
Analyse des Bahuvedanīya Sutta (MN 59): Die Lehrrede über die vielen Arten von Gefühlen
Eine Landkarte des Glücks: Von Sinnesfreuden zur höchsten Befreiung.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Die Kernaussage und Bedeutung der Lehrrede
- Steckbrief der Lehrrede
- Kontext: Warum wurde diese Lehrrede gehalten?
- Die Kerninhalte: Eine strukturierte Zusammenfassung
- Analyse und Bedeutung für die heutige Praxis
- Fazit: Die zeitlose Weisheit des Bahuvedanīya Sutta
- Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente
Einleitung: Die Kernaussage und Bedeutung der Lehrrede
Was ist wahres Glück? Wo finden wir eine Freude, die beständig, zuverlässig und nicht von den Launen der Welt abhängig ist? Diese universelle menschliche Frage steht im Zentrum des Bahuvedanīya Sutta, einer der tiefgründigsten Lehrreden des Buddha über die Natur unserer inneren Erfahrung. Dieser Text ist weit mehr als eine philosophische Abhandlung; er ist eine praktische Landkarte, die uns von den flüchtigen und oft enttäuschenden Freuden der Sinne zu einer erhabenen und unerschütterlichen Form des Glücks führt, die im eigenen Geist kultiviert werden kann.
Die Lehrrede entfaltet ihre Weisheit auf zwei Ebenen. Zunächst erteilt sie uns eine unvergängliche Lektion in intellektueller Demut. Anhand eines freundschaftlichen Disputs zwischen zwei Praktizierenden zeigt der Buddha, dass das starre Festhalten an eigenen Ansichten eine Quelle von Konflikt und Unfrieden ist. Der Dhamma, die Lehre, ist kein starres Dogma, sondern ein vielschichtiges Werkzeug, das auf unterschiedliche Weisen dargestellt werden kann. Auf dieser Grundlage entfaltet der Buddha dann die zweite, zentrale Lehre des Suttas: eine detaillierte, progressive Anleitung zur „Veredelung“ unserer Glücksquellen. Er beschreibt eine Leiter des Glücks, die von den groben, abhängigen Sinnesfreuden über die immer feineren und stabileren Stufen meditativer Vertiefung bis hin zum höchsten Ziel führt – einer Form des Friedens, die selbst das Konzept von ‚Gefühl‘ transzendiert. Aufgrund dieser klaren Darstellung der Hierarchie des Glücks und seiner subtilen Lehre über das Nicht-Anhaften gilt das Bahuvedanīya Sutta als ein Schlüsseltext zum Verständnis der buddhistischen Psychologie und Meditationspraxis. Es enthüllt die entscheidende Verbindung zwischen Gefühl, Verlangen und der Möglichkeit vollkommener Befreiung.
Steckbrief der Lehrrede
Die folgende Tabelle fasst die wichtigsten Eckdaten der Lehrrede zusammen und dient als Orientierung für das tiefere Studium des Textes. Sie bietet einen schnellen Überblick über die Identität, den Inhalt und die zentralen Begriffe des Suttas.
Merkmal | Information |
---|---|
Pāli-Titel | Bahuvedanīya Sutta |
Sutta-Nummer | MN 59 (Majjhima Nikāya 59) |
Sammlung | Majjhima Nikāya (Die Mittlere Sammlung der Lehrreden des Buddha) |
Deutscher Titel | Die Lehrrede über die vielen Arten von Gefühlen |
Kernthema(s) | Gefühl (vedanā), Nicht-Anhaften an Ansichten, Stufen des Glücks, Meditative Vertiefung (jhāna), Befreiung |
Kontext: Warum wurde diese Lehrrede gehalten?
Wie viele Lehrreden des Buddha entspringt auch das Bahuvedanīya Sutta einer konkreten Situation, einem realen Gespräch, das die tiefgründigen Lehren in einem lebendigen Kontext verankert. Die Szene spielt sich im berühmten Jeta-Hain bei Sāvatthī ab, einem Park, den der wohlhabende Kaufmann Anāthapiṇḍika der Ordensgemeinschaft gestiftet hatte. Die Hauptfiguren des einleitenden Dialogs sind der ehrwürdige Mönch Udāyin und ein bemerkenswerter Laie namens Pañcakaṅga. Pañcakaṅga war kein gewöhnlicher Anhänger; er war der leitende Zimmermann (thapati) von König Pasenadi von Kosala, ein hochangesehener Handwerksmeister und ein engagierter, nachdenklicher Schüler des Buddha, der für seine Diskussionsfreude bekannt war und in mehreren anderen Lehrreden erscheint.
Die Lehrrede wird durch einen Disput zwischen diesen beiden ausgelöst. Pañcakaṅga fragt Udāyin, wie viele Arten von Gefühlen der Buddha gelehrt habe. Udāyin antwortet mit der gängigen, orthodoxen Klassifikation, die in vielen Lehrreden zu finden ist: Es gebe drei Arten von Gefühlen (vedanā): angenehme (sukhā vedanā), schmerzhafte (dukkhā vedanā) und weder-schmerzhafte-noch-angenehme, also neutrale Gefühle (adukkhamasukha vedanā). Doch Pañcakaṅga, der Zimmermann, widerspricht. Er behauptet, der Buddha habe nur von zwei Gefühlen gesprochen: angenehm und schmerzhaft. Das neutrale Gefühl, so argumentiert er, sei vom Buddha als eine Form von „friedvollem und erhabenem Glück“ (paṇītaṁ sukhasminti) beschrieben worden. Die beiden können sich nicht einigen, und ihr Gespräch wird vom ehrwürdigen Ānanda, dem ständigen Begleiter des Buddha, mitgehört, der es dem Erhabenen berichtet.
Dieser anfängliche Disput ist weit mehr als nur ein erzählerischer Auftakt. Er ist das zentrale Exponat, anhand dessen der Buddha eine universelle Wahrheit über seine Lehre demonstriert. Anstatt einen der beiden Gesprächspartner zum „Sieger“ zu erklären, tut der Buddha etwas Unerwartetes: Er bestätigt, dass beide Darstellungen auf ihre Weise korrekt sind. Die Lehre des Buddha ist kein starres, monolithisches System, sondern ein flexibles, pragmatisches Instrumentarium, das je nach Kontext und Zielsetzung unterschiedlich präsentiert werden kann. Das eigentliche Problem ist nicht die unterschiedliche Auffassung, sondern das Festhalten (upādāna) an der eigenen Sichtweise, das unweigerlich zu Konflikt führt. Der Buddha warnt eindringlich, dass jene, die auf ihrer Interpretation beharren, „streitend, zankend und hadernd verweilen und einander mit Wortwaffen verletzen“ werden. Die Einleitung des Suttas ist somit eine direkte Lektion über Rechte Ansicht (sammā diṭṭhi) und die Gefahr des Anhaftens an Ansichten (diṭṭhi-upādāna).
Darüber hinaus ist die Identität der Diskutierenden selbst eine subtile Lehre. Pañcakaṅgas Interpretation ist zwar aus Sicht der Standard-Lehre technisch ungenau, aber sie zeugt von einer tiefen intuitiven Einsicht. Seine Beschreibung des neutralen Gefühls als „erhabenes Glück“ nimmt die spätere Lehre des Suttas vorweg, in der die höchsten Stufen des meditativen Glücks gerade durch Gleichmut (upekkhā) – einen Zustand, der eng mit neutralem Gefühl verwandt ist – gekennzeichnet sind. Pañcakaṅga spürt, dass bestimmte „neutrale“ Zustände alles andere als fade oder uninteressant sind; sie sind zutiefst friedvoll und erstrebenswert. Sein vermeintlicher „Fehler“ ist in Wahrheit ein Sprungbrett zu einem tieferen Verständnis. Der Buddha erkennt als meisterhafter Pädagoge diese verborgene Weisheit und nutzt Pañcakaṅgas Formulierung als perfekten Ausgangspunkt für seine eigene, weitreichende Darlegung über die wahre Natur des Glücks.
Die Kerninhalte: Eine strukturierte Zusammenfassung
Nachdem der Buddha den anfänglichen Disput als Grundlage genutzt hat, um die Wichtigkeit von geistiger Flexibilität und Harmonie zu betonen, entfaltet er systematisch seine Lehre über Gefühl und Glück. Er führt seine Zuhörer Schritt für Schritt von den gewöhnlichen Freuden des Alltags zu den höchsten Gipfeln spiritueller Verwirklichung.
Ein Disput unter Freunden: Zwei oder drei Gefühle?
Der Sutta beginnt mit dem klar umrissenen Dissens. Der Mönch Udāyin vertritt die etablierte Lehrmeinung: „Drei Arten von Gefühl, Hausvater, sind vom Erhabenen dargelegt worden: angenehmes Gefühl, schmerzhaftes Gefühl und weder-schmerzhaftes-noch-angenehmes Gefühl“. Pañcakaṅga, der Zimmermann, hält dagegen: „Nicht drei Arten von Gefühl sind vom Erhabenen dargelegt worden, ehrwürdiger Udāyin; zwei Arten von Gefühl sind vom Erhabenen dargelegt worden: angenehmes Gefühl und schmerzhaftes Gefühl. Dieses weder-schmerzhafte-noch-angenehme Gefühl ist vom Erhabenen als eine friedvolle und erhabene Art von Glück dargelegt worden“. Der Text betont, dass sie ihre Diskussion dreimal wiederholen, ohne dass einer den anderen überzeugen kann. Diese Pattsituation schafft die Notwendigkeit für die klärende Autorität des Buddha.
Die Weisheit der Flexibilität: Des Buddhas Lehre von den vielen Darstellungsweisen
Als Ānanda dem Buddha von dem Gespräch berichtet, lautet dessen Antwort verblüffend und tiefgründig zugleich. Er sagt nicht, Udāyin habe recht und Pañcakaṅga unrecht, sondern erklärt: „Ānanda, es war tatsächlich eine wahre Darstellung, die Pañcakaṅga der Zimmermann von Udāyin nicht annahm, und es war tatsächlich eine wahre Darstellung, die Udāyin von Pañcakaṅga dem Zimmermann nicht annahm“. Um dies zu untermauern, erklärt der Buddha, dass er die Lehre über Gefühle auf viele verschiedene Weisen dargelegt hat. Er listet auf: mal habe er von zwei Gefühlen gesprochen, mal von drei, fünf, sechs, achtzehn, sechsunddreißig und sogar von einhundertacht Gefühlen. Der entscheidende Punkt ist nicht die Zahl, sondern die Haltung des Lernenden. Der Buddha schließt mit einer eindringlichen Mahnung und einem Versprechen:
„So habe ich, Ānanda, den Dhamma mittels verschiedener Darlegungen gelehrt. Wenn ich den Dhamma so mittels verschiedener Darlegungen gelehrt habe, kann von jenen, die sich nicht auf das einigen, es nicht gestatten und nicht anerkennen, was vom anderen gut gesagt und gut gesprochen wurde, erwartet werden, dass sie streitend, zankend und hadernd verweilen und einander mit Wortwaffen verletzen. […] Aber von jenen, die sich einigen, es gestatten und anerkennen, […] kann erwartet werden, dass sie in Eintracht und Freundschaft leben, ohne Streit, wie Milch, die sich mit Wasser vermischt, und einander mit freundlichen Augen ansehen.“
Diese Passage ist ein kraftvolles Plädoyer gegen Dogmatismus und Sektierertum. Sie lehrt, dass die Harmonie innerhalb der Gemeinschaft und die Offenheit für unterschiedliche Perspektiven einen höheren Wert haben als das Beharren auf einer einzigen, vermeintlich „richtigen“ Formulierung der Lehre.
Die Leiter zum höchsten Glück: Von Sinnesfreuden zur Befreiung
Nachdem die methodische Grundlage gelegt ist, wendet sich der Buddha dem eigentlichen Kern der Lehre zu: der Hierarchie des Glücks. Er beginnt dort, wo die meisten Menschen nach Glück suchen, und führt sie dann Stufe für Stufe zu immer verfeinerteren und befriedigenderen Zuständen.
Stufe 1: Sinnesfreude (Kāma-sukha)
Der Buddha definiert zunächst das, was gemeinhin unter Glück verstanden wird: die Freude und das Vergnügen, die von den „fünf Strängen der Sinneslust“ abhängen. Dies sind angenehme und begehrenswerte Formen, die mit dem Auge gesehen, Klänge, die mit dem Ohr gehört, Düfte, die mit der Nase gerochen, Geschmäcker, die mit der Zunge geschmeckt, und Berührungen, die mit dem Körper gefühlt werden. Er erkennt an, dass dies eine Form von Glück ist. Doch er fügt sofort eine entscheidende Einschränkung hinzu: „Sollte jemand sagen: ‚Dies ist das höchste Glück und die höchste Freude, die Wesen erfahren‘, so würde ich ihm das nicht zugestehen. Und warum nicht? Weil es ein anderes Glück gibt, das erlesener und erhabener ist als dieses Glück“.
Stufe 2-9: Das Glück der meditativen Vertiefungen (Jhāna-sukha)
Dieses „erlesenere und erhabenere Glück“ ist das Glück, das aus der meditativen Praxis entsteht. Der Buddha beschreibt die acht Stufen der meditativen Vertiefung (jhāna) als eine aufsteigende Leiter des Wohlbefindens:
Die materiellen Vertiefungen (Rūpa-jhāna):
- Erstes Jhāna: Entsteht aus Abgeschiedenheit von Sinnesverlangen und unheilsamen Geisteszuständen. Es ist von Freude (pīti) und Glück (sukha) erfüllt, begleitet von anfänglicher und anhaltender Gedankenausrichtung (vitakka-vicāra).
- Zweites Jhāna: Mit dem Stillwerden der Gedanken entsteht ein Zustand, der von Freude und Glück erfüllt ist, die aus der Sammlung (samādhi) geboren sind. Der Geist ist innerlich klar und auf einen Punkt ausgerichtet.
- Drittes Jhāna: Mit dem Schwinden der ekstatischen Freude verweilt der Meditierende in Gleichmut (upekkhā), achtsam und klar wissend, und erfährt im Körper ein Glück, von dem die Edlen sagen: „Gleichmütig und achtsam verweilt er in Glückseligkeit“. Hier wird bereits deutlich, wie Gleichmut und Glück zusammenfallen können – eine Bestätigung von Pañcakaṅgas intuitiver Einsicht.
- Viertes Jhāna: Durch die Aufgabe von Glück und Leid und das frühere Schwinden von Freude und Trauer tritt der Meditierende in einen Zustand reinen Gleichmuts und reiner Achtsamkeit ein, jenseits von Angenehm und Unangenehm.
Die immateriellen Vertiefungen (Arūpa-jhāna):
Nach den formhaften Vertiefungen beschreibt der Buddha noch subtilere Zustände, die durch die vollständige Überwindung der Wahrnehmung von Form gekennzeichnet sind. Diese führen in die Bereiche des unendlichen Raumes, des unendlichen Bewusstseins, der Nichtsheit und schließlich des Zustandes, der als Weder-Wahrnehmung-noch-Nichtwahrnehmung bezeichnet wird. Jede dieser Stufen wird als ein Glück beschrieben, das „erlesener und erhabener“ ist als die vorhergehende.
Das Glück jenseits allen Fühlens: Die Aufhebung von Wahrnehmung und Gefühl
Die Leiter des Glücks scheint mit der höchsten meditativen Errungenschaft ihren Gipfel erreicht zu haben. Doch der Buddha geht noch einen entscheidenden Schritt weiter und stellt damit das konventionelle Verständnis von Glück radikal in Frage. Selbst über den Zustand der Weder-Wahrnehmung-noch-Nichtwahrnehmung sagt er: „Ich würde ihm das nicht zugestehen. Und warum nicht? Weil es ein anderes Glück gibt, das erlesener und erhabener ist als dieses Glück“. Was könnte dieses höchste Glück sein? Die Antwort ist verblüffend: „Hier, indem er die Sphäre der Weder-Wahrnehmung-noch-Nichtwahrnehmung vollständig überwindet, tritt ein Mönch in die Aufhebung von Wahrnehmung und Gefühl (saññā-vedayita-nirodha) ein und verweilt darin“. Das höchste Glück ist also kein Gefühl mehr, sondern die vollständige Beendigung aller Gefühle und Wahrnehmungen.
Dies scheint ein Paradox zu sein. Wie kann die Abwesenheit von Gefühl als Glück bezeichnet werden? Hier enthüllt der Sutta seine tiefste Lehre. Das Wort für Glück, sukha, wird neu definiert. Es bezeichnet nicht mehr nur eine angenehme Empfindung, sondern im höchsten Sinne die Befreiung von jeglicher Last, von jeglichem Stress, von dem gesamten Kreislauf des Entstehens und Vergehens. Die Kommentartradition unterscheidet hier zwischen vedayita-sukha (Glück, das gefühlt wird, wie in den jhānas) und avedayita-sukha (Glück, das nicht gefühlt wird), welches die unbedingte, transzendente Frieden von Nibbāna ist. Der Buddha selbst bestätigt diese radikale Neudefinition am Ende des Suttas mit den Worten: „Ein Tathāgata beschreibt als Glück, wann und wo auch immer es erlangt wird“. Das ultimative Glück ist keine Sensation, sondern ein Zustand – der Zustand der endgültigen Befreiung.
Der Sutta nutzt die universelle menschliche Suche nach angenehmen Gefühlen, um den Praktizierenden zu einem Frieden zu führen, der das gesamte Paradigma von angenehm und unangenehm hinter sich lässt.
Analyse und Bedeutung für die heutige Praxis
Obwohl das Bahuvedanīya Sutta vor über 2500 Jahren gehalten wurde, sind seine Lehren von verblüffender Aktualität. Es bietet uns mindestens zwei unschätzbar wertvolle „Werkzeuge“ für ein weiseres und glücklicheres Leben im 21. Jahrhundert.
Das erste Werkzeug: Die Kunst des „Nicht-Rechthaben-Müssens“
Die einleitende Szene des Suttas ist ein kraftvolles Gegenmittel zur Polarisierung und Streitkultur unserer modernen Zeit, die von hitzigen Online-Debatten und unversöhnlichen politischen Lagern geprägt ist. Die praktische Lektion ist die Kultivierung von intellektueller Bescheidenheit und relationaler Weisheit. In unseren täglichen Interaktionen – sei es in einer Diskussion mit Familienmitgliedern, bei Meinungsverschiedenheiten am Arbeitsplatz oder in spirituellen Gemeinschaften – können wir uns die Frage stellen, die der Buddha implizit stellt: „Ist es wichtiger, ‚Recht zu haben‘, oder ist es wichtiger, Harmonie, gegenseitiges Verständnis und einen offenen Geist zu bewahren?“ Das Sutta lehrt uns, dass Weisheit nicht im starren Festhalten an einer Position liegt, sondern in der Fähigkeit, die Gültigkeit verschiedener Perspektiven anzuerkennen und den Frieden über den Triumph zu stellen.
Das zweite Werkzeug: Die „Glücks-Leiter“ als Lebenskompass
Die vom Buddha dargelegte Hierarchie des Glücks ist kein trockenes, theoretisches Modell, sondern ein äußerst praktischer Kompass für die Selbstreflexion. Wir können diese Leiter nutzen, um eine ehrliche Bestandsaufnahme unserer eigenen Glücksquellen vorzunehmen. Wo suche ich im Alltag nach Freude und Erfüllung? Suche ich sie primär im Außen – durch Konsum, Unterhaltung, soziale Anerkennung oder flüchtige Sinneserfahrungen (kāma-sukha)? Oder kultiviere ich auch Quellen des Glücks, die von innen kommen – aus Zuständen der Ruhe, der Konzentration, der Freundlichkeit und des Gleichmuts, die in der Meditation geübt werden (jhāna-sukha)? Das Sutta ermutigt uns zu einem bewussten „Aufwärtstausch“. Es lädt uns ein, bereitwillig gröbere, unzuverlässige und oft anstrengende Freuden loszulassen, um Raum für verfeinerte, stabilere und zutiefst befriedigende innere Zustände zu schaffen.
Um dies zu verdeutlichen, kann eine moderne Analogie helfen: die Energiequellen des Glücks. Sinnesfreuden sind wie das Verbrennen von Holz: Sie erzeugen eine schnelle, helle Flamme, benötigen aber ständig neuen Brennstoff von außen, produzieren Rauch (in Form von Unruhe, Gier und Enttäuschung) und erlöschen schnell wieder. Das Glück der Konzentration (jhāna) ist wie Solarenergie: Es wird innerlich erzeugt, ist sauber, nachhaltig und liefert eine beständige, zuverlässige Quelle von Energie und Wohlbefinden. Der Friede von Nibbāna, das höchste Glück, ist wie das Transzendieren der Notwendigkeit einer Energiequelle überhaupt – es ist ein Zustand perfekter, autarker Ausgeglichenheit, der durch nichts mehr gestört werden kann.
Die zentrale Rolle von vedanā in der Achtsamkeitspraxis wird durch dieses Sutta besonders deutlich. Es enthüllt, warum die Achtsamkeit auf die Gefühle (vedanānupassanā) ein so entscheidender Aspekt des buddhistischen Pfades ist. Wie in der Lehre vom Bedingten Entstehen (paṭiccasamuppāda) dargelegt, ist das Gefühl (vedanā) das kritische Scharnier zwischen dem Sinneskontakt (phassa) und dem Verlangen (taṇhā). In dem Moment, in dem ein Gefühl aufsteigt – angenehm, unangenehm oder neutral –, entscheidet sich, ob wir in den Kreislauf des Leidens eintreten oder ihn durchbrechen. Indem wir lernen, vedanā mit bloßer, nicht-reaktiver Achtsamkeit zu beobachten – einfach als einen unpersönlichen Tonus der Erfahrung, ohne ihm Geschichten, Urteile oder Begierden hinzuzufügen –, können wir die Kette genau an dieser Stelle unterbrechen. Die gesamte im Bahuvedanīya Sutta beschriebene Leiter des Glücks ist eine Entfaltung dessen, was geschieht, wenn wir entweder blind auf vedanā reagieren (und auf der Stufe der Sinnesfreuden verharren) oder lernen, es mit Weisheit zu beobachten (was dem Geist erlaubt, sich in den jhānas zu beruhigen und sich der Befreiung zuzuwenden). Dieses Sutta liefert somit die strategische Begründung für die taktische Anwendung der Achtsamkeit auf die Gefühle.
Fazit: Die zeitlose Weisheit des Bahuvedanīya Sutta
Das Bahuvedanīya Sutta übermittelt eine tiefgründige und zweifache Botschaft, die heute so relevant ist wie zur Zeit des Buddha. Es lehrt uns zum einen, dass ein flexibler, offener und bescheidener Geist die Voraussetzung für Harmonie in unseren Beziehungen und für wahre Weisheit ist. Es befreit uns von der Last, immer Recht haben zu müssen, und öffnet uns für die vielschichtige Natur der Wahrheit. Gleichzeitig bietet es einen inspirierenden und eminent praktischen Weg, um ein Glück zu kultivieren, das nicht von den unbeständigen Bedingungen der äußeren Welt abhängt. Es zeigt uns, dass die beständigste und erhabenste Freude im Inneren zu finden ist, in der Stille und Klarheit eines geschulten Geistes. Indem es uns die Leiter zum höchsten Glück aufzeigt, lädt uns das Sutta ein, unsere Prioritäten zu überdenken und bewusst in ein Wohlbefinden zu investieren, das mit jeder Stufe verlässlicher, reiner und tiefgreifender wird, bis es in der unbedingten Freiheit und dem endgültigen Frieden von Nibbāna gipfelt. Es ist ein zeitloser Aufruf zu relationaler Weisheit und kontemplativer Tiefe.
Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente
Diese Analyse bietet einen tiefen Einblick, kann aber das persönliche Studium des Originaltextes nicht ersetzen. Wir ermutigen Sie, die Lehrrede in ihrer vollen Länge zu lesen und über ihre Bedeutung zu kontemplieren. Lesen Sie die vollständige Lehrrede auf SuttaCentral.
- Bahuvedanīyasutta auf SuttaCentral (mit diversen Übersetzungen)
- Many Things to Be Felt auf dhammatalks.org
- The Many Kinds of Feeling auf Access to Insight
- Vedanā: Addressing Views and Clinging at the Source auf Buddhist Inquiry
- Vedanā auf Wikipedia
- Why Vedana and What is Vedana? auf Vipassana Research Institute
- Informationen zu Pañcakaṅga auf Association for Insight Meditation
- Majjhima Nikāya Übersetzungen auf Digital Pāli Reader