
Analyse des Sappurisa Sutta (MN 113): Der rechtschaffene Mensch – Ein Kompass für spirituelle Integrität
Einleitung: Die Kernaussage und Bedeutung der Lehrrede
Inhaltsverzeichnis
Auf dem spirituellen Weg stellt sich früher oder später eine entscheidende Frage, die weit über die Einhaltung von Regeln oder das Ansammeln von Wissen hinausgeht: Woran erkennen wir wahre spirituelle Reife? Wie unterscheiden wir authentischen Fortschritt von einer subtilen Form der Selbsttäuschung? In einer Welt, die von äußeren Erfolgen und sichtbaren Leistungen besessen ist, neigen wir dazu, diesen Maßstab auch auf unsere innere Entwicklung anzuwenden. Wir messen unseren Wert an der Anzahl der Meditationsretreats, der Tiefe unserer Konzentration oder dem Lob, das wir von Lehrern erhalten.
Das Sappurisa Sutta, die 113. Lehrrede der Mittleren Sammlung des Pāli-Kanons, stellt diese Annahmen radikal in Frage. Der Buddha legt hier einen zeitlosen und universell gültigen Kompass für spirituelle Integrität vor. Diese Lehrrede ist weit mehr als ein historisches Dokument; sie ist ein präziser, psychologischer Spiegel, der uns einlädt, die subtilsten Bewegungen unseres eigenen Geistes zu untersuchen. Sie enthüllt mit unerbittlicher Klarheit den Mechanismus, durch den das Ego selbst die heiligsten Erfahrungen und edelsten Tugenden für seine eigene Stärkung missbrauchen kann.
Die zentrale Lehre des Suttas ist die Gegenüberstellung des „unrechtschaffenen Menschen“ (asappurisa) und des „rechtschaffenen Menschen“ (sappurisa). Der Buddha zeigt auf, dass der entscheidende Unterschied nicht in dem liegt, was man erreicht, sondern wie man sich zu diesen Errungenschaften verhält. Die Lehrrede entlarvt die feine, aber giftige Verunreinigung des Dünkels (māna) als eines der hartnäckigsten Hindernisse auf dem Weg zur Befreiung. Während der asappurisa jede seiner Qualitäten – von weltlichem Status bis hin zu höchsten meditativen Zuständen – nutzt, um sich selbst zu erhöhen und andere herabzusetzen, erkennt der sappurisa, dass keine dieser Errungenschaften das eigentliche Ziel des Weges ist: die Auslöschung von Gier, Hass und Verblendung.
Damit fungiert das Sutta nicht primär als ein Werkzeug, um andere oder uns selbst hart zu verurteilen. Vielmehr ist es eine zutiefst mitfühlende Lehre. Indem der Buddha die allgegenwärtige und heimtückische Natur des Dünkels beleuchtet, gibt er uns eine Landkarte an die Hand. Er zeigt auf, dass die Neigung zum Stolz eine universelle menschliche Eigenschaft ist, die sich an jede Qualität heften kann. Diese Erkenntnis soll nicht zu Scham führen, sondern zu achtsamer Wachsamkeit. Das Sutta verwandelt eine unserer größten Schwächen in ein Objekt der meditativen Untersuchung und bietet so einen Weg, sie mit Weisheit zu überwinden. Es ist eine Anleitung zur Kultivierung einer Integrität, die nicht auf Leistung beruht, sondern auf der unerschütterlichen Ausrichtung des Herzens auf wahre Reinigung und Befreiung.
Steckbrief der Lehrrede
Um eine klare Orientierung zu geben, bevor wir in die tiefere Analyse eintauchen, fasst die folgende Tabelle die wesentlichen Eckdaten der Lehrrede zusammen. Sie dient als Ankerpunkt und führt die zentralen Begriffe ein, die im weiteren Verlauf entfaltet werden.
Merkmal | Information |
---|---|
Pāli-Titel: | Sappurisa Sutta |
Sutta-Nummer: | MN 113 (Majjhima Nikāya 113) |
Sammlung: | Majjhima Nikāya (Die mittlere Sammlung der Lehrreden) |
Deutscher Titel: | Die Lehrrede über den rechtschaffenen Menschen / Ein guter Mensch |
Kernthema(s): | „Spiritueller Dünkel (māna), Integrität, die wahre Praxis (paṭipadā), Nicht-Identifikation (atammayatā), die subtile Verunreinigung des Geistes.“ |
Diese Übersicht verortet das Sutta innerhalb des Pāli-Kanons und hebt seine Kernkonzepte hervor. Die Pāli-Begriffe māna und atammayatā sind von entscheidender Bedeutung für das Verständnis der tiefsten Schichten dieser Lehre und werden im Folgenden ausführlich erläutert.
Kontext: Warum wurde diese Lehrrede gehalten?
Die Lehrrede wurde, wie so viele andere, vom Buddha in Sāvatthī gehalten, im berühmten Jetavana, dem Kloster, das ihm von Anāthapiṇḍika gestiftet worden war. Er richtete seine Worte direkt an die versammelte Gemeinschaft der Mönche (bhikkhus). Während der Text selbst keine spezifische auslösende Frage oder ein konkretes Ereignis erwähnt, das zu dieser Belehrung führte, ist der doktrinäre Kontext von immenser Bedeutung.
Das Sappurisa Sutta adressiert eines der fundamentalsten Probleme auf dem spirituellen Pfad und eine der größten Herausforderungen für fortgeschrittene Praktizierende: die Fessel des Dünkels (māna saṃyojana). Im buddhistischen Lehrgebäude wird Dünkel nicht als einfache Charakterschwäche wie Arroganz oder Hochmut verstanden. Māna ist eine tief verwurzelte kognitive und emotionale Gewohnheit, das eigene Selbst konstant mit anderen zu vergleichen und zu bewerten. Es manifestiert sich in drei Formen: dem Gefühl, besser zu sein als andere (asmimāna), schlechter zu sein als andere (omāna), oder gleich zu sein wie andere (māna). Jede dieser drei Formen verstärkt die Illusion eines getrennten, festen Selbst. Diese Fessel ist besonders heimtückisch, da sie zu den letzten fünf der zehn Fesseln (saṃyojana) gehört, die einen Menschen an den Kreislauf der Wiedergeburten (saṃsāra) binden. Sie wird erst auf der Stufe des Nicht-Wiederkehrers (anāgāmī) geschwächt und erst mit dem Erreichen der vollen Erwachung, dem Arahantship, vollständig entwurzelt. Das bedeutet, dass selbst Praktizierende, die bereits tiefe Einsichten gewonnen und viele grobe Verunreinigungen überwunden haben, für diese subtile Form des Ich-Anhaftens anfällig bleiben.
Die Struktur der Lehrrede spiegelt diese psychologische Realität wider. Sie ist eine brillante pädagogische Strategie, um dem entgegenzuwirken, was man heute als „spirituelles Umgehen“ (spiritual bypassing) bezeichnen könnte. Dieser Begriff beschreibt den Versuch, spirituelle Praktiken und Überzeugungen zu nutzen, um sich ungelösten psychologischen Problemen, emotionalen Wunden und grundlegenden Entwicklungsaufgaben nicht stellen zu müssen. Der Buddha zeigt, dass jede Errungenschaft – sei sie weltlicher, ethischer oder meditativer Natur – vom Ego instrumentalisiert werden kann, um ein Gefühl der Überlegenheit zu erzeugen und so genau jene Ich-Vorstellung zu zementieren, die die Praxis eigentlich auflösen soll. Indem der Buddha systematisch jede mögliche Nische für den Dünkel aufzeigt – von der sozialen Herkunft über asketische Disziplin bis hin zu den höchsten meditativen Zuständen –, schließt er alle Fluchtwege. Man kann sich nicht hinter seinem Status verstecken, nicht hinter seiner Moral und nicht einmal hinter der Glückseligkeit der vierten Vertiefung (jhāna). Das Sutta zwingt den Praktizierenden, sich der Wurzel des Problems zu stellen: der tiefsitzenden Tendenz, ein Selbst durch Vergleich zu konstruieren, unabhängig vom verwendeten Material. Somit ist diese Lehrrede keine grundlegende Einführung für Anfänger, sondern eine Meisterklasse für ernsthafte Praktizierende, die das höchste Ziel der Befreiung anstreben.
Die Kerninhalte: Eine strukturierte Zusammenfassung
Die außergewöhnliche Kraft des Sappurisa Sutta liegt in seiner systematischen und repetitiven Struktur. Wie ein Chirurg, der Schicht für Schicht Gewebe abträgt, um zum Kern eines Problems vorzudringen, dekonstruiert der Buddha Schicht für Schicht die Grundlagen des spirituellen Dünkels.
Das Grundmuster: Der Mechanismus des Dünkels (Māna)
Die gesamte Lehrrede basiert auf einem wiederkehrenden psychologischen Muster, das den asappurisa, den unrechtschaffenen Menschen, kennzeichnet. Dieser Prozess lässt sich in zwei Schritten beschreiben:
- Identifikation: Die Person identifiziert sich mit einem bestimmten Merkmal, einer Eigenschaft oder einer Errungenschaft. Der Gedanke formt sich: „Ich bin einer, der aus einer vornehmen Familie stammt“ oder „Ich bin einer, der die erste Vertiefung erlangt hat“.
- Vergleich und Urteil: Auf der Grundlage dieser Identifikation erfolgt unmittelbar der Vergleich mit anderen, der in Selbstüberhöhung und Herabsetzung mündet. Im Pāli-Kanon wird dies mit der stereotypen Formel attukkaṃseti (er erhebt sich selbst) und paraṃ vambheti (er setzt andere herab) beschrieben.
Dieser zweistufige Mechanismus ist die Essenz des Dünkels. Er ist nicht nur ein Gedanke, sondern ein aktiver Prozess der Selbst-Konstruktion. Der asappurisa nutzt seine Errungenschaften als Bausteine für ein überlegenes Selbstbild. Der sappurisa hingegen durchschaut diesen Prozess und unterbricht ihn.
Die groben Formen des Stolzes: Weltlicher Status und spiritueller Gewinn
Der Buddha beginnt seine Analyse bei den offensichtlichsten und weltlichsten Quellen des Stolzes, jenen, die in jeder Gesellschaft als Statussymbole gelten. Er listet auf:
- Die Herkunft aus einer vornehmen Familie (uccā kulā), einer großen Familie (mahā kulā) oder einer wohlhabenden Familie (mahābhogakulā).
- Bekanntheit und hohes Ansehen (ñāto hoti yasassī).
- Der materielle Gewinn (lābhī) von Roben, Almosenspeise, Unterkunft und medizinischer Versorgung.
Der asappurisa betrachtet diese äußeren Umstände als Beweis seines Wertes und verachtet jene, die weniger privilegiert sind. Doch der Buddha erweitert diese Kategorie schnell auf Bereiche, die der spirituellen Sphäre näher stehen: Stolz darauf, gelehrt zu sein (bahussuto), ein Experte der Ordensregeln (vinayadharo) oder ein fähiger Lehrer der Lehre (dhammakathiko) zu sein. Hier setzt die Gegenreflexion des sappurisa, des rechtschaffenen Menschen, ein. Sein Denken ist ein radikaler Bruch mit weltlichen Wertmaßstäben. Er erkennt und reflektiert beständig: „Nicht durch die Herkunft aus einer vornehmen Familie gehen die Qualitäten von Gier, Hass und Verblendung zu Ende. Selbst wenn jemand nicht aus einer vornehmen Familie stammt, aber die Lehre im Einklang mit der Lehre praktiziert, meisterhaft praktiziert und der Lehre folgt, ist er dafür zu ehren, dafür zu preisen.“ Dieser Gedanke ist der rote Faden, der sich durch den ersten Teil der Lehrrede zieht. Er etabliert einen neuen, inneren Maßstab für wahren Wert. Nicht Herkunft, Ansehen, Gewinn oder sogar Wissen sind entscheidend, sondern einzig und allein die Qualität der Praxis (paṭipadā) und ihre Ausrichtung auf das höchste Ziel: die Befreiung des Geistes von seinen Verunreinigungen.
Die fromme Falle: Wenn die Praxis zum Statussymbol wird
Im nächsten Schritt dringt der Buddha tiefer in die Psyche des Praktizierenden ein und entlarvt eine noch subtilere Falle: die Identifikation mit der Praxis selbst. Er listet eine Reihe von anspruchsvollen asketischen Übungen (dhutaṅga) auf, die in der damaligen Zeit hohes Ansehen genossen:
- Ein Waldeinsiedler sein (āraññiko)
- Sich nur von Almosenspeise ernähren (piṇḍapātiko)
- Roben aus weggeworfenen Stofffetzen tragen (paṃsukūliko)
- Unter einem Baum wohnen (rukkhamūliko)
- Auf einem Leichenfeld leben (sosāniko)
- Im Freien leben (abbhokāsiko)
- Niemals liegend schlafen (nesajjiko)
- Nur eine Mahlzeit am Tag zu sich nehmen (ekāsaniko)
Der asappurisa sieht diese anspruchsvollen Übungen nicht als Werkzeuge zur Läuterung, sondern als Abzeichen seiner Überlegenheit. Er denkt: „Ich bin ein Waldeinsiedler, aber diese anderen Mönche sind es nicht“, und nutzt seine Entsagung, um sich über andere zu erheben. Hier zeigt sich die bittere Ironie des spirituellen Weges: Die Mittel, die dazu dienen sollen, das Ego aufzulösen, werden zu den stärksten Ziegeln, um eine neue, „spirituell erhabene“ Identität zu errichten. Die Weisheit des sappurisa liegt darin, auch diese Falle zu durchschauen. Er erkennt, dass diese Praktiken keinen Selbstzweck haben. Der wahre Wert liegt nicht im Befolgen der Regel an sich, sondern darin, ob die Praxis tatsächlich zur Verringerung der inneren Gifte führt. Sein Fokus bleibt unerschütterlich auf dem, was im Pāli als dhammānudhammappaṭipanna bezeichnet wird – dem Praktizieren in einer Weise, die mit dem Geist und dem Ziel der Lehre übereinstimmt. Er ehrt die aufrichtige Praxis, nicht das äußere Etikett.
Die subtilste Verblendung: Dünkel auf meditative Errungenschaften
Der Höhepunkt und die tiefgründigste Lehre des Suttas wird erreicht, wenn der Buddha zu den meditativen Errungenschaften übergeht. Hier betreten wir den Bereich der subtilsten und gefährlichsten Form des Dünkels. Der Buddha beschreibt, wie ein asappurisa, der die meditativen Vertiefungen (jhāna) erreicht – Zustände tiefster Konzentration, Glückseligkeit und inneren Friedens –, denkt: „Ich habe die erste Vertiefung erlangt, aber diese anderen Mönche haben die erste Vertiefung nicht erlangt.“ Dieser Gedanke wiederholt sich für alle vier jhānas und die darauf folgenden vier formlosen Bereiche (āyatana): die Sphäre des unendlichen Raumes, des unendlichen Bewusstseins, des Nichts und der Weder-Wahrnehmung-noch-Nicht-Wahrnehmung. Die Gefahr ist hier ungleich größer als bei weltlichem Status oder asketischen Regeln. Diese meditativen Zustände sind authentische, tiefgreifende und transformierende Erfahrungen. Die Versuchung, sie als „mein“ zu beanspruchen, als Beweis der eigenen spirituellen Meisterschaft zu sehen und eine Identität um sie herum zu errichten, ist immens.
An diesem kritischen Punkt führt der Buddha das Gegenmittel ein, das die Reflexion des sappurisa auf eine neue Ebene hebt. Es ist das Konzept der atammayatā. Dieser Begriff ist schwer zu übersetzen; er bedeutet wörtlich „Nicht-daraus-gemacht-sein“ und wird oft als „Nicht-Identifikation“ oder „Nicht-Gestalten“ wiedergegeben. Die Reflexion des rechtschaffenen Menschen lautet nun: „Der Erhabene hat von Nicht-Gestalten (atammayatā) gesprochen, sogar in Bezug auf die Erreichung der [ersten Vertiefung], denn auf welche Weise auch immer sie es sich vorstellen, es wird anders als das.“
Diese Aussage ist der Schlüssel zur höchsten Weisheit des Suttas. Der Satz „es wird anders als das“ (aññathā taṃ hoti) verweist direkt auf das universelle Gesetz der Vergänglichkeit (anicca). Jeder Versuch, einen meditativen Zustand zu ergreifen, ihn zu definieren oder sich durch ihn zu identifizieren, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn der Zustand selbst ist ein bedingtes, flüchtiges Phänomen. Er entsteht, verweilt für eine Zeit und vergeht wieder. Atammayatā ist somit die direkte Anwendung der Weisheit der Vergänglichkeit auf die Struktur der Erfahrung selbst. Es ist die tiefgreifende Einsicht, dass „Ich“ nicht „aus“ dieser glückseligen Erfahrung „gemacht“ bin. Diese Einsicht durchtrennt die Wurzel des Dünkels an seiner Quelle. Dünkel benötigt zwei stabile Konzepte, um zu gedeihen: ein stabiles „Objekt“ (die Errungenschaft) und ein stabiles „Subjekt“ (den Erreichenden, das Ich). Atammayatā dekonstruiert beide. Es gibt keine feste Errungenschaft, die man besitzen könnte, und kein festes Selbst, das sie besitzen würde. Wahre Freiheit liegt also nicht darin, immer höhere Zustände zu erreichen, sondern darin, aufzuhören, sich mit irgendeinem Zustand zu identifizieren, egal wie erhaben er auch sein mag.
Die höchste Frucht: Vollständige Befreiung
Nachdem der sappurisa die Praxis der Nicht-Identifikation gemeistert hat, ist der Weg frei für die endgültige Befreiung. Der Buddha beschreibt den letzten Schritt: Der rechtschaffene Mensch geht über die Sphäre der Weder-Wahrnehmung-noch-Nicht-Wahrnehmung hinaus und „tritt in die Aufhebung von Wahrnehmung und Gefühl ein und verweilt darin“ (saññāvedayitanirodhaṃ upasampajja viharati). Dies ist ein Zustand, der nur für Nicht-Wiederkehrer und Arahants erreichbar ist, ein vollständiges Zur-Ruhe-Kommen aller geistigen Aktivitäten. Und dann folgt der entscheidende Satz: „Und nachdem er mit Weisheit gesehen hat (paññāya disvā), sind seine Einflüsse (āsava) zerstört.“. Die āsavas – die tiefsten, unbewussten Triebe von sinnlichem Begehren, Werdenwollen, falschen Ansichten und Unwissenheit – sind vollständig ausgelöscht. Dies ist die Definition eines Arahants, eines vollständig erwachten Wesens. Das Sutta schließt mit der ultimativen Beschreibung eines solchen befreiten Geistes: „Dieser Mönch stellt sich nichts vor, stellt sich über nichts vor und stellt sich in keiner Weise vor.“. Der Prozess des māna, des Vergleichens und der Selbstkonstruktion, ist endgültig zum Erliegen gekommen. Es gibt kein Selbst mehr, das sich erheben, und keinen anderen mehr, der herabgesetzt werden könnte. Dies ist die vollkommene Stille, die aus der vollständigen Entwurzelung des Dünkels resultiert.
Analyse und Bedeutung für die heutige Praxis
Die Weisheit des Sappurisa Sutta ist nicht auf die klösterliche Gemeinschaft des alten Indien beschränkt. Seine Lehren sind von erschreckender Relevanz für jeden modernen Menschen, der einen Weg der inneren Entwicklung geht. In unserer von Wettbewerb und Selbstdarstellung geprägten Kultur sind die Fallen des spirituellen Dünkels allgegenwärtig. Die Lehre bietet uns ein äußerst praktisches Werkzeug, um diesen Fallen zu entgehen.
Das zentrale „Werkzeug“, das wir aus diesem Text mitnehmen können, ist der „Sappurisa-Check“. Es ist eine einfache, aber tiefgreifende Frage, die wir uns in Momenten des Stolzes oder der Selbstzufriedenheit stellen können. Ob nach einer erfolgreichen Meditation, dem Erhalt eines Kompliments für unsere Einsicht, dem Abschluss eines wichtigen Projekts oder dem Gefühl, eine ethische Herausforderung gemeistert zu haben – wir können innehalten und fragen: Führt diese Errungenschaft und meine Reaktion darauf zur Beendigung von Gier, Hass und Verblendung in meinem Herzen? Oder benutze ich dieses Gefühl des Erfolgs, um mich selbst zu erheben und andere – sei es offen oder nur in meinen Gedanken – herabzusetzen? Diese einfache Untersuchung verlagert den Fokus augenblicklich. Sie lenkt die Aufmerksamkeit weg von der Ego-Bestätigung und hin zum eigentlichen Zweck des Pfades. Sie ist ein Akt der Achtsamkeit, der den automatischen Prozess der Identifikation und des Vergleichs unterbricht und uns zurück zur wahren Praxis bringt.
Eine treffende moderne Analogie für das Verhalten des asappurisa ist das Führen eines „spirituellen Lebenslaufs“. Unsere Kultur konditioniert uns darauf, unser Leben als eine Ansammlung von Erfolgen zu sehen, die wir in einem Lebenslauf dokumentieren. Diese Mentalität übertragen wir oft unbewusst auf unseren spirituellen Weg. Wir „sammeln“ Retreats bei berühmten Lehrern, besondere meditative Erfahrungen, Kenntnisse komplexer Lehren oder sogar Titel wie „Meditationslehrer“ oder „Yogalehrer“. Der asappurisa ist jemand, der diesen spirituellen Lebenslauf ständig poliert, ihn sich selbst und anderen präsentiert, um seinen Wert zu beweisen. Der sappurisa hingegen hat verstanden, dass Befreiung nichts mit diesem Lebenslauf zu tun hat. Er hat ihn symbolisch weggeworfen. Er weiß, dass wahre Spiritualität kein Prozess des Hinzufügens von Errungenschaften ist, sondern ein Prozess der Subtraktion, des Loslassens, des Ent-Lastens. Es geht darum, all die Identitäten, die wir uns aufgebaut haben, Schicht für Schicht abzulegen – insbesondere die glänzendste und verführerischste von allen: die Identität des „fortgeschrittenen spirituellen Menschen“. Das Sutta lehrt uns, dass wahre Integrität nicht in der Länge unseres spirituellen Lebenslaufs liegt, sondern in der Bereitschaft, ihn jederzeit zu zerreißen.
Fazit: Die zeitlose Weisheit des Sappurisa Sutta
Das Sappurisa Sutta ist eine der tiefgründigsten und psychologisch scharfsinnigsten Lehrreden des Buddha über die Natur wahrer Integrität. Es ist ein unmissverständlicher Leitfaden, der uns daran erinnert, dass spiritueller Wert niemals an äußeren Errungenschaften gemessen werden kann, sondern ausschließlich an der Qualität unseres Herzens und der Ausrichtung unseres Geistes. Die Lehrrede enthüllt mit chirurgischer Präzision, wie der Dünkel – die subtile Neigung zu Vergleich und Selbstüberhöhung – selbst die edelsten Tugenden und tiefsten Erfahrungen vergiften kann. Sie zeigt, dass wahre Reife nicht in den Höhenflügen unserer meditativen Zustände zu finden ist, sondern in der Tiefe unserer Demut. Der Weg zur Befreiung ist kein Wettlauf um spirituelle Trophäen und keine Leiter von Errungenschaften, die es zu erklimmen gilt. Er ist vielmehr ein beständiges Loslassen, ein fortschreitendes Ablegen der Lasten des Ichs, bis schließlich nichts mehr da ist, das sich erheben könnte, und niemand mehr, der herabgesetzt werden müsste. In dieser Stille offenbart sich die wahre Freiheit.
Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente
Die tiefste Weisheit dieser Lehrrede entfaltet sich durch das wiederholte Lesen und die persönliche Kontemplation. Wir ermutigen Sie, den vollständigen Text selbst zu studieren.
Lese die vollständige Lehrrede auf SuttaCentral: https://suttacentral.net/mn113/de
- Sappurisa Sutta – The Minding Centre
- MN 113 Sappurisa Sutta: A True Person – The Open Buddhist University
- Majjhima Nikāya – Theravada Buddhist Council of Malaysia
- Majjhima Nikaya 113 – Palikanon
- Sappurisasutta—Bhikkhu Sujato – MN 113 – SuttaCentral
- MN 113: Sappurisa Sutta — A Person of Integrity – Dhamma Wheel Buddhist Forum
- Sappurisa Sutta: A Person of Integrity – Access to Insight
- A Person of Integrity Sappurisa Sutta (MN 113) – dhammatalks.org