MN 19 – Dvedhāvitakka Sutta

MN Lehrreden Erklärungen
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Analyse des Dvedhāvitakka Sutta (MN 19): Die zwei Arten des Denkens

Eine autobiographische Anleitung des Buddha zur geistigen Kultivierung und zur Meisterung der Gedanken.

Einleitung: Die Kernaussage und Bedeutung der Lehrrede

Wie können wir den unaufhörlichen Strom unserer Gedanken meistern, um inneren Frieden und Klarheit zu finden? Wie können wir zwischen den Impulsen unterscheiden, die uns zu Leid führen, und jenen, die uns befreien? Diese Fragen stehen im Zentrum der menschlichen Erfahrung und bilden den Kern einer der aufschlussreichsten Lehrreden des Buddha: des Dvedhāvitakka Sutta. Diese Lehrrede aus der Mittleren Sammlung (Majjhima Nikāya) ist weit mehr als nur eine theoretische Abhandlung. Sie ist ein zutiefst persönlicher und autobiographischer Bericht, in dem der Buddha den Schleier lüftet und uns an seinem eigenen Ringen auf dem Weg zur Erleuchtung teilhaben lässt. Er beschreibt die entscheidende Methode, die er als Bodhisatta – als ein nach Erwachen strebendes Wesen – entwickelte, um seinen eigenen Geist zu zähmen und zu läutern. Diese Authentizität verleiht der Lehre eine besondere Kraft und Inspiration.

Das Dvedhāvitakka Sutta gilt als eine grundlegende Charta der geistigen Kultivierung. Es liefert nicht nur eine klare Diagnose für die Funktionsweise unseres Geistes, sondern auch ein präzises, praktisches Werkzeug, um schädliche Denkmuster zu überwinden und heilsame zu fördern. Damit bietet es die psychologische Blaupause für den zweiten Faktor des Edlen Achtfachen Pfades, die Rechte Absicht (sammā saṅkappa), und zeigt, wie man durch die Schulung der Gedanken schließlich sogar über das Denken hinausgelangen kann, in die tiefen Zustände von Sammlung und befreiender Einsicht.

Steckbrief der Lehrrede

Merkmal Information
Pāli-Titel Dvedhāvitakka Sutta
Sutta-Nummer MN 19
Sammlung Majjhima Nikāya (Die Mittlere Sammlung)
Deutscher Titel Die Lehrrede über die zwei Arten des Denkens
Kernthema(s) Geistige Kultivierung, Rechte Absicht (sammā saṅkappa), Überwindung unheilsamer Gedanken (akusala vitakka), Achtsamkeit, Meditative Vertiefung (jhāna).

Kontext: Warum wurde diese Lehrrede gehalten?

Die Lehrrede wurde vom Buddha in Sāvatthī, im Jeta-Hain, dem Park des Anāthapiṇḍika, an eine Versammlung von Mönchen (bhikkhus) gerichtet. Dieser Ort war einer der Hauptwirkungsstätten des Buddha und die Zuhörerschaft bestand aus ernsthaft Praktizierenden. Dies deutet darauf hin, dass die Lehre für jene bestimmt war, die sich bereits auf den Weg der geistigen Schulung begeben hatten. Das doktrinäre Problem, das der Buddha hier adressiert, ist eines der fundamentalsten auf dem spirituellen Pfad: die ungezähmte Natur des Geistes. Unser Geist produziert unaufhörlich Gedanken (vitakka), doch nicht alle diese Gedanken sind gleichwertig. Einige verstricken uns in Gier, Hass und Verblendung und führen unweigerlich zu Leid für uns selbst und andere. Andere hingegen basieren auf Entsagung, Wohlwollen und Mitgefühl und ebnen den Weg zu Frieden, Weisheit und Befreiung.

Das Dvedhāvitakka Sutta ist die mitfühlende Antwort des Buddha auf diese Herausforderung. Er bietet seinen Schülern ein klares diagnostisches Werkzeug und eine schrittweise Methode zur Läuterung des Geistes. Die tiefste Verbindung besteht zum Edlen Achtfachen Pfad (ariya aṭṭhaṅgika magga). Die Lehrrede ist die detaillierteste praktische Anleitung zur Kultivierung des zweiten Pfadfaktors: Rechte Absicht (sammā saṅkappa). Die drei unheilsamen Gedankenarten – Gedanken des sinnlichen Begehrens (kāma-vitakka), des Übelwollens (byāpāda-vitakka) und der Grausamkeit (vihiṁsā-vitakka) – sind die exakte Umkehrung der Rechten Absicht. Umgekehrt definieren die drei heilsamen Gedankenarten – Gedanken der Entsagung (nekkhamma-vitakka), des Nicht-Übelwollens (abyāpāda-vitakka) und der Nicht-Grausamkeit (avihiṁsā-vitakka) – präzise, was Rechte Absicht in der Praxis bedeutet. Dieses Sutta zeigt, dass Rechte Absicht kein passiver Zustand ist, sondern der aktive Motor, der den gesamten Befreiungsweg antreibt. Die bewusste Entscheidung des Bodhisatta, seine Gedanken zu sortieren, ist der grundlegende Akt der Rechten Absicht. Diese Entscheidung führt zur Rechten Anstrengung (sammā vāyāma), nämlich dem aktiven Verwerfen des Unheilsamen und dem Kultivieren des Heilsamen. Diese Anstrengung reinigt den Geist und schafft die Voraussetzung für die Entfaltung von Rechter Achtsamkeit (sammā sati) und schließlich Rechter Sammlung (sammā samādhi), die in den meditativen Vertiefungen (jhānas) gipfelt. Sammā saṅkappa wird somit als der entscheidende Katalysator enthüllt, der den gesamten Prozess der Befreiung anstößt und lenkt.

Die Kerninhalte: Eine strukturierte Zusammenfassung

Die Lehrrede entfaltet sich als eine fesselnde Erzählung der inneren Reise des Buddha. Sie ist eine Landkarte des Geistes, die den Weg von der Verwirrung zur Klarheit und von der Unruhe zur tiefsten Stille aufzeigt.

Die Gabelung des Weges: Der Bodhisatta teilt seine Gedanken

Die Erzählung beginnt mit einem entscheidenden Moment der Einsicht, den der Bodhisatta noch vor seiner vollständigen Erleuchtung hatte. Er berichtet: „Da kam mir der Gedanke: ‚Wie wäre es, wenn ich meine Gedanken in zwei Klassen einteilte?‘“. Dies ist der fundamentale Akt der Unterscheidung, der den gesamten weiteren Prozess ermöglicht. Er schuf zwei Kategorien:

  • Akusala (unheilsam, ungeschickt): Auf die eine Seite stellte er Gedanken, die von sinnlichem Begehren (kāma), Übelwollen (byāpāda) und Grausamkeit (vihiṁsā) durchdrungen sind.
  • Kusala (heilsam, geschickt): Auf die andere Seite stellte er Gedanken der Entsagung (nekkhamma), des Nicht-Übelwollens (abyāpāda) und der Nicht-Grausamkeit (avihiṁsā).

Die Kriterien für diese Einteilung sind nicht moralisch, sondern pragmatisch und psychologisch. Ein Gedanke ist akusala, weil er „zu meiner eigenen Pein führt, zur Pein anderer und zur Pein beider; er blockiert die Weisheit, verursacht Bedrängnis und führt von Nibbāna weg“. Die Bewertung eines Gedankens basiert ausschließlich auf seinen Konsequenzen. Verursacht er Leid (byābādhāya)? Behindert er die Weisheit (paññā-nirodhiko)? Führt er von der Befreiung weg (anibbāna-saṁvattaniko)?. Dieser empirische Ansatz ermächtigt den Praktizierenden, selbst zum Forscher des eigenen Geistes zu werden.

Die Weisheit des Loslassens: Der Umgang mit unheilsamen Gedanken

Der Buddha beschreibt, dass er, wenn ein unheilsamer Gedanke aufstieg, ihn nicht gewaltsam unterdrückte, sondern ihn erkannte und mit Weisheit (paṭisañcikkhato) untersuchte. Er reflektierte über seine schädlichen Folgen. „Als ich erwog: ‚Dies führt zu meiner eigenen Pein‘, schwand er in mir; als ich erwog: ‚Dies führt zur Pein anderer‘, schwand er in mir…“. Das Erkennen der schädlichen Natur des Gedankens entzieht ihm seine Energie. Der Buddha fasst zusammen: „Wann immer ein Gedanke des sinnlichen Begehrens in mir aufstieg, gab ich ihn auf, entfernte ihn, tat ihn weg“. Dieses Aufgeben ist die natürliche Folge der Einsicht. Diese Methode folgt einem klaren Schema: 1. Ein schädlicher Gedanke wird achtsam identifiziert. 2. Seine negativen Konsequenzen werden weise reflektiert. 3. Dieses Verständnis lässt den Gedanken seine Macht verlieren, woraufhin er von selbst schwindet.

Das Gesetz der Gewohnheit: Den Geist wie ein Hirte hüten

Der Buddha erklärt das psychologische Prinzip, das dieser Praxis zugrunde liegt: „Worüber auch immer ein Bhikkhu häufig nachdenkt und grübelt, dazu wird die Neigung seines Geistes werden.“ (Yaññadeva, bhikkhave, bhikkhu bahulamanuvitakketi anuvicāreti, tathā tathā nati hoti cetaso). Jeder Gedanke formt die Bahnen unseres Geistes und bestimmt unsere zukünftigen mentalen Gewohnheiten. Um diesen Prozess zu veranschaulichen, verwendet der Buddha das Gleichnis vom Kuhhirten in der Regenzeit, der seine Kühe wachsam von den Feldern fernhalten muss, da er die Gefahr der Bestrafung sieht. Die Kühe sind unsere ungeschulten Gedanken, die Felder die unheilsamen Bereiche von Gier und Hass, und die Gefahr ist das Leiden, das aus unachtsamen mentalen Zuständen entsteht. Die anfängliche Praxis erfordert daher aktive Wachsamkeit und beständige Anstrengung.

Die Grenzen des Denkens: Der Umgang mit heilsamen Gedanken

Nachdem er die Methode zur Überwindung unheilsamer Gedanken etabliert hat, wendet sich der Bodhisatta den heilsamen Gedanken zu. Er erkennt ihren Nutzen, da sie Weisheit fördern und zu Nibbāna führen. Doch dann stellt er fest: „Wenn ich auch nur eine Nacht, auch nur einen Tag… über diesen Gedanken nachdenke und grüble, sehe ich keine Gefahr, die daraus erwachsen könnte. ABER durch übermäßiges Denken und Grübeln könnte mein Körper ermüden; und wenn der Körper müde ist, wird der Geist angespannt; und wenn der Geist angespannt ist, ist er fern von der Sammlung“. Dies ist eine entscheidende Einsicht: Selbst heilsame Gedanken können, wenn man sich an sie klammert, zu einem Hindernis werden. Das Ziel ist nicht ein Geist voller guter Gedanken, sondern ein stiller, klarer und gesammelter Geist. Der Buddha lehrt uns, heilsame Gedanken zu benutzen, um unheilsame zu verdrängen, und dann auch die heilsamen Gedanken sanft zur Ruhe kommen zu lassen.

Jenseits der Gedanken: Der Weg in die meditativen Vertiefungen (jhāna)

Nachdem er die Grenzen des Denkens erkannt hatte, berichtet der Bodhisatta: „So beruhigte ich meinen Geist innerlich, beschwichtigte ihn, brachte ihn zur Einheit und sammelte ihn“. Dies ist der Übergang zur tiefen Sammlung (samādhi). Hier führt der Buddha ein zweites Gleichnis vom Kuhhirten ein: In der heißen Jahreszeit, nach der Ernte, kann der Hirte entspannen und muss nur noch „die Achtsamkeit aufrechterhalten, dass ‚die Kühe da sind‘“. Dieses Gleichnis illustriert einen Wandel von einem anstrengenden „Tun“ zu einem entspannten, aber wachsamen „Sein“. Die Praxis verlagert sich zur Rechten Achtsamkeit und Rechten Sammlung, die den Geist in den vier meditativen Vertiefungen (jhānas) niederlassen.

Das Ziel des Pfades: Die drei höheren Wissen und die Befreiung

Der durch die jhānas vollkommen gesammelte und reine Geist wird zum Instrument für die endgültige Einsicht. Der Bodhisatta richtet diesen geschärften Geist auf die drei höheren Wissen (tevijjā):

  • Die Erinnerung an frühere Leben.
  • Das Wissen um das Vergehen und Wiedererscheinen der Wesen gemäß ihrem Karma.
  • Das Wissen um die Zerstörung der Triebe (āsavakkhaya-ñāṇa).

Mit diesem letzten Wissen durchschaut er die Vier Edlen Wahrheiten und sein Geist wird vollständig von den Trieben befreit. Er gelangt zur endgültigen Gewissheit: „Geburt ist beendet, der heilige Wandel ist gelebt, was zu tun war, ist getan, es gibt kein Mehr für diesen Daseinszustand“.

Analyse und Bedeutung für die heutige Praxis

Das Dvedhāvitakka Sutta ist eine zeitlose Anleitung zur „mentalen Hygiene“. So wie wir lernen, uns um unsere körperliche Gesundheit zu kümmern, lehrt uns diese Rede, wie wir für unser geistiges Wohlbefinden sorgen können. Das zentrale Werkzeug ist die achtsame Unterscheidung. Eine moderne Analogie ist die des Geistes als Garten:

  • Der Boden: Unser Geist ist der fruchtbare Boden.
  • Das Unkraut (akusala): Gedanken der Gier, des Hasses und der Grausamkeit sind wie invasives Unkraut. Die Praxis besteht darin, ihre schädliche Natur zu erkennen und sie geschickt zu entfernen.
  • Die Blumen und Nutzpflanzen (kusala): Gedanken der Großzügigkeit, des Wohlwollens und des Mitgefühls sind die Pflanzen, die wir bewusst kultivieren.
  • Das Gesetz des Gartens: Das Prinzip, dass das, worüber man häufig nachdenkt, zur Neigung des Geistes wird, ist das grundlegende Gesetz des Gartens.
  • Jenseits der Pflanzen – der Boden selbst: Das Loslassen selbst der heilsamen Gedanken ist vergleichbar damit, den reichen, fruchtbaren Boden selbst wertzuschätzen. Das Ziel ist das tiefe, stille Potenzial des Bodens selbst (der Zustand von samādhi).

Für den Alltag lassen sich daraus konkrete Schritte ableiten:

  • Benennen: Beginnen Sie damit, aufkommende Gedanken einfach wahrzunehmen und sanft zu benennen: „Gedanke des Begehrens“, „ärgerlicher Gedanke“, „freundlicher Gedanke“.
  • Untersuchen: Stellen Sie sich die Schlüsselfrage aus dem Sutta: „Wohin führt dieser Gedanke? Führt er zu meiner Pein? Zur Pein anderer? Behindert er die Weisheit?“.
  • Kultivieren: Bringen Sie bewusst heilsame Gedanken in den Geist. Wenn Ärger aufsteigt, rufen Sie absichtlich einen Gedanken des Wohlwollens (mettā) hervor.

Fazit: Die zeitlose Weisheit des Dvedhāvitakka Sutta

Das Dvedhāvitakka Sutta ist mehr als eine alte Geschichte; es ist eine Landkarte für die innere Reise und ein direkter Aufruf zum Handeln. Es lehrt uns, dass Befreiung das unmittelbare Ergebnis eines bewussten, von Moment zu Moment stattfindenden Prozesses der geistigen Kultivierung ist. Indem wir lernen, das Heilsame vom Unheilsamen zu unterscheiden, das Schädliche weise aufzugeben und das Nützliche zu fördern, beschreiten wir genau den Weg, den der Buddha selbst gegangen ist. Die Lehrrede endet mit einer eindringlichen Ermahnung: „Was aus Mitgefühl für seine Schüler von einem Lehrer getan werden sollte… das habe ich für euch getan, Bhikkhus. Da sind diese Baumwurzeln, diese leeren Hütten. Meditiert, Bhikkhus, seid nicht nachlässig, damit ihr es nicht später bereut. Dies ist unsere Anweisung an euch.“.

Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente

Lese die vollständige Lehrrede auf SuttaCentral, um die Worte des Buddha direkt zu studieren und zu kontemplieren:

Weitere ausgewählte Quellen zum Thema: