MN 2 – Sabbāsava Sutta

MN Lehrreden Erklärungen
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Analyse des Sabbāsava Sutta (MN 2): Die Lehrrede über alle Triebe – Ein praktisches Handbuch zur Befreiung des Geistes

Ein praktischer Leitfaden des Buddha mit sieben Methoden zur Überwindung leidvoller Geisteszustände.

Einleitung: Die Kernaussage und Bedeutung der Lehrrede

Warum leiden wir? Und was können wir ganz praktisch tun, um die tiefen Wurzeln unseres Unbehagens, unserer Ängste und unserer Unzufriedenheit zu beseitigen? Diese universellen Fragen stehen im Zentrum der menschlichen Erfahrung und bilden den Ausgangspunkt für eine der wichtigsten Lehrreden des Buddha: das Sabbāsava Sutta. Dieses Sutta gibt eine direkte und tiefgründige Antwort, indem es die Ursachen unseres Leidens analysiert und eine umfassende Strategie zu ihrer Überwindung vorstellt.

Das zentrale Konzept der Lehrrede sind die āsavas. Dieser Pāli-Begriff ist vielschichtig und wird oft mit „Triebe“, „Anwandlungen“ oder „Anhaftungen“ übersetzt. Andere Übersetzungen wie „Geistestrübungen“, „Verderbnisse“ oder „Befleckungen“ betonen den Aspekt mentaler Verunreinigungen, die unsere Wahrnehmung trüben. Besonders kraftvoll ist die Übersetzung als „Ausflüsse“ oder „Lecks“ (englisch: effluents, outflows, leakages). Dieses Bild vergleicht die āsavas mit dem Eiter, der aus einer unbehandelten Wunde fließt – eine Metapher dafür, wie unsere geistige Energie durch Gier, Hass und Verblendung nach außen „sickert“ und uns schwächt.

Die Genialität des Sabbāsava Sutta liegt darin, dass es keine Pauschallösung anbietet. Stattdessen präsentiert der Buddha einen differenzierten „Werkzeugkasten“ mit sieben verschiedenen Methoden, um mit diesen tiefsitzenden Trübungen umzugehen. Damit widerspricht die Lehrrede der verbreiteten Annahme, Meditation sei das einzige Werkzeug auf dem buddhistischen Pfad. Sie beginnt mit der grundlegenden Feststellung: „Die Beseitigung der Triebe, sage ich, ist für einen, der weiß und sieht, nicht für einen, der nicht weiß und nicht sieht“ (jānato ahaṁ bhikkhave passato āsavānaṁ khayaṁ vadāmi, no ajānato no apassato). Diese Aussage ist ein Plädoyer für die aktive, intelligente Auseinandersetzung mit dem eigenen Geist. Sie verlagert die Verantwortung für die Befreiung vollständig auf den Praktizierenden. Es geht nicht um blinden Glauben oder die Gnade einer höheren Macht, sondern um die Kultivierung von zwei spezifischen Fähigkeiten: dem Wissen (jānato) und dem Sehen (passato). Die Lehrrede ist somit weniger eine Sammlung von Geboten als vielmehr ein Lehrplan zur Entwicklung von Weisheit. Ihre prominente Position als zweite Rede in der Mittleren Sammlung (Majjhima Nikāya), direkt nach der philosophisch komplexen „Wurzel aller Dinge“ (MN 1), unterstreicht ihre fundamentale, praktische Bedeutung. Während MN 1 die tiefste kognitive Fehlwahrnehmung diagnostiziert, liefert MN 2 den umfassenden, schrittweisen Behandlungsplan.

Steckbrief der Lehrrede

Merkmal Information
Pāli-Titel: Sabbāsava Sutta
Sutta-Nummer: MN 2
Sammlung: Majjhima Nikāya (Die Mittlere Sammlung der Lehrreden)
Deutscher Titel: Die Lehrrede über alle Triebe (auch: Alle Anhaftungen, Alle Anwandlungen)
Kernthema(s): Beseitigung der Geistestrübungen (āsava), Weise Betrachtung (yoniso manasikāra), Sieben Methoden der Geistesschulung, Befreiung von Leiden.

Kontext: Warum wurde diese Lehrrede gehalten?

Der Buddha hielt diese Lehrrede in Sāvatthī, im Jetahain, einem Park, den der Kaufmann Anāthapiṇḍika der Ordensgemeinschaft gestiftet hatte. Dieser Ort war Schauplatz vieler bedeutender Lehrreden, was die Wichtigkeit des hier vermittelten Inhalts unterstreicht. Die Angesprochenen waren die Gemeinschaft der Mönche (bhikkhus), doch die Lehren sind von universeller Relevanz. Der Buddha identifiziert das Kernproblem nicht in der Welt selbst, sondern in der Art und Weise, wie wir unsere Aufmerksamkeit auf sie richten. Er führt hier die entscheidenden Konzepte der unweisen Betrachtung (ayoniso manasikāra) und der weisen Betrachtung (yoniso manasikāra) ein. Unweise Betrachtung äußert sich darin, sich in spekulativen, auf das Ego bezogenen Fragen zu verlieren: „War ich in der Vergangenheit? Werde ich in der Zukunft sein? Bin ich? Bin ich nicht? Was bin ich?“. Diese Art des Denkens wird als ein „Dickicht der Ansichten“ (diṭṭhi-gahana) beschrieben, das uns an das Leiden fesselt.

Im Herzen dieser falschen Betrachtung liegen die drei grundlegenden Triebe (āsavas), die in diesem Sutta genannt werden:

  • Der Trieb des sinnlichen Begehrens (kāmāsava)
  • Der Trieb des Werdens oder Daseinsverlangens (bhavāsava)
  • Der Trieb der Unwissenheit (avijjāsava)

Diese drei Triebe sind die tiefsten Wurzeln der geistigen Verunreinigung. Sie nähren die oberflächlicher liegenden „Fesseln“ (saṃyojana), die uns im Kreislauf der Wiedergeburten (saṃsāra) gefangen halten. Interessanterweise erwähnen andere kanonische Texte und die spätere Abhidhamma-Literatur oft einen vierten Trieb: den Trieb der Ansichten (diṭṭhāsava). Dass er hier nicht separat aufgeführt wird, ist kein Widerspruch, sondern deutet auf die Entwicklung der Lehre hin. Das Drei-Triebe-Modell gilt als älter und fasst das Festhalten an Ansichten unter dem Daseinsverlangen (bhavāsava) zusammen – denn jede festgehaltene Ansicht ist ein Versuch, eine stabile Identität, ein festes „Sein“ zu konstruieren. Die spätere Ausdifferenzierung betont die besondere Gefahr, die von dogmatischen und philosophischen Ansichten ausgeht.

Die Lehrrede verbindet die Überwindung der Triebe direkt mit dem Fortschritt auf dem buddhistischen Pfad. So führt die erste Methode, das „Sehen“, bei ihrer Perfektionierung zur Überwindung der ersten drei Fesseln – der Persönlichkeitsansicht (sakkāya-diṭṭhi), des Zweifels (vicikicchā) und des Hängens an Regeln und Ritualen (sīlabbata-parāmāsa). Dies markiert den Eintritt in den Strom (sotāpatti), den ersten und entscheidenden Schritt zur endgültigen Befreiung.

Die Kerninhalte: Eine strukturierte Zusammenfassung der sieben Methoden

Der Buddha präsentiert keinen einzelnen Königsweg, sondern ein ganzes System der geistigen Kultivierung. Diese sieben Methoden können als ein umfassendes Programm der mentalen Hygiene und Heilung verstanden werden, das von der Diagnose über die Prävention bis hin zur radikalen Heilung reicht.

1. Methode: Überwindung durch Sehen (dassanā pahātabbā)

Dies ist die grundlegende Methode der diagnostischen Einsicht. Triebe werden hier dadurch überwunden, dass man die Wirklichkeit korrekt sieht, insbesondere durch die Brille der Vier Edlen Wahrheiten. Anstatt sich in unfruchtbaren Spekulationen über das Selbst zu verlieren, lenkt der weise Schüler seine Aufmerksamkeit auf die unmittelbare Erfahrung: „Was ist dieses Leiden? Was ist seine Ursache? Was ist seine Aufhebung? Was ist der Weg, der zu seiner Aufhebung führt?“. Diese Verlagerung von metaphysischen Fragen zu einer phänomenologischen Untersuchung ist der entscheidende erste Schritt. Diese Methode allein kann, zur Vollendung gebracht, zur Befreiung führen.

Schlüsselsatz: „Der gut unterwiesene edle Schüler… versteht, welche Dinge der Aufmerksamkeit wert sind und welche nicht…. Er lenkt seine Aufmerksamkeit auf ‚Dies ist das Leiden‘… ‚Dies ist der Weg, der zur Aufhebung des Leidens führt‘.“

2. Methode: Überwindung durch Zügelung (saṃvarā pahātabbā)

Dies ist die Methode der präventiven Sorgfalt. Sie besteht darin, die sechs Sinnesorgane – Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper und Geist – zu „bewachen“, um zu verhindern, dass die Triebe überhaupt erst entstehen. Es geht nicht darum, die Sinne abzutöten oder sich von der Welt abzuschotten. Vielmehr wird Achtsamkeit genau am Punkt des Sinneskontakts praktiziert. Ein angenehmer oder unangenehmer Reiz wird als solcher erkannt, ohne dass er automatisch Gier oder Abneigung auslöst. So wird die geistige und emotionale Stabilität bewahrt.

Schlüsselsatz: „Wenn der Mönch… mit dem Auge eine Form sieht, verweilt er gezügelt… damit nicht üble, unheilsame Zustände von Gier und Gram über ihn hereinbrechen.“

3. Methode: Überwindung durch Gebrauch (paṭisevanā pahātabbā)

Diese Methode verwandelt die Notwendigkeiten des täglichen Lebens in eine spirituelle Praxis. Sie beinhaltet den weisen, reflektierenden Gebrauch der vier Grundbedürfnisse: Kleidung, Nahrung, Unterkunft und Medizin. Indem man über den wahren Zweck dieser Dinge nachdenkt – zum Beispiel, dass Nahrung lediglich dem Erhalt des Körpers dient, um den heiligen Wandel zu unterstützen –, untergräbt man ihr Potenzial, Gier, Eitelkeit oder Genusssucht zu nähren. Es ist eine Praxis der Genügsamkeit und Entsagung mitten im Leben.

Schlüsselsatz: „Weise erwägend, gebraucht er die Almosenspeise – nicht zum Vergnügen, nicht zum Rausch… sondern nur zum Erhalt und Fortbestand dieses Körpers, zur Abwendung von Schaden, zur Unterstützung des heiligen Lebens.“

4. Methode: Überwindung durch Erdulden (adhivāsanā pahātabbā)

Hier geht es um die Kultivierung von mentaler Stärke und Resilienz. Es ist die Fähigkeit, unvermeidbare Härten zu ertragen – seien sie physischer Natur wie Hitze, Kälte und Schmerz oder psychischer Natur wie beleidigende Worte. Dies ist keine passive Resignation, sondern ein aktives, bewusstes Annehmen der Situation. Es verhindert das sekundäre Leiden, das aus Widerstand, Ärger und Selbstmitleid entsteht. Ein schmerzhaftes Gefühl wird ertragen, ohne dass es sich zu einer mentalen Krise auswächst.

Schlüsselsatz: „Weise erwägend, erträgt er Kälte, Hitze, Hunger und Durst… er erträgt schlecht gesprochene, unwillkommene Worte und entstandene körperliche Gefühle, die schmerzhaft, stechend, scharf… sind.“

5. Methode: Überwindung durch Meiden (parivajjanā pahātabbā)

Dies ist die Methode der strategischen Klugheit. Sie ist das Gegenstück zum Erdulden und erkennt an, dass manche Situationen klugerweise gemieden werden sollten. Man meidet bewusst bekannte Gefahren: physische wie einen wilden Elefanten oder einen Abgrund, aber auch moralische und soziale wie unpassende Orte oder „schlechte Freunde“, deren Umgang bei weisen Gefährten den Verdacht auf unheilsames Verhalten erregen würde. Es ist eine pragmatische Form des Selbstschutzes.

Schlüsselsatz: „Weise erwägend, meidet er einen wilden Elefanten… einen wilden Hund… einen Abgrund… und jene schlechten Freunde, durch die verständige Gefährten im heiligen Leben ihn [schlechten Verhaltens] verdächtigen würden.“

6. Methode: Überwindung durch Beseitigen (vinodanā pahātabbā)

Dies ist die aktive Behandlung für geistige Leiden, die bereits aufgetreten sind. Es geht darum, unheilsamen Gedanken nicht zu erlauben, sich im Geist einzunisten und zu wuchern. Wenn ein Gedanke des Begehrens, des Übelwollens oder der Grausamkeit aufsteigt, toleriert ihn der Praktizierende nicht, sondern vertreibt, entfernt und vernichtet ihn aktiv. Diese Methode steht in engem Zusammenhang mit den fünf Techniken, die in der Vitakkasaṇṭhāna Sutta (MN 20) gelehrt werden, wie zum Beispiel das Ersetzen des Gedankens durch sein Gegenteil.

Schlüsselsatz: „Weise erwägend, lässt er einen entstandenen Gedanken der Sinnlichkeit nicht zu, er gibt ihn auf, vertreibt ihn, macht ihm ein Ende und lässt ihn verschwinden.“

7. Methode: Überwindung durch Entfalten (bhāvanā pahātabbā)

Dies ist die höchste Methode der Transformation. Sie geht über das Verhindern und Beseitigen des Negativen hinaus und widmet sich der aktiven Kultivierung der höchsten positiven Geistesqualitäten. Dies ist die Praxis der Entfaltung der Sieben Erleuchtungsglieder (satta bojjhaṅgā): Achtsamkeit (sati), Wirklichkeitsergründung (dhammavicaya), Energie (viriya), Freude (pīti), Stille (passaddhi), Sammlung (samādhi) und Gleichmut (upekkhā). Dies ist der Kern der meditativen Entwicklung (bhāvanā), der zur endgültigen Ausrottung der Triebe führt.

Schlüsselsatz: „Weise erwägend, entfaltet er den Erleuchtungsfaktor der Achtsamkeit… der Energie… des Gleichmuts, der auf Abgeschiedenheit, Schwinden und Aufhören beruht und in Loslösung mündet.“

Analyse und Bedeutung für die heutige Praxis

Das zentrale Werkzeug, das alle sieben Methoden durchdringt und ihre wirksame Anwendung erst ermöglicht, ist die weise Betrachtung, yoniso manasikāra. Es ist jene intelligente Achtsamkeit, die uns befähigt, in jeder Situation das richtige Werkzeug für die anstehende Aufgabe zu wählen. Man könnte es mit einem Handwerksmeister vergleichen: Ein Anfänger hat vielleicht nur einen Hammer und versucht, jedes Problem damit zu lösen – zum Beispiel durch reine Unterdrückung. Ein Meister hingegen besitzt einen ganzen Werkzeugkasten und weiß genau, wann er den feinen Meißel der Einsicht (Sehen), die Schutzhandschuhe (Zügelung), die stabile Werkbank (Erdulden) oder das Poliertuch (Entfalten) einsetzen muss. Das Sabbāsava Sutta gibt uns diesen Werkzeugkasten an die Hand; yoniso manasikāra ist die Meisterschaft, ihn zu benutzen.

Die zeitlose Relevanz dieser Methoden zeigt sich in ihrer direkten Anwendbarkeit auf moderne Lebenssituationen:

  • Sehen: Anstatt in einer Spirale der Zukunftsangst über die Karriere zu versinken („Werde ich erfolgreich sein?“), reflektiert man weise: „Diese Angst ist Leiden. Sie wird durch das Festhalten an einem bestimmten Ergebnis verursacht. Was kann ich jetzt tun, das heilsam ist?“
  • Zügelung: Beim endlosen Scrollen durch soziale Medien praktiziert man Zügelung, indem man das Smartphone bewusst beiseitelegt und den aufkommenden Neid oder das Begehren als unheilsam erkennt.
  • Gebrauch: Man kauft ein Auto aufgrund seiner praktischen Funktion und Sicherheit, nicht als Statussymbol. Man isst eine Mahlzeit, um gesund zu bleiben, nicht um Emotionen zu betäuben.
  • Erdulden: Während eines angespannten Meetings oder eines schwierigen Familiengesprächs erträgt man die unangenehmen Gefühle, ohne verbal anzugreifen, und beobachtet sie als vergängliche Phänomene.
  • Meiden: Man erkennt, dass ein bestimmter Freundeskreis sich hauptsächlich durch Klatsch und Negativität definiert, und entscheidet sich bewusst, weniger Zeit mit ihm zu verbringen, um den eigenen Geist zu schützen.
  • Beseitigen: Wenn ein Gedanke des Grolls gegenüber einem Kollegen aufkommt, ersetzt man ihn aktiv durch die Erinnerung an dessen gute Eigenschaften oder durch einen Gedanken der liebenden Güte (mettā).
  • Entfalten: Man verpflichtet sich zu einer regelmäßigen Meditationspraxis, um Achtsamkeit, Ruhe und Klarheit zu kultivieren und den Geist zu einem friedvolleren und widerstandsfähigeren Ort zu machen.

Fazit: Die zeitlose Weisheit des Sabbāsava Sutta

Die Kernbotschaft des Sabbāsava Sutta ist zutiefst ermächtigend: Die Befreiung vom Leiden ist kein mystisches, unerreichbares Ziel, sondern das Ergebnis eines praktischen, intelligenten und vielschichtigen Trainings. Diese Lehrrede ist die Meisterlektion des Buddha in mentaler Handwerkskunst. Sie stattet uns nicht nur mit einem vollständigen Satz von Werkzeugen aus, sondern lehrt uns vor allem die Weisheit, zu erkennen, welches Werkzeug wann und wie eingesetzt werden muss. Sie ist eine zeitlose Anleitung, um unseren eigenen Geist von einer Quelle des Leidens in eine Quelle unerschütterlichen Friedens zu verwandeln.

Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente

Um die volle Tiefe und den Kontext dieser Lehren zu erfassen, laden wir Sie ein, die vollständige Lehrrede selbst zu studieren.

Weitere ausgewählte Quellen zum Thema: