MN 135 – Cūḷakammavibhaṅga Sutta

MN Lehrreden Erklärungen
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Analyse des Cūḷakammavibhaṅga Sutta (MN 135): Die kürzere Analyse der Handlungen

Die Kernaussage und Bedeutung der Lehrrede

Einleitung: Die Kernaussage und Bedeutung der Lehrrede

Jeder aufmerksame Beobachter des menschlichen Lebens stellt sich unweigerlich die fundamentale Frage, die den Kern dieser Lehrrede bildet: Warum, Herr, sehen wir unter den Menschen so große Unterschiede? Warum sind manche kurzlebig und andere langlebig, manche krank und andere gesund, manche hässlich und andere schön, manche arm und andere reich, manche von niederer Herkunft und andere von hoher? Diese Frage, gestellt vom jungen Brahmanen Subha, berührt das Herz der menschlichen Erfahrung von Ungleichheit und scheinbarer Ungerechtigkeit.

Die Antwort des Buddha in diesem Sutta ist ebenso direkt wie revolutionär. Er stellt sich gegen die damals vorherrschenden Lehren von blindem Schicksal, göttlicher Willkür oder reinem Zufall und präsentiert stattdessen ein tiefgreifendes Naturgesetz: das Gesetz von kamma (Handlung). Unsere Lebensumstände, so der Buddha, sind kein Zufallsprodukt, sondern das Ergebnis unserer eigenen bewussten Handlungen, Worte und Gedanken. Das Cūḷakammavibhaṅga Sutta gilt als eine der grundlegendsten und meistzitierten Lehrreden zu diesem Thema. Es ist die „kürzere“ (cūḷa) Analyse der Handlungen und dient als ein klares und zugängliches „Benutzerhandbuch“ für das Gesetz von ethischer Ursache und Wirkung. Die immense Bedeutung dieser Lehrrede liegt in ihrer ermächtigenden Botschaft: Sie legt die Verantwortung für das eigene Glück und Leid und damit auch das Potenzial für die Befreiung, vollständig in die Hände des Einzelnen.

Steckbrief der Lehrrede

Die folgende Tabelle fasst die wichtigsten Eckdaten dieser Lehrrede zusammen und dient der schnellen Orientierung im Pāli-Kanon.

Merkmal Beschreibung
Pāli-Titel Cūḷakammavibhaṅga Sutta
Sutta-Nummer MN 135 (Majjhima Nikāya 135)
Sammlung Majjhima Nikāya (Die Mittlere Sammlung der Lehrreden des Buddha)
Deutscher Titel Die kürzere Analyse der Handlungen
Kernthema(s) Kamma (bewusste Handlung), Kammavipāka (Handlungsfrucht), ethische Verantwortung, Ursachen für Ungleichheit

Kontext: Warum wurde diese Lehrrede gehalten?

Die Lehrrede findet in Sāvatthī statt, im berühmten Jetavana-Kloster, das von Anāthapiṇḍika gestiftet wurde. Der Fragesteller ist der junge Brahmane Subha, der Sohn des Todeyya. Die Kommentare zeichnen ein lebhaftes Bild der unmittelbaren Umstände, die zu dieser Begegnung führten, und enthüllen, dass Subhas Frage nicht rein philosophischer Natur war, sondern aus einer tiefen persönlichen Krise erwuchs.

Subhas Vater, Todeyya, war ein außerordentlich reicher, aber notorisch geiziger Brahmane. Aufgrund seines starken Geizes, so berichten es die Kommentare, wurde er nach seinem Tod als Hund im eigenen Haus wiedergeboren. Als der Buddha auf seinem Almosengang an diesem Haus vorbeikam, sprach er den Hund mit dem Namen „Todeyya“ an. Dies empörte Subha zutiefst, der fest davon überzeugt war, sein Vater sei aufgrund seiner hohen gesellschaftlichen Stellung in einer himmlischen Brahma-Welt wiedergeboren worden. Um seine Behauptung zu beweisen und Subhas falschen Glauben zu erschüttern, forderte der Buddha Subha auf, den Hund nach einem verborgenen Schatz zu fragen, den sein Vater vergraben hatte. Als der Hund Subha tatsächlich zu dem verborgenen Gold führte, brach dessen Weltbild zusammen. Es ist dieser Schock, diese Konfrontation mit einer unbequemen Wahrheit, die Subha dazu veranlasst, den Buddha aufzusuchen. Seine Frage nach den Ursachen für „Verkommenheit und Vorzüglichkeit“ ist daher keine abstrakte Untersuchung, sondern der verzweifelte Versuch, die Kluft zwischen seinen bisherigen Überzeugungen – dass Reichtum und hohe Geburt Zeichen von Verdienst sind – und der schrecklichen Realität der Wiedergeburt seines Vaters zu verstehen. Der Buddha erkennt die persönliche Notlage Subhas und schneidet seine Lehre präzise auf dessen Situation zu. Er erklärt, wie Geiz zu Armut führt (was den Reichtum seines Vaters in ein neues Licht rückt) und wie Demut zu hoher Geburt führt (was Subhas eigenen Brahmanenstolz herausfordert). Doktrinär gesehen ist diese Lehrrede die „kürzere Analyse“ und bildet die Grundlage für die nachfolgende „größere Analyse“ im Mahākammavibhaṅga Sutta (MN 136), das sich mit komplexeren Aspekten von kamma befasst.

Die Kerninhalte: Eine strukturierte Zusammenfassung

Der Buddha beginnt seine detaillierte Erklärung nicht mit einer komplexen Theorie, sondern mit einer der tiefgründigsten und am häufigsten zitierten Formulierungen des gesamten Kanons:

Kammassakā, māṇava, sattā kammadāyādā, kammayoni, kammabandhu, kammapaṭisaraṇā. Kammaṁ satte vibhajati yadidaṁ hīnappaṇītatāyā’ti.

„Wesen sind Eigner ihrer Handlungen, o Jüngling, Erben ihrer Handlungen, sie entstehen aus ihren Handlungen, sind mit ihren Handlungen verbunden und haben ihre Handlungen als ihre Zuflucht. Es ist die Handlung, die die Wesen in gering und edel unterteilt.“

Jeder Teil dieser Aussage ist von großer Bedeutung:

  • Eigner (kammassakā): Wir sind keine passiven Opfer äußerer Kräfte. Wir besitzen unsere Handlungen; die Wahl, heilsam oder unheilsam zu handeln, liegt bei uns.
  • Erben (kammadāyādā): Den Konsequenzen unserer Taten können wir nicht entkommen. Sie sind unser wahres Erbe, das uns durch die Existenzen folgt.
  • Entstehen aus (kammayoni): Unsere Handlungen sind der „Schoß“ oder die „Gebärmutter“, aus der unsere zukünftige Existenz geboren wird.
  • Verbunden mit (kammabandhu): Unsere Handlungen sind unsere wahren Verwandten, enger mit uns verbunden als jede Familie.
  • Zuflucht (kammapaṭisaraṇā): Letztendlich ist unsere einzige sichere Zuflucht nicht Reichtum, Status oder Macht, sondern die Qualität unseres eigenen ethischen Verhaltens.

Auf Subhas Bitte hin entfaltet der Buddha diese Aussage in vierzehn klaren Beispielen, die jeweils eine unheilsame Handlung und ihr leidvolles Resultat einer heilsamen Handlung und ihrem glücklichen Resultat gegenüberstellen. Jede unheilsame Tat führt zu einer Wiedergeburt in leidvollen Welten (z.B. Höllenbereiche). Sollte die karmische Frucht jedoch im menschlichen Dasein reifen, führt sie zu den entsprechenden negativen Umständen. Umgekehrt führt jede heilsame Tat zu einer Wiedergeburt in glücklichen, himmlischen Welten oder, bei einer Wiedergeburt als Mensch, zu den entsprechenden positiven Umständen.

Handlung 1: Töten vs. Schützen von Leben (Resultat: Lebensspanne)

Unheilsam (akusala): Wer grausam ist, Lebewesen tötet, gewalttätig und ohne Mitleid handelt, wird, wenn er als Mensch wiedergeboren wird, ein kurzes Leben haben.

Heilsam (kusala): Wer auf das Töten verzichtet, Stock und Waffe niederlegt und voller Mitgefühl für das Wohl aller Lebewesen lebt, wird ein langes Leben genießen.

Handlung 2: Verletzen vs. Gewaltlosigkeit (Resultat: Gesundheit)

Unheilsam: Wer andere Wesen mit Fäusten, Steinen, Stöcken oder Waffen verletzt und ihnen Schaden zufügt, wird krank und gebrechlich sein.

Heilsam: Wer darauf verzichtet, andere Wesen zu verletzen, wird sich guter Gesundheit erfreuen.

Handlung 3: Zorn vs. Geduld (Resultat: Schönheit)

Unheilsam: Wer einen zornigen und reizbaren Charakter hat, sich schnell ärgert und auf Kritik mit Groll und Feindseligkeit reagiert, wird ein hässliches oder abstoßendes Erscheinungsbild haben.

Heilsam: Wer geduldig und sanftmütig ist, selbst bei starker Kritik nicht die Fassung verliert und frei von Groll bleibt, wird als anmutig und schön (pāsādika) wahrgenommen.

Handlung 4: Neid vs. Mitfreude (Resultat: Einfluss)

Unheilsam: Wer neidisch ist und anderen ihren Erfolg, ihre Ehre und ihren Respekt missgönnt, wird ein Leben ohne Einfluss und Bedeutung führen.

Heilsam: Wer frei von Neid ist und sich am Glück und Erfolg anderer erfreuen kann, wird großen Einfluss und Ansehen erlangen.

Handlung 5: Geiz vs. Großzügigkeit (Resultat: Wohlstand)

Unheilsam: Wer geizig ist und es unterlässt, Asketen, Priester oder Bedürftige mit Gaben wie Nahrung, Kleidung oder Unterkunft zu unterstützen, wird in Armut leben.

Heilsam: Wer großzügig ist (dāna) und Freude am Geben hat, wird Reichtum und Wohlstand erfahren.

Handlung 6: Arroganz vs. Demut (Resultat: sozialer Stand)

Unheilsam: Wer arrogant und hochmütig ist, jenen, die Respekt verdienen, keine Ehrerbietung erweist, nicht für sie aufsteht oder ihnen Platz macht, wird in einer niederen sozialen Schicht oder Familie wiedergeboren.

Heilsam: Wer demütig ist und jenen, die es verdienen (wie Ältere, Lehrer oder Weise), Respekt und Ehrerbietung zollt, wird in eine angesehene und hochgestellte Familie geboren.

Handlung 7: Ignoranz vs. Wissensdurst (Resultat: Weisheit)

Unheilsam: Wer es versäumt, weise Lehrer aufzusuchen und zu fragen: „Was ist heilsam, Herr? Was ist unheilsam? Was führt zu meinem langfristigen Leid und was zu meinem langfristigen Glück?“, wird dumm und verblendet sein.

Heilsam: Wer einen forschenden Geist besitzt, aktiv nach Weisheit sucht und weise Menschen befragt, um zwischen heilsamen und unheilsamen Handlungen zu unterscheiden, wird große Weisheit und Unterscheidungskraft (paññā) erlangen.

Analyse und Bedeutung für die heutige Praxis

Für einen modernen Praktizierenden ist das Cūḷakammavibhaṅga Sutta weit mehr als eine theologische Abhandlung über zukünftige Leben. Es ist ein äußerst praktisches, psychologisches Werkzeug für das Hier und Jetzt. Die sieben Paare von Ursache und Wirkung können als ein „diagnostischer Spiegel“ verstanden werden. Indem wir die „Früchte“ (vipāka) in unserem eigenen Leben ehrlich betrachten – erleben wir ständig Konflikte, fühlen wir uns unbedeutend, kämpfen wir mit Mangel? –, können wir Rückschlüsse auf die wahrscheinlichen „Wurzeln“ (kamma) in unseren eigenen gewohnheitsmäßigen Geisteszuständen ziehen. Ständiger Konflikt („Hässlichkeit“ im übertragenen Sinne) kann auf verborgenen Zorn hindeuten. Ein Gefühl der Bedeutungslosigkeit kann auf latenten Neid zurückzuführen sein. Diese Herangehensweise verlagert den Fokus von der Angst vor zukünftiger Bestrafung hin zur Möglichkeit der Selbstreflexion und gezielten geistigen Kultivierung im gegenwärtigen Moment.

Es ist jedoch von entscheidender Bedeutung, die Lehre von kamma nicht als eine starre Schicksalsdoktrin misszuverstehen. Der Buddha lehrt an anderer Stelle, wie im Sīvaka Sutta (S 36.21), dass nicht alles, was wir erfahren, ausschließlich auf vergangenes kamma zurückzuführen ist. Unsere gegenwärtige Erfahrung ist ein komplexes Zusammenspiel aus den Früchten vergangener Handlungen, den neuen Handlungen, die wir jetzt setzen, sowie aus rein physikalischen und biologischen Bedingungen. Die Lehre von kamma ist keine Form von Determinismus, sondern ein Aufruf zur aktiven Gestaltung der Zukunft. Die Analogie vom Salzkristall aus dem Loṇaphala Sutta (A 3.99) verdeutlicht dies meisterhaft. Ein Klumpen Salz (eine vergangene unheilsame Tat) wird eine kleine Tasse Wasser ungenießbar machen. Derselbe Klumpen Salz jedoch, geworfen in einen großen Fluss wie den Ganges, wird den Geschmack des Wassers kaum verändern. Der Fluss symbolisiert hier einen Geist, der durch die beständige Praxis von Tugend, Ethik, Großzügigkeit und vor allem durch die Entfaltung von liebender Güte (mettā) und Mitgefühl weit und tief geworden ist. Dies ist eine Botschaft der Hoffnung: Wir sind unserer Vergangenheit nicht hilflos ausgeliefert. Durch die Kultivierung eines heilsamen Geistes im Jetzt können wir die Auswirkungen vergangener negativer Handlungen abmildern und unsere Zukunft positiv gestalten.

Das Herzstück der Lehre von kamma ist die Absicht (cetanā). Der Buddha erklärte unmissverständlich: Cetanā’haṁ, bhikkhave, kammaṁ vadāmi – „Die Absicht, ihr Mönche, nenne ich Handlung“. Nicht die äußere Tat allein, sondern die geistige Intention dahinter bestimmt die karmische Qualität. Ein versehentlich zugefügter Schaden hat eine völlig andere karmische Wirkung als eine böswillige Tat. Dies macht Ethik zu einer zutiefst inneren, psychologischen Disziplin. Die vornehmste Aufgabe des Praktizierenden ist es, den eigenen Geist zu beobachten und die eigenen Absichten zu läutern. Das Sutta liefert somit eine klare ethische Landkarte, die die Wege zu Glück und Leid aufzeigt. Das letzte Handlungspaar – das Suchen nach Weisheit – ist dabei der Schlüssel, der uns befähigt, diese Karte überhaupt erst lesen und anwenden zu können.

Fazit: Die zeitlose Weisheit des Cūḷakammavibhaṅga Sutta

Das Cūḷakammavibhaṅga Sutta ist eine tiefgründige Erklärung menschlicher Verantwortung und menschlichen Potenzials. Es befreit uns von der lähmenden Tendenz, die Schuld für unsere Lebensumstände bei anderen, einem ungerechten Schicksal oder einer fernen Gottheit zu suchen. Stattdessen erklärt es uns zu den Architekten unserer eigenen Realität. Wir sind die Eigner und Erben unserer Handlungen. Diese Wahrheit ist zugleich eine große Bürde und eine unermessliche Befreiung. Sie übergibt uns die volle Verantwortung für unser Leid, aber auch alle Werkzeuge für unsere endgültige Befreiung. Die zeitlose Weisheit dieser Lehrrede liegt in der einfachen und doch tiefgreifenden Erkenntnis, dass die Macht, eine bessere Zukunft und eine bessere Welt zu erschaffen, ausschließlich in der Qualität der Entscheidungen liegt, die wir in jedem einzelnen Moment treffen.

Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente

Die tiefgründigen Lehren dieses Suttas entfalten ihre volle Kraft, wenn man den Text im Ganzen studiert. Wir ermutigen Sie, sich die Zeit zu nehmen und in die Worte des Buddha einzutauchen.