
Die Haupttraditionen des Buddhismus und moderne Strömungen
Ein Überblick über Theravāda, Mahāyāna und Vajrayāna, die drei großen Strömungen des Buddhismus und neue Entwicklungen.
Inhaltsverzeichnis
Die enorme Vielfalt des heutigen Buddhismus lässt sich auf drei große Traditionen oder „Fahrzeuge“ (Yānas) zurückführen, die sich in ihrer Praxis, Organisation und geografischen Verbreitung deutlich unterscheiden.
Innerhalb dieser Hauptströme haben sich zahlreiche Unterschulen und moderne Bewegungen entwickelt, die die bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit des Buddhismus an unterschiedliche kulturelle Kontexte belegen.
Theravāda: Die „Lehre der Älteren“ und ihre moderne Praxis
Der Theravāda-Buddhismus, dessen Name „Lehre der Älteren“ bedeutet, ist die einzige heute noch existierende Schule des frühen Buddhismus und gilt als die orthodoxere oder konservativere der großen Traditionen. Er hält sich eng an den Pali-Kanon, die älteste Sammlung von Lehrreden, die dem historischen Buddha zugeschrieben werden. Geografisch ist der Theravāda heute vor allem in Sri Lanka, Myanmar, Thailand, Laos und Kambodscha die dominierende Religion.
Die gelebte Praxis des Theravāda konzentriert sich auf den individuellen Befreiungsweg zur Erleuchtung, dem Ideal des Arhat folgend – eines Wesens, das das Nirwana aus eigener Kraft erreicht hat. Dieser Weg wird durch die Befolgung des Edlen Achtfachen Pfades realisiert, der die drei Säulen der Praxis umfasst: ethisches Verhalten (Sīla), geistige Sammlung oder Meditation (Samādhi) und Weisheit (Paññā). Das monastische Leben im Sangha, der Gemeinschaft der Mönche (Bhikkhus) und Nonnen (Bhikkhunīs), spielt eine zentrale Rolle. Dabei ist der Status der Nonnen historisch komplex: Die ursprüngliche Linie der vollordinierten Nonnen war in den meisten Theravāda-Ländern für viele Jahrhunderte unterbrochen und ihre moderne Wiedereinführung ist bis heute nicht in allen Traditionen vollständig anerkannt.
Mönche und Nonnen gelten als Bewahrer der Lehre und als Vorbilder, die von der Laiengemeinschaft durch Spenden (Dāna) unterstützt werden. Obwohl der Theravāda oft als „konservativ“ bezeichnet wird, hat gerade aus seinem Kontext eine der radikalsten Modernisierungen des 20. Jahrhunderts ihren Ursprung: die Vipassanā-Meditationsbewegung.
Angeführt von Lehrern wie dem burmesischen Mönch Mahasi Sayadaw und dem Laienlehrer S.N. Goenka, machte diese Bewegung die Einsichtsmeditation (Vipassanā), die traditionell dem Klerus vorbehalten war, für Laien weltweit zugänglich. Diese Entwicklung hat das Bild des Buddhismus im Westen maßgeblich geprägt, führt aber auch zu einer verbreiteten Vereinfachung.
Im Westen wird der Theravāda oft fälschlicherweise auf reine Meditationstechnik reduziert, während andere essenzielle Aspekte wie die Kultivierung von Großzügigkeit, ethisches Handeln (z.B. die Fünf Silas) und das Studium der Schriften in den Hintergrund treten.
Mahāyāna: Das „Große Fahrzeug“ und seine vielfältigen Ausprägungen
Das Mahāyāna, das „Große Fahrzeug“, ist die zahlenmäßig größte buddhistische Schule weltweit und prägt die religiöse Landschaft in China, Japan, Südkorea, Taiwan und Vietnam. Es entstand als eine Reformbewegung, die den Weg zur Erleuchtung nicht nur Mönchen, sondern auch Laien eröffnen wollte.
Das zentrale Ideal des Mahāyāna ist der Bodhisattva, ein erleuchtungsstrebendes Wesen, das aus tiefem Mitgefühl (Karunā) heraus den Eintritt ins endgültige Nirwana aufschiebt, um allen anderen fühlenden Wesen zur Befreiung zu verhelfen. Die treibende Kraft ist Bodhicitta, der Erleuchtungsgeist, der Wunsch, zum Wohl aller die Buddhaschaft zu erlangen.
Die Praxis konzentriert sich auf die sechs Vollkommenheiten (Pāramitās): Großzügigkeit, Ethik, Geduld, freudige Anstrengung, meditative Konzentration und Weisheit. Philosophisch zentral ist das Konzept der Leerheit (Śūnyatā), das besagt, dass alle Phänomene ohne eine eigenständige, unabhängige Existenz sind. Innerhalb des Mahāyāna haben sich diverse einflussreiche Schulen entwickelt:
- Zen (chin. Chán, kor. Seon, viet. Thiền): Diese in China entstandene Schule ist heute weltweit populär. Zen betont die direkte, nicht-intellektuelle Erfahrung der Erleuchtung (Satori oder Kenshō).
- Die zentrale Praxis ist die Sitzmeditation (Zazen), die darauf abzielt, den Geist zu beruhigen und eine unmittelbare Einsicht in die eigene Buddha-Natur zu ermöglichen. In der japanischen Rinzai-Schule werden oft Kōans – paradoxe Fragen oder Geschichten – eingesetzt, um das rationale Denken zu durchbrechen. Im Westen wird Zen häufig als eine Lebensphilosophie praktiziert, die Achtsamkeit und Präsenz im alltäglichen Handeln in den Vordergrund stellt und über die formale Meditation hinausgeht.
- Reines Land (Amidismus): Diese Schule ist besonders in Ostasien, vor allem in Japan mit den Schulen Jōdo-shū und Jōdo Shinshū, weit verbreitet. Die Praxis ist radikal vereinfacht und konzentriert sich auf die hingebungsvolle Anrufung des Buddha Amitābha (jap. Amida) durch das Rezitieren seines Namens (Nembutsu: Namu Amida Butsu). Das Ziel ist die Wiedergeburt in seinem Reinen Land (Sukhāvatī), einem buddhistischen Paradies, von dem aus die Erleuchtung leichter zu erlangen ist.
- Diese Schule betont den Glauben an die „andere Kraft“ (tariki) Amitābhas statt der alleinigen „eigenen Kraft“ (jiriki), was sie besonders für Laien zugänglich und attraktiv macht.
Vajrayāna: Der „Diamantweg“ als tantrischer Pfad
Das Vajrayāna, der „Diamantweg“ oder tantrische Buddhismus, wird in der Regel als ein Zweig des Mahāyāna verstanden, der jedoch spezifische Methoden anwendet, um den Weg zur Erleuchtung zu beschleunigen. Es ist die vorherrschende Form des Buddhismus in Tibet, Bhutan, der Mongolei und in Teilen Japans (z.B. die Shingon-Schule).
Die Praxis des Vajrayāna ist bekannt für ihre kraftvollen und komplexen Techniken. Sie nutzt die dem Geist innewohnende Buddha-Natur als Grundlage und setzt Methoden ein, um diese direkt zu erfahren.
Dazu gehören fortgeschrittene Meditationen, die Visualisierungen von erleuchteten Wesen (Gottheiten-Yoga oder Yidam-Praxis), die Rezitation von Mantras (wie das berühmte Oṃ Maṇi Padme Hūṃ des Bodhisattva des Mitgefühls, Avalokiteśvara) und komplexe Rituale umfassen. Die Beziehung zu einem qualifizierten Lehrer (Guru oder Lama) ist im Vajrayāna von entscheidender Bedeutung, da die tiefgründigen Lehren traditionell mündlich und durch direkte Einweihungen (Abhiṣeka) weitergegeben werden, um eine authentische und sichere Praxis zu gewährleisten.
Moderne Strömungen und ihre globale Relevanz
Über die traditionellen Schulen hinaus haben sich im 20. und 21. Jahrhundert Strömungen entwickelt, die den Buddhismus in einen Dialog mit den drängenden Fragen der modernen Welt bringen.
Diese sind weniger als neue, separate Schulen zu verstehen, sondern vielmehr als trans-traditionale Interpretationsrahmen, die von Anhängern verschiedener buddhistischer Richtungen übernommen werden können.
Sie fungieren als eine Art „Meta-Ebene“, durch die Praktizierende ihre traditionellen Lehren neu kontextualisieren.
Dies zeigt die immense Flexibilität des Buddhismus, auf zeitgenössische Herausforderungen zu reagieren.
Engagierter Buddhismus (Engaged Buddhism)
Maßgeblich geprägt durch den vietnamesischen Zen-Meister Thich Nhat Hanh, wendet diese Bewegung buddhistische Prinzipien wie Achtsamkeit, Mitgefühl und Gewaltlosigkeit direkt auf soziale, politische, ökonomische und ökologische Krisen an. Die Kernidee des „Interseins“ (Interbeing) besagt, dass individuelles Leiden und gesellschaftliches Leiden untrennbar miteinander verbunden sind und dass innere Transformation zu äußerem Handeln führen muss. Engagierte Buddhisten setzen sich für Frieden, Menschenrechte und Umweltschutz ein und sehen dies als integralen Bestandteil ihrer spirituellen Praxis.
Säkularer Buddhismus (Secular Buddhism)
Diese im Westen entstandene Bewegung, prominent vertreten durch den ehemaligen Mönch und Autor Stephen Batchelor, versucht, eine pragmatische, ethische und diesseitsorientierte Lebensweise aus den buddhistischen Lehren zu destillieren, die ohne metaphysische Glaubenssätze wie Wiedergeburt oder übernatürliche Wesen auskommt. Der Fokus liegt auf dem menschlichen Gedeihen im „Hier und Jetzt“ (lat. saeculum).
Eine zentrale Neuinterpretation ist die Betrachtung der Vier Edlen Wahrheiten nicht als Glaubenssätze, die man für wahr halten muss, sondern als „vier edle Aufgaben“, die es aktiv zu tun gilt: das Leiden vollständig zu umarmen, die reaktiven Muster loszulassen, das Aufhören dieser Muster zu erfahren und einen achtfachen Weg des Handelns zu kultivieren.
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