
Spezifische Kultivierungsmethoden (Kammaṭṭhāna) im frühen Buddhismus: Ein praxisorientierter Überblick mit Sutta-Verweisen
Ein Überblick über zentrale Meditations- und Kontemplationspraktiken gemäß dem Palikanon
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Der Weg der Kultivierung im frühen Buddhismus
Der buddhistische Pfad zur Befreiung von Leiden ist ein Weg der aktiven Transformation des Geistes.
Zwei zentrale Begriffe beschreiben diesen Prozess: Bhāvanā (Geistesentfaltung) und Kammaṭṭhāna (Meditationsgegenstände).
1.1 Bhāvanā: Das Konzept der Geistesentfaltung
Der Pali-Begriff Bhāvanā bedeutet wörtlich „Entwicklung“, „Kultivierung“ oder „Ins-Dasein-Rufen“. Er bezeichnet den aktiven Prozess der Schulung und Läuterung des Geistes.
Traditionell werden zwei Hauptaspekte unterschieden:
- Samatha-Bhāvanā: Die Entwicklung von Geistesruhe, Stille und Konzentration (samādhi). Ziel ist es, den Geist zu sammeln, zu stabilisieren und von Ablenkungen und Hindernissen zu befreien.
- Vipassanā-Bhāvanā: Die Entwicklung von Einsicht und Weisheit (paññā). Ziel ist es, die wahre Natur der Phänomene – ihre Vergänglichkeit (anicca), Leidhaftigkeit (dukkha) und Nicht-Selbst-Natur (anattā) – klar zu erkennen.
Bhāvanā ist somit kein passives Geschehenlassen, sondern eine bewusste Anstrengung, unheilsame Geisteszustände wie Gier, Hass und Verblendung zu überwinden und heilsame Qualitäten wie Achtsamkeit, Konzentration, Mitgefühl und Weisheit zu kultivieren. Das letztendliche Ziel ist die Befreiung vom Leiden (nibbāna).
1.2 Kammaṭṭhāna: Die „Arbeitsfelder“ der Meditation
Der Begriff Kammaṭṭhāna (Sanskrit: Karmasthāna) bedeutet wörtlich „Arbeitsgrundlage“, „Ort der Arbeit“ oder „Basis der Arbeit“. Ursprünglich bezog sich das Wort im alten Indien auf den Beruf oder die Beschäftigung einer Person, wie Landwirtschaft, Handel oder Viehzucht.
Im buddhistischen Kontext erhielt der Begriff eine spezifische Bedeutung: Er bezeichnet ein Meditationsobjekt oder -thema, das als „Beschäftigung“ oder „Arbeitsfeld“ für den Geist während der Meditationspraxis dient. Es ist der Fokuspunkt, auf den der Geist ausgerichtet wird, um Konzentration (samādhi) und Einsicht (vipassanā) zu entwickeln. Die Übernahme dieses Begriffs aus dem Bereich der weltlichen Arbeit unterstreicht, dass Meditation im Buddhismus nicht als passive Untätigkeit, sondern als aktive, zielgerichtete geistige Arbeit verstanden wird – die Hauptaufgabe insbesondere für Mönche und Nonnen.
Während der Begriff Kammaṭṭhāna selbst in den frühesten Lehrreden (Suttas) des Palikanons eher selten vorkommt und dort oft noch seine ursprüngliche Bedeutung hat, sind die Praktiken, die später unter diesem Begriff zusammengefasst wurden, zentraler Bestandteil der Lehre Buddhas.
Berühmt wurde die Systematisierung von 40 Kammaṭṭhāna durch den Kommentator Buddhaghosa im 5. Jh. n. Chr. in seinem Werk Visuddhimagga („Weg zur Reinheit“). Diese Liste, die teilweise auf kanonischen Quellen basiert, umfasst verschiedene Kategorien von Meditationsobjekten:
- Zehn Kasina (Visualisierungsobjekte wie Erde, Wasser, Farben)
- Zehn Asubha (Betrachtungen der Unschönheit, z.B. Leichenstadien)
- Zehn Anussati (Achtsamkeiten oder Vergegenwärtigungen), darunter Achtsamkeit auf den Atem (Ānāpānasati), auf den Tod (Maraṇasati), auf den Buddha (Buddhānussati), auf den Körper (Kāyagatāsati) etc.
- Vier Brahma-vihāra (Göttliche Verweilungszustände: Liebende Güte, Mitgefühl, Mitfreude, Gleichmut)
- Vier unkörperliche Bereiche (arūpāyatana)
- Eine Wahrnehmung der Widerwärtigkeit der Nahrung (āhāre paṭikkūla-saññā)
- Eine Analyse der vier Elemente (catudhātu-vavatthāna)
Diese Systematisierung spiegelt möglicherweise eine Entwicklung in der buddhistischen Pädagogik wider, bei der strukturierte Methoden benötigt wurden, um Praktizierende anzuleiten. Ein wichtiger Aspekt dabei ist die individualisierte Anwendung: Die Kommentare legen nahe, dass bestimmte Kammaṭṭhāna je nach Temperament des Übenden (z.B. Asubha bei vorherrschender Gier, Mettā bei Hass) oder als spezifische Gegenmittel für die fünf Hindernisse (sinnliches Begehren, Übelwollen, Trägheit/Stumpfheit, Unruhe/Sorge, Zweifel) besonders geeignet sind. Ein erfahrener Lehrer oder spiritueller Freund (kalyāṇa-mitta) kann bei der Auswahl eines passenden „Arbeitsfeldes“ helfen. Dies zeigt, dass der buddhistische Meditationsweg keine Einheitsmethode ist, sondern individuell angepasst werden kann, um persönliche Hindernisse effektiv zu bearbeiten.
1.3 Bedeutung der Praxis und der Sutta-Grundlagen
Für eine authentische Praxis ist es wesentlich, sich auf die ursprünglichen Lehren des Buddha zu stützen, wie sie im Palikanon, insbesondere in den Suttas (Lehrreden), überliefert sind. Dieser Bericht konzentriert sich daher auf ausgewählte Kammaṭṭhāna, die prominent im Kanon beschrieben werden, und liefert direkte Verweise auf relevante Suttas für ein vertieftes Selbststudium.
2. Ausgewählte Meditationsobjekte (Kammaṭṭhāna) in Theorie und Praxis
Im Folgenden werden fünf zentrale Meditations- und Kontemplationsmethoden vorgestellt, die im Palikanon ausführlich behandelt werden.
2.1 Ānāpānasati: Achtsamkeit auf den Atem
Einleitung: Ānāpānasati, die Achtsamkeit auf das Ein- und Ausatmen (ānāpāna = Ein- und Ausatmung, sati = Achtsamkeit), ist eine der fundamentalsten und am weitesten verbreiteten buddhistischen Meditationstechniken. Sie wird vom Buddha selbst als Methode hervorgehoben, die zu „großer Frucht und großem Nutzen“ führt, wenn sie entwickelt und gepflegt wird. Sie gilt als besonders geeignet, um sowohl Ruhe (samatha) als auch Einsicht (vipassanā) zu kultivieren und kann potenziell zu allen vier meditativen Vertiefungen (jhāna) führen.
Anleitung (basierend auf MN 118, dem Ānāpānasati Sutta): Die detaillierteste Anleitung findet sich im Majjhima Nikāya 118.
- Vorbereitung: Man zieht sich an einen ruhigen Ort zurück – in den Wald, an den Fuß eines Baumes oder in eine leere Hütte. Man setzt sich mit gekreuzten Beinen hin (oder in einer anderen stabilen Haltung), hält den Körper aufrecht und richtet die Achtsamkeit „vor sich“ (parimukhaṁ satiṁ upaṭṭhapetvā) aus, oft interpretiert als Fokus auf den Bereich um Nase und Oberlippe, wo der Atem spürbar ist.
- Grundlegende Achtsamkeit: Man atmet achtsam ein und achtsam aus (sato assasati, sato passasati). Es geht nicht darum, den Atem zu kontrollieren, sondern ihn bewusst wahrzunehmen, wie er natürlich fließt.
- Die 16 Schritte (in vier Tetraden): Der Buddha lehrt eine systematische Schulung (sikkhati = er/sie übt sich) in 16 Schritten, die oft in Verbindung mit den vier Grundlagen der Achtsamkeit (satipaṭṭhāna) gesehen werden:
- Erste Tetrade (Körperbetrachtung – kāyānupassanā):
- Bei langem Ein-/Ausatmen erkennt (pajānāti) man: ‚Ich atme lang ein/aus‘.
- Bei kurzem Ein-/Ausatmen erkennt man: ‚Ich atme kurz ein/aus‘.
- Man übt sich: ‚Den ganzen (Atem-)Körper erfahrend, werde ich ein-/ausatmen‘ (sabbakāya-paṭisaṁvedī). Dies kann sich auf das Gefühl des Atems im gesamten Körper oder den Atem als Ganzes beziehen.
- Man übt sich: ‚Die Körperformation (den Atem) beruhigend, werde ich ein-/ausatmen‘ (passambhayaṁ kāyasaṅkhāraṁ). Der Atem wird feiner und ruhiger.
- Zweite Tetrade (Gefühlsbetrachtung – vedanānupassanā):
- Man übt sich: ‚Freude (pīti) erfahrend, werde ich ein-/ausatmen‘.
- Man übt sich: ‚Glück (sukha) erfahrend, werde ich ein-/ausatmen‘.
- Man übt sich: ‚Die Geistformation (Gefühl & Wahrnehmung) erfahrend, werde ich ein-/ausatmen‘ (cittasaṅkhāra-paṭisaṁvedī).
- Man übt sich: ‚Die Geistformation beruhigend, werde ich ein-/ausatmen‘ (passambhayaṁ cittasaṅkhāraṁ).
- Dritte Tetrade (Geistesbetrachtung – cittānupassanā):
- Man übt sich: ‚Den Geist (citta) erfahrend, werde ich ein-/ausatmen‘.
- Man übt sich: ‚Den Geist erfreuend, werde ich ein-/ausatmen‘ (abhippamodayaṁ cittaṁ).
- Man übt sich: ‚Den Geist konzentrierend (samādahaṁ cittaṁ), werde ich ein-/ausatmen‘.
- Man übt sich: ‚Den Geist befreiend (vimocayaṁ cittaṁ), werde ich ein-/ausatmen‘.
- Vierte Tetrade (Geistesobjekte-Betrachtung – dhammānupassanā):
- Man übt sich: ‚Vergänglichkeit (anicca) betrachtend, werde ich ein-/ausatmen‘.
- Man übt sich: ‚Loslösung/Entfremdung (virāga) betrachtend, werde ich ein-/ausatmen‘.
- Man übt sich: ‚Aufhören (nirodha) betrachtend, werde ich ein-/ausatmen‘.
- Man übt sich: ‚Hinfälligkeit/Loslassen (paṭinissagga) betrachtend, werde ich ein-/ausatmen‘.
- Erste Tetrade (Körperbetrachtung – kāyānupassanā):
Die Progression durch diese 16 Schritte zeigt, dass Ānāpānasati weit mehr ist als eine reine Konzentrationsübung auf den physischen Atem.
Sie beginnt mit der Verankerung der Achtsamkeit im Körper, integriert dann die Beobachtung von Gefühlen und Geisteszuständen und mündet schließlich in die Entwicklung von Einsicht in grundlegende Wahrheiten.
Die Suttas betonen, dass die Kultivierung von Ānāpānasati die vier Grundlagen der Achtsamkeit (satipaṭṭhāna) erfüllt und zur Entwicklung der sieben Erleuchtungsfaktoren (bojjhaṅga) führt, welche wiederum Wissen und Befreiung (vijjāvimutti) zur Folge haben. Einige Interpretationen, wie in der Diskussion um das Icchānaṅgala Sutta (SN 54.11) angedeutet, legen nahe, dass der Fokus über den reinen Atem hinausgeht und die Praxis als Ganzes ein „Edles Verweilen“ (Ariya Vihāra) darstellt, das direkt zur Befreiung führt. Somit kann Ānāpānasati als ein vollständiger Pfad betrachtet werden, der sowohl Ruhe als auch Einsicht umfasst.
Schlüsseltexte:
- Majjhima Nikāya (MN): MN 118 (Ānāpānasati Sutta) ist die ausführlichste Quelle. MN 10 (Satipaṭṭhāna Sutta), MN 62 (Rāhulovāda Sutta) und MN 119 (Kāyagatāsati Sutta) integrieren Ānāpānasati in den Kontext der Körperachtsamkeit.
- Saṃyutta Nikāya (SN): SN 54 (Ānāpānasaṃyutta) enthält eine Sammlung von Lehrreden speziell zu Ānāpānasati.
- Dīgha Nikāya (DN): DN 22 (Mahāsatipaṭṭhāna Sutta) enthält die Anleitung parallel zu MN 10.
2.2 Maraṇasati: Achtsamkeit auf den Tod
Einleitung: Maraṇasati, die Achtsamkeit auf den Tod oder die Vergegenwärtigung der eigenen Sterblichkeit, ist eine weitere wichtige Praxis, die zu den zehn Anussati (Achtsamkeiten/Erinnerungen) gezählt wird. Ihr Hauptzweck ist es, ein Gefühl der Dringlichkeit (saṁvega) zu wecken, Nachlässigkeit (pamāda) entgegenzuwirken und die Motivation für ernsthafte Praxis zu stärken. Sie fördert tiefes Verständnis für die universelle Wahrheit der Vergänglichkeit (anicca).
Anleitung: Die Suttas schlagen verschiedene Wege vor, Maraṇasati zu kultivieren:
- Kontemplation der eigenen Sterblichkeit: Man reflektiert über die unausweichliche Tatsache des eigenen Todes und die Ungewissheit des Todeszeitpunkts. Ein zentraler Satz hierfür stammt aus den „Fünf täglichen Betrachtungen“ (AN 5.57): „Ich bin der Natur des Todes unterworfen, dem Tod kann ich nicht entgehen“ (maraṇadhammomhi, maraṇaṃ anatīto). Man vergegenwärtigt sich, dass das Leben endlich ist und jederzeit enden kann.
- Kontemplation möglicher Todesursachen: Das Maraṇasati Sutta (AN 6.20) leitet dazu an, über die vielfältigen äußeren und inneren Ursachen nachzudenken, die zum Tod führen können: ein Schlangenbiss, ein Skorpionstich, ein Unfall, Störungen der Körpersäfte oder -elemente. Diese Reflexion verdeutlicht die Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit des Lebens.
- Kontemplation der begrenzten Lebenszeit: Eine andere Methode (beschrieben in AN 6.19) besteht darin, sich vorzustellen, dass der Tod sehr nahe bevorsteht – vielleicht noch am selben Tag oder sogar im nächsten Moment. Wie jemand, dessen Kopf oder Turban brennt und der sofort handeln muss, um das Feuer zu löschen, soll der Praktizierende die verbleibende Zeit intensiv nutzen.
- Kontemplation der Hilflosigkeit im Angesicht des Todes: Man macht sich bewusst, dass weder Reichtum, noch geliebte Menschen, noch der eigene Körper den Tod aufhalten können.
- Praktische Integration: Die Suttas empfehlen eine regelmäßige Praxis, z.B. täglich morgens und abends. Die „Fünf täglichen Betrachtungen“ (AN 5.57) bieten eine gute Struktur. Man kann auch mit der Beobachtung der Vergänglichkeit im Kleinen beginnen – dem Ende von Plänen, dem Zerbrechen von Dingen – und dies schrittweise auf die eigene Existenz und die von Nahestehenden ausweiten.
Die Kultivierung von Maraṇasati ist mehr als nur eine morbide oder abstrakte Übung.
Die Suttas verbinden sie direkt mit ethischer Selbstprüfung und dem Streben nach Heilsamkeit. In AN 6.20 wird der Mönch angeleitet, nach der Todeskontemplation zu prüfen: „Gibt es irgendwelche üblen, unheilsamen Qualitäten, die von mir noch nicht aufgegeben wurden und die für mich ein Hindernis wären, wenn ich heute Nacht (oder am Tag) sterben würde?“. Die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit wirkt somit als starker Katalysator: Sie motiviert dazu, unheilsame Geisteszustände und Handlungen aufzugeben und die kostbare verbleibende Zeit für die Entwicklung von Tugend (sīla), Konzentration (samādhi) und Weisheit (paññā) zu nutzen, um dem Kreislauf des Leidens zu entkommen.
Schlüsseltexte:
- Aṅguttara Nikāya (AN): AN 6.19 und AN 6.20 (Maraṇasati Suttas) sind die zentralen Lehrreden. AN 5.57 (Upajjhaṭṭhāna Sutta) enthält die Fünf täglichen Betrachtungen. AN 8.74 erwähnt die Praxis ebenfalls.
- Weitere Verweise: SN 3.17, SN 3.25, SN 20.6, SN 48.44, AN 4.113, AN 4.184, AN 7.46, AN 10.15, Dhammapada 21–32, Itivuttaka 23, Sutta Nipāta 4.6, 5.16, Therīgāthā 5.6.
2.3 Asubha-Bhāvanā: Betrachtung der Unschönheit
Einleitung: Asubha-Bhāvanā bezeichnet die Kultivierung der Wahrnehmung des „Unschönen“, „Abstoßenden“ oder „Nicht-Attraktiven“ (asubha).
Diese Praxis dient vor allem als direktes Gegenmittel zur Überwindung von sinnlicher Begierde (kāmarāga) und der Anhaftung an den eigenen oder fremde Körper. Sie gehört zu den zehn Asubha-Betrachtungen, die im Visuddhimagga als Kammaṭṭhāna aufgeführt sind.
Anleitung: Die bekannteste Form der Asubha-Praxis im Palikanon sind die Friedhofsbetrachtungen (sīvathikā-manasikāra), wie sie im Satipaṭṭhāna Sutta (MN 10 und DN 22) beschrieben werden:
- Betrachtung von Leichenstadien: Der Übende stellt sich eine Leiche vor (oder betrachtet sie real, falls möglich), die ein oder zwei Tage nach dem Tod auf einem Leichenfeld liegt – aufgebläht, bläulich verfärbt, eiternd.
- Vergleich mit dem eigenen Körper: Er bezieht diese Beobachtung auf den eigenen Körper mit den Worten: „Auch dieser mein Körper ist von derselben Natur, wird ebenso werden und kann diesem Zustand nicht entgehen“ (Ayampi kho kāyo evaṁdhammo evaṁbhāvī evaṁanatīto’ti).
- Weitere Verfallsstadien: Die Betrachtung wird auf weitere Stadien des Verfalls ausgedehnt: eine Leiche, die von Tieren zerfressen wird; ein Skelett mit Fleischresten und Blut, von Sehnen zusammengehalten; ein blutverschmiertes Skelett ohne Fleisch; lose, verstreute Knochen; Knochen, weiß wie Muschelschalen; über ein Jahr alte, zu einem Haufen zusammengefallene Knochen; zu Staub zerfallene Knochen. Bei jedem Stadium erfolgt der Vergleich mit dem eigenen Körper.
- Allgemeine Betrachtung: Neben den Friedhofsbetrachtungen kann Asubha auch die allgemeine Kontemplation der unattraktiven Aspekte des lebenden Körpers umfassen (siehe Paṭikkūlamanasikāra unten).
Es ist entscheidend zu verstehen, dass das Ziel dieser Praxis nicht darin besteht, Ekel um des Ekels willen zu kultivieren oder eine generelle Abneigung gegen den Körper zu entwickeln.
Vielmehr geht es darum, durch die Konfrontation mit der Vergänglichkeit und der unattraktiven Realität des Körpers eine Ernüchterung (nibbidā) gegenüber sinnlicher Anhaftung zu erreichen. Der Fokus liegt auf dem Verständnis der Natur des eigenen Körpers, nicht auf der Abwertung anderer. Die Praxis dient dazu, die Illusion von dauerhafter Schönheit und Begehrlichkeit zu durchschauen.
Die Asubha-Betrachtung erfüllt eine doppelte Funktion: Sie wirkt als spezifisches „Gegengift“ gegen das Hindernis der sinnlichen Begierde, das als besonders stark gilt. Gleichzeitig wird sie in der Kommentar-Tradition als ein Kammaṭṭhāna betrachtet, das zur Entwicklung tiefer Konzentration, spezifisch der ersten Vertiefungsstufe (jhāna), führen kann. Dies illustriert die enge Verknüpfung von ethischer Läuterung (Überwindung der Hindernisse) und meditativer Vertiefung im buddhistischen Pfad.
Schlüsseltexte:
- Majjhima Nikāya (MN): MN 10 (Satipaṭṭhāna Sutta) enthält den Abschnitt über die neun Friedhofsbetrachtungen.
- Dīgha Nikāya (DN): DN 22 (Mahāsatipaṭṭhāna Sutta) bietet einen parallelen Text zu MN 10.
- Aṅguttara Nikāya (AN): AN 10.60 (Girimānanda Sutta) erwähnt Asubhasaññā (Wahrnehmung der Unschönheit) als eine von zehn heilsamen Wahrnehmungen, die zur Heilung führen können. AN 1.155-169 nennt Asubha als führend zur Überwindung von Gier.
- Das Itivuttaka 85 verbindet die Beobachtung der Hässlichkeit des Körpers mit dem Aufgeben von Begehren.
- Visuddhimagga: Kapitel VI ist den Asubha-Kammaṭṭhāna gewidmet.
2.4 Paṭikkūlamanasikāra: Betrachtung der 32 Körperteile
Einleitung: Paṭikkūlamanasikāra bedeutet wörtlich „Aufmerksamkeit (manasikāra) auf das Abstoßende/Unreine (paṭikkūla)“. Diese Praxis wird oft als die Betrachtung der 31 oder 32 Bestandteile des Körpers übersetzt und ist eine spezifische Methode der Körperachtsamkeit (Kāyagatāsati), die eng mit Asubha-Bhāvanā verwandt ist. Ihr Ziel ist es ebenfalls, die Identifikation mit dem Körper aufzulösen, Anhaftung und sinnliche Begierde zu reduzieren und ein Verständnis für die unpersönliche Natur des Körpers zu entwickeln. Die ersten fünf dieser Körperteile – Kopfhaar (kesā), Körperhaar (lomā), Nägel (nakhā), Zähne (dantā), Haut (taco) – bilden traditionell eines der grundlegenden Kammaṭṭhāna, das neu ordinierten Mönchen mitgegeben wird.
Anleitung (nach MN 10 / DN 22 / MN 119):
- Systematische Durchsicht: Der Übende betrachtet den eigenen Körper „von der Fußsohle aufwärts und vom Haarschopf abwärts, von Haut umschlossen und voller verschiedenartiger Unreinheiten (pūranānappakārassa asucino)“.
- Identifizierung der Teile: Man zählt die Bestandteile mental auf und vergegenwärtigt sie sich. Die Liste umfasst typischerweise (mit leichten Variationen und Ergänzungen in Kommentaren) 31 bzw. 32 Teile: Kopfhaar, Körperhaar, Nägel, Zähne, Haut; Fleisch, Sehnen, Knochen, Knochenmark, Nieren; Herz, Leber, Zwerchfell/Pleura, Milz, Lungen; Dickdarm, Dünndarm, Mageninhalt, Kot, (Gehirn); Galle, Schleim, Eiter, Blut, Schweiß, Fett; Tränen, Lymphe/Talg, Speichel, Nasenschleim, Gelenkflüssigkeit, Urin.
- Analogie: Das Sutta vergleicht diesen Vorgang mit einem scharfsichtigen Mann, der einen an beiden Enden offenen Sack voller verschiedener Getreidesorten (wie Reis, Bohnen, Sesam) betrachtet und die einzelnen Sorten klar unterscheidet.
- Reflexion: Durch die detaillierte Betrachtung der einzelnen Teile, die oft als unrein oder unattraktiv empfunden werden, wird die Wahrnehmung des Körpers als einheitliches, begehrenswertes Objekt oder als festes „Selbst“ untergraben. Man reflektiert über die unpersönliche, zusammengesetzte und unattraktive Natur dieser Bestandteile.
Im Gegensatz zu den Friedhofsbetrachtungen, die stärker auf die affektive Reaktion des Ekels und der Ernüchterung abzielen können, wirkt Paṭikkūlamanasikāra primär durch die systematische, analytische Zerlegung des Körpers. Die Analogie des Getreidesacks unterstreicht diesen nüchternen, unterscheidenden Charakter.
Diese Methode dekonstruiert das Konzept „Körper“ und löst die damit verbundene Identifikation („mein Körper“, „ich bin dieser Körper“) auf.
Sie ist ein kraftvolles Werkzeug, um die Anhaftung an die körperliche Form zu schwächen und die unpersönliche Natur der Existenz zu erkennen.
Auch diese Praxis kann gemäß der Kommentar-Tradition zur ersten Jhāna führen.
Schlüsseltexte:
- Majjhima Nikāya (MN): MN 10 (Satipaṭṭhāna Sutta) und MN 119 (Kāyagatāsati Sutta) enthalten detaillierte Anleitungen.
- Dīgha Nikāya (DN): DN 22 (Mahāsatipaṭṭhāna Sutta) enthält die parallele Anleitung zu MN 10.
- Aṅguttara Nikāya (AN): Wird als Teil von Kāyagatāsati erwähnt. AN 10.60 nennt die Paṭikkūlasaññā (Wahrnehmung des Abstoßenden).
- Khuddaka Nikāya: Das Khuddakapāṭha (Khp 3, Dvattimsākāra) listet die 32 Teile auf.
- Visuddhimagga: Kapitel VIII behandelt Kāyagatāsati einschließlich dieser Methode.
2.5 Catudhātu-Vavatthāna: Analyse der Vier Elemente
Einleitung: Catudhātu-Vavatthāna ist die Analyse (vavatthāna = Definition, Bestimmung, Analyse) der vier (catu) Grundelemente (dhātu). Diese Kontemplation ist eine weitere wichtige Methode der Körperachtsamkeit, die im Satipaṭṭhāna Sutta gelehrt wird.
Sie betrachtet den Körper nicht anhand seiner anatomischen Teile, sondern analysiert ihn anhand der vier grundlegenden materiellen Prinzipien oder Qualitäten, aus denen nach altindischer Auffassung alle Materie besteht: Erde (paṭhavī), Wasser (āpo), Feuer (tejo) und Luft/Wind (vāyo).
Anleitung (nach MN 10 / DN 22 / MN 62 / MN 140):
- Identifizierung der Elemente im Körper: Der Übende richtet die Achtsamkeit auf den eigenen Körper und identifiziert die vier Elemente anhand ihrer charakteristischen Eigenschaften:
- Erdelement (paṭhavī-dhātu): Die Qualität der Festigkeit, Härte, Rauheit, Glätte, Schwere. Im Körper manifestiert sich dies z.B. in Haaren, Nägeln, Zähnen, Haut, Fleisch, Sehnen, Knochen.
- Wasserelement (āpo-dhātu): Die Qualität der Flüssigkeit, des Fließens, der Kohäsion (Zusammenhalt). Im Körper zeigt sich dies in Blut, Galle, Schleim, Eiter, Schweiß, Fett, Tränen, Urin etc..
- Feuerelement (tejo-dhātu): Die Qualität der Temperatur (Hitze und Kälte). Im Körper ist dies die Körperwärme, das Fieber, die Verdauungswärme („das, wodurch man isst, trinkt, kaut, schmeckt und was verdaut wird“).
- Luftelement (vāyo-dhātu): Die Qualität der Bewegung, des Drucks, der Ausdehnung. Im Körper sind dies die Winde, die aufsteigen und absteigen, Winde im Bauch und in den Gedärmen, der Ein- und Ausatem etc..
- Analogie: Das Sutta vergleicht den Übenden mit einem geschickten Metzger oder dessen Lehrling, der eine Kuh geschlachtet hat und sie nun an einer Wegkreuzung in Stücke zerlegt betrachtet. Der Meditierende zerlegt den Körper mental in seine elementaren Bestandteile, ohne an der äußeren Form haften zu bleiben.
- Reflexion der Unpersönlichkeit: Man erkennt, dass der eigene Körper lediglich aus diesen vier unpersönlichen, sich ständig verändernden Elementen besteht. Diese Elemente sind dieselben wie in der äußeren Welt (Berge, Flüsse, Feuer, Wind). Die tief verwurzelte Identifikation mit dem Körper wird hinterfragt durch die Einsicht: „Dies ist nicht mein, dies bin ich nicht, dies ist nicht mein Selbst“ (n’etaṃ mama, n’eso’hamasmi, na me so attā), wie es z.B. im Mahārāhulovāda Sutta (MN 62) betont wird.
Die Analyse der vier Elemente lenkt die Aufmerksamkeit von der Form und den Teilen des Körpers weg, hin zu den grundlegenden, dynamischen Qualitäten, aus denen er aufgebaut ist. Indem der Körper als ein Prozess von unpersönlichen, vergänglichen Elementen erfahren wird, die mit der Außenwelt identisch sind, stellt diese Praxis die Vorstellung eines soliden, beständigen, von der Welt getrennten Selbst (attā) grundlegend in Frage.
Sie dient somit als eine kraftvolle Brücke zum Verständnis und zur direkten Erfahrung der Nicht-Selbst-Natur (anattā), einer zentralen Lehre des Buddhismus.
Dass diese Methode laut Visuddhimagga primär zur sogenannten Zugangskonzentration (upacāra-samādhi) führt, also der Konzentration kurz vor den Jhāna-Stufen, unterstreicht ihren stark auf Einsicht ausgerichteten Charakter.
Schlüsseltexte:
- Majjhima Nikāya (MN): MN 10 (Satipaṭṭhāna Sutta), MN 28 (Mahāhatthipadopama Sutta), MN 62 (Mahārāhulovāda Sutta – sehr detaillierte Anleitung für Rahula), MN 140 (Dhātuvibhaṅga Sutta – ausführliche Analyse der Elemente und ihrer Beziehung zu Bewusstsein und Gefühl).
- Dīgha Nikāya (DN): DN 22 (Mahāsatipaṭṭhāna Sutta).
- Saṃyutta Nikāya (SN): SN 14 (Dhātusaṃyutta) ist den Elementen gewidmet.
- Visuddhimagga: Kapitel XI behandelt die Elemente-Analyse.
3. Zusammenfassende Übersicht und Ausblick
Die vorgestellten Kammaṭṭhāna bieten vielfältige Wege zur Kultivierung von Ruhe und Einsicht.
3.1 Tabelle der Praktiken
Die folgende Tabelle fasst die besprochenen Methoden zusammen:
Praxis (Kammaṭṭhāna) | Fokus / Zielsetzung | Zentrale Suttas (Beispiele) |
---|---|---|
Ānāpānasati | Atem; Beruhigung, Konzentration, Einsicht | MN 118, SN 54, MN 10/DN 22 |
Maraṇasati | Tod/Vergänglichkeit; Überwindung von Nachlässigkeit | AN 6.19, AN 6.20, AN 5.57 |
Asubha-Bhāvanā | Unschönheit (v.a. Leichen); Überwindung von Begierde | MN 10/DN 22 (Friedhof), AN 10.60 |
Paṭikkūlamanasikāra | 32 Körperteile; Körperanalyse, Nicht-Identifikation | MN 10/DN 22, MN 119, Khp 3 |
Catudhātu-Vavatthāna | Vier Elemente; Analyse der Unpersönlichkeit (anattā) | MN 10/DN 22, MN 62, MN 140, SN 14 |
Diese Übersicht dient als schnelle Referenz und erleichtert den Vergleich der verschiedenen Ansätze.
3.2 Integration und Ausgewogenheit
Die vorgestellten Praktiken schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern sind oft komplementär.
Das Satipaṭṭhāna Sutta (MN 10 / DN 22) integriert beispielsweise Ānāpānasati, Paṭikkūlamanasikāra, Catudhātu-Vavatthāna und die Friedhofsbetrachtungen (Asubha) als verschiedene Facetten der Körperachtsamkeit (kāyānupassanā).
Die Wahl einer Meditationsmethode kann, wie bereits erwähnt, an die individuellen Bedürfnisse, Neigungen und Hindernisse angepasst werden. Wichtig ist eine ausgewogene Entwicklung, die sowohl die Beruhigung und Sammlung des Geistes (samatha) als auch die Entwicklung von klarer Einsicht (vipassanā) fördert. Viele der vorgestellten Methoden, insbesondere Ānāpānasati, bieten Potenzial für beide Aspekte.
3.3 Ermutigung zur Vertiefung
Dieser Bericht kann nur einen ersten Überblick geben.
Für ein tieferes Verständnis ist das eigenständige Studium der genannten Lehrreden unerlässlich. Ressourcen wie die Webseiten SuttaCentral.net oder AccessToInsight.org bieten Zugang zu Übersetzungen des Palikanons in verschiedenen Sprachen.
Die Meditationspraxis erfordert Geduld, Beharrlichkeit und eine solide Grundlage in ethischem Verhalten (sīla).
Möge dieser Überblick als Inspiration und Orientierungshilfe auf dem Weg der Geisteskultivierung dienen.
Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente
- Palikanon: Bhāvanā
- Wisdom Library: Kammatthana
- Access to Insight: Buddhist Meditation
- Wikipedia: Kammaṭṭhāna
- Encyclopedia of Buddhism: Kammaṭṭhāna
- Buddhism Stack Exchange: Kammatthana of hindrances
- SuttaCentral Discourse: Bhavana Karmasthana
- Britannica: Kammatthana
Weiter in diesem Bereich mit …
Praxis gemäß individueller Veranlagung
Erfahre mehr über die angepasste Praxis im Buddhismus. Diese Seite erklärt die fünf spirituellen Fähigkeiten (Indriya) und die daraus entstehenden fünf Temperamente (Carita). Entdecke, wie deine vorherrschende Neigung deine Praxis beeinflusst und welcher der folgenden Typen dir am ehesten entspricht:
Der Vertrauenstyp (Saddhā-carita)
Der Energietyp (Viriya-carita)
Der Achtsamkeitstyp (Sati-carita)
Der Sammlungstyp (Samādhi-carita)
Der Weisheitstyp (Paññā-carita)