestellten Lehrreden ergänzen sich in ihrem Blick auf den Diṭṭhāsava. Während DN 1 die Vielfalt der falschen Ansichten aufzeigt, die den Inhalt des Ansichtentriebs bilden, erklärt MN 2 die psychologischen Mechanismen seines Entstehens (durch ayoniso manasikāra) und die prinzipiellen Methoden seiner Überwindung (durch yoniso manasikāra und „Sehen“). MN 74 wiederum demonstriert die praktische Anwendung im Dialog, indem es zeigt, wie das Anhaften an Ansichten durch die Hinwendung zur direkten Erfahrung von Körper und Gefühl dekonstruiert werden kann. Zusammen ergeben sie ein umfassendes Bild dieses zentralen Hindernisses auf dem Weg zur Befreiung.
5. Weitere relevante Texte im Palikanon
Neben den ausführlichen Darstellungen in DN und MN finden sich auch im Samyutta Nikāya (SN) und Aṅguttara Nikāya (AN) wichtige Hinweise zu den Āsavas und Diṭṭhi.
Samyutta Nikāya (SN)
Der SN, die Sammlung der gruppierten oder verbundenen Lehrreden, enthält kein eigenes großes Kapitel (Saṃyutta), das ausschließlich den Āsavas gewidmet ist, wie es etwa für das Bedingte Entstehen (SN 12) oder die Aggregate (SN 22) der Fall ist. Dennoch werden die Āsavas in verschiedenen Suttas thematisiert.
Ein Beispiel ist das SN 38.8 Āsavā Sutta (Die Triebe). Hier fragt der Wanderer Jambukhādaka den Ehrwürdigen Sāriputta, was denn die Āsavas seien. Sāriputta antwortet, indem er die (in diesem Kontext übliche) Dreierliste nennt: den Sinnestrieb (kāmāsava), den Werdenstrieb (bhavāsava) und den Unwissenheitstrieb (avijjāsava). Auf die Frage nach dem Weg zur Überwindung dieser Triebe verweist Sāriputta auf den Edlen Achtfachen Pfad. Dies unterstreicht die grundlegende buddhistische Lehre, dass der gesamte Pfad auf die Beseitigung dieser tiefsten Verunreinigungen abzielt.
Quellenangabe: SN 38.8, Āsavā Sutta (Die Triebe), verfügbar auf SuttaCentral: https://suttacentral.net/sn38.8.
Aṅguttara Nikāya (AN)
Der AN, die Sammlung der numerisch geordneten Lehrreden, enthält zahlreiche Texte, die für das Verständnis der Āsavas und insbesondere der Bedeutung von rechter und falscher Ansicht relevant sind.
- AN 6.58 Āsavasutta (Die Triebe): Dieses Sutta ähnelt in seiner Struktur MN 2, legt aber den Fokus auf sechs spezifische Methoden zur Überwindung der Triebe, die stark auf die praktische Alltagsbewältigung im Mönchsleben ausgerichtet sind. Diese Methoden sind: Überwindung durch Zurückhaltung (saṁvara): Kontrolle der Sinnesfakultäten (Auge, Ohr etc.). Überwindung durch Gebrauch (paṭisevanā): Weiser Gebrauch der vier Notwendigkeiten (Roben, Nahrung, Unterkunft, Medizin) nur zum Zweck der Lebenserhaltung und Unterstützung der Praxis, nicht für Genuss oder Luxus. Überwindung durch Ertragen (adhivāsanā): Geduldiges Ertragen von schwierigen äußeren Bedingungen (Hitze, Kälte, Hunger, Durst, Insektenstiche) und unangenehmen Gefühlen (Schmerz, Kritik). Überwindung durch Vermeiden (parivajjanā): Meiden von Gefahren (wilde Tiere, gefährliche Orte) und unheilsamen Kontakten (ungeeignete Sitzplätze, Gegenden, schlechte Freunde). Überwindung durch Beseitigen (vinodanā): Aktives Vertreiben von unheilsamen Gedanken (Begierde, Hass, Gewalt). Überwindung durch Entfalten (bhāvanā): Kultivierung der sieben Erleuchtungsglieder (Achtsamkeit, Energie, Freude etc.). Dieses Sutta verdeutlicht, wie die Bewältigung der Āsavas alle Aspekte des Lebens durchdringt und eine Kombination aus passivem Ertragen, aktivem Vermeiden und bewusster Kultivierung erfordert. Quellenangabe: AN 6.58, Āsavasutta (Die Triebe), verfügbar auf SuttaCentral: https://suttacentral.net/an6.58.
- Suttas zu Rechter und Falscher Ansicht (sammā diṭṭhi / micchā diṭṭhi): Der AN hebt immer wieder die immense Bedeutung der Ansichten für den spirituellen Weg hervor.
- AN 1.306-315: Eine Serie kurzer Texte betont, dass micchā diṭṭhi (falsche Ansicht) die Ursache dafür ist, dass unheilsame Geisteszustände entstehen und heilsame verhindert werden, während sammā diṭṭhi (rechte Ansicht) das Gegenteil bewirkt. Falsche Ansicht wird mit unweisem Erwägen (ayoniso manasikāra) und rechte Ansicht mit weisem Erwägen (yoniso manasikāra) in Verbindung gebracht.
- AN 4.212 (Diṭṭhisutta): Stellt eine direkte Verbindung her zwischen falscher Ansicht (zusammen mit schlechtem Verhalten) und einer leidvollen Wiedergeburt (Hölle), sowie zwischen rechter Ansicht (zusammen mit gutem Verhalten) und einer glücklichen Wiedergeburt (Himmel).
- AN 10.104 (Bījasutta): Verwendet das Gleichnis vom Samen: Falsche Ansicht ist wie ein schlechter Samen (z.B. einer bitteren Pflanze), der, egal wie gut der Boden ist, nur bittere Früchte (Leiden) hervorbringt. Rechte Ansicht ist wie ein guter Samen (z.B. Zuckerrohr), der süße Früchte (Glück) hervorbringt. Dies illustriert, wie die grundlegende Ausrichtung des Geistes durch Ansichten das gesamte Erleben und die karmischen Resultate prägt.
- AN 6.11 & AN 6.12 (Sāraṇīyadhamma Suttas): Nennen das Teilen der rechten Ansicht (diṭṭhisāmaññatā) – jener Ansicht, die edel ist, befreiend wirkt und zur völligen Beendigung des Leidens führt – als eine der sechs Qualitäten, die zu gegenseitiger Freundlichkeit, Respekt, Harmonie und Einheit innerhalb der Gemeinschaft (des Saṅgha) beitragen.
Diese Beispiele aus dem AN unterstreichen die zentrale Rolle, die Ansichten im buddhistischen Verständnis spielen – nicht nur als intellektuelle Positionen, sondern als tiefgreifende Kräfte, die das Denken, Fühlen, Handeln und letztlich das Schicksal eines Wesens formen. Die Überwindung des Diṭṭhāsava durch die Kultivierung rechter Ansicht ist daher kein Randthema, sondern ein Kernaspekt des Befreiungsweges.
Tabelle 2: Zentrale Sutta-Referenzen zu (Diṭṭh-)Āsava
Sutta ID | Pali-Titel | Deutscher Titel | Kernbeitrag zu (Diṭṭh-)Āsava | Link (suttacentral.net) |
---|---|---|---|---|
MN 2 | Sabbāsava Sutta | Alle Triebe | 7 Methoden zur Überwindung aller Triebe; „Sehen“ & weises Erwägen gegen Ansichten über Selbst | /mn2 |
MN 74 | Dīghanakha Sutta | An Dīghanakha | Überwindung des Anhaftens an (skeptischen) Ansichten durch Einsicht in Gefühle | /mn74 |
DN 1 | Brahmajāla Sutta | Das Götter-Netz | Katalog der 62 falschen Ansichten als Inhalt/Basis des Diṭṭhāsava | /dn1 |
DN 2 | Sāmaññaphala Sutta | Die Früchte des Asketenlebens | Darstellung des Stufenwegs, der in der Zerstörung der Triebe (āsavakkhaya) gipfelt | /dn2 |
SN 38.8 | Āsavā Sutta | Die Triebe | Nennt 3 Triebe und den Achtfachen Pfad als Weg zur Überwindung | /sn38.8 |
AN 6.58 | Āsavasutta | Die Triebe | 6 praktische Methoden (Zurückhaltung, Gebrauch, Ertragen etc.) zur Überwindung der Triebe | /an6.58 |
AN 1.306-315 | (Verschiedene) | (Über Rechte/Falsche Ansicht) | Folgen von Rechter/Falscher Ansicht; Verbindung zu weisem/unweisem Erwägen | /an1.306-315 |
6. Zusammenfassung und Ausblick
Der Pali-Begriff Diṭṭhāsava bezeichnet den tief verwurzelten „Trieb“ oder „Kanker“, der sich im Anhaften an falschen Ansichten, Spekulationen und Doktrinen manifestiert. Er ist einer der vier fundamentalen Āsavas – neben dem Sinnestrieb (Kāmāsava), dem Werdenstrieb (Bhavāsava) und dem Unwissenheitstrieb (Avijjāsava) –, die als mentale Befleckungen den Geist verunreinigen und Lebewesen im Kreislauf des Leidens (saṃsāra) gefangen halten.
Die Analyse der Lehrreden, insbesondere aus dem Majjhima Nikāya (MN 2, MN 74) und dem Dīgha Nikāya (DN 1), hat gezeigt, dass Diṭṭhāsava eine zentrale Rolle spielt. Falsche Ansichten (micchā diṭṭhi), besonders der Glaube an ein permanentes Selbst (sakkāyadiṭṭhi), entstehen oft aus unweisem Nachdenken (ayoniso manasikāra) über die eigene Existenz. Das Festhalten an diesen Ansichten führt zu Verblendung und Konflikt.
Die Überwindung des Diṭṭhāsava ist der erste entscheidende Schritt auf dem Weg zur Befreiung und kennzeichnet den Stromeintritt (sotāpatti). Sie geschieht durch die Entwicklung von Weisheit (paññā) und Rechter Ansicht (sammā diṭṭhi), insbesondere durch das „Sehen“ der Vier Edlen Wahrheiten und die direkte Einsicht in die Natur der Phänomene als unbeständig, leidhaft und nicht-selbst (anicca, dukkha, anattā).
Lehrreden wie MN 2 und AN 6.58 bieten detaillierte praktische Methoden an, wie dieser und die anderen Triebe durch Achtsamkeit, Zurückhaltung, weisen Gebrauch, Ertragen, Vermeiden und aktive Kultivierung heilsamer Geisteszustände überwunden werden können.
Das Verständnis von Diṭṭhāsava ist nicht nur für das Studium der buddhistischen Lehre relevant, sondern hat auch praktische Implikationen für den Umgang mit eigenen Überzeugungen und den Ansichten anderer in einer pluralistischen Welt. Die Auseinandersetzung mit den hier vorgestellten Lehrreden kann dazu anregen, die eigenen Denkmuster kritisch zu hinterfragen und eine Haltung zu entwickeln, die weniger von starrem Festhalten und mehr von Weisheit und Mitgefühl geprägt ist.
Die Leserinnen und Leser sind ermutigt, die genannten Suttas auf SuttaCentral.net selbst zu studieren und die darin enthaltenen Lehren zu reflektieren und in ihre Praxis zu integrieren.
Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente
- Asava – Wikipedia
- Āsrava – Encyclopedia of Buddhism
- Definitions for: āsava – SuttaCentral
- āsava – Dictionary | Buddhistdoor
- Ditthasava, Diṭṭhāsava, Ditthi-asava: 4 definitions – Wisdom Library
- āsava – Palikanon
- Asavas – buddhist-spirituality.org
- Āśrava – Oxford Reference
- SN 4.38.8: Asava – Obo
- Āsava (fermentations), Anusaya (tendencies), Gati (character/habits) – Pure Dhamma
- Buddhadatta’s Concise Pali English Dictionary – Ancient Buddhist Texts
- a – Pali English glossary – Dhammadana
- MN 2, why is „no self exists for me“ a wrong view? – Q & A – SuttaCentral
- Dighanaka Sutta: To LongNails – Access to Insight
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Unwissenheitstrieb (Avijjāsava)
Hier tauchst du in den grundlegendsten aller Triebe ein: den Unwissenheitstrieb (Avijjāsava). Dies ist keine bloße Abwesenheit von Wissen, sondern eine aktive Verblendung (moha), das fundamentale Nicht-Verstehen der wahren Natur der Realität – insbesondere der Vier Edlen Wahrheiten, des Bedingten Entstehens (paṭiccasamuppāda) und der Merkmale von Vergänglichkeit (anicca), Leidhaftigkeit (dukkha) und Nicht-Selbst (anattā). Entdecke, warum avijjā als die Wurzel allen Leidens und der anderen Āsavas gilt und wie ihre Überwindung durch Weisheit (paññā) der Schlüssel zur Befreiung ist.