
Analyse der MN 67. Cātumā Sutta: Bei Cātumā
Einleitung: Die Kernaussage und Bedeutung der Lehrrede
Inhaltsverzeichnis
In vielen spirituellen Gemeinschaften gibt es jene Momente, in denen eine scheinbare Störung oder ein Konflikt zu einer tiefgreifenden Lehrstunde wird. Die Cātumā Sutta (MN 67) ist ein meisterhaftes Beispiel für einen solchen Augenblick. Sie entfaltet sich nicht als trockene, abstrakte Abhandlung, sondern als ein lebendiges Drama, in dem der Buddha, seine beiden Hauptjünger Sāriputta und Moggallāna, eine Gruppe von 500 unachtsamen Mönchen, mitfühlende Laienanhänger und sogar eine hohe Gottheit die Bühne betreten.
Das Kernthema der Lehrrede ist eine kraftvolle und zeitlose Metapher: Der spirituelle Weg gleicht einer Reise über ein gefährliches Gewässer. Um dieses Meer sicher zu durchqueren, muss man sich der verborgenen Gefahren bewusst sein – nicht äußerer Bedrohungen, sondern machtvoller innerer Unreinheiten (kilesas). Diese Lehrrede ist somit eine unschätzbare Seekarte für die inneren Untiefen des Geistes. Ihre besondere Bedeutung liegt in der genialen Verknüpfung einer dramatischen Erzählung mit einer bildhaften, praktischen Lehre. Dadurch werden die Warnungen vor den Gefahren des Zorns, der Maßlosigkeit, der Sinneslust und des sexuellen Verlangens außergewöhnlich einprägsam und sowohl für Ordensmitglieder als auch für Laien unmittelbar anwendbar.
Steckbrief der Lehrrede
Die folgende Tabelle fasst die wichtigsten Eckdaten der Lehrrede zusammen und dient als Orientierung für die nachfolgende Analyse.
Kriterium | Beschreibung |
---|---|
Pāli-Titel | Cātumā Sutta |
Sutta-Nummer | Majjhima Nikāya 67 (MN 67) |
Sammlung | Majjhima Nikāya (Die Mittlere Sammlung der Lehrreden) |
Deutscher Titel | Die Lehrrede bei Cātumā |
Kernthema(s) | „Die vier Gefahren (bhaya) für Praktizierende: Zorn, Gefräßigkeit, Sinneslust und sexuelles Verlangen; die Bedeutung von Disziplin, Achtsamkeit, Mitgefühl und Anleitung, besonders für Anfänger (navaka bhikkhū).“ |
Kontext: Warum wurde diese Lehrrede gehalten?
Die Lehrrede beginnt mit einer Szene, die den Anlass für die gesamte Lehre bildet. Fünfhundert Mönche, angeführt von den ehrwürdigen Hauptjüngern Sāriputta und Mahā Moggallāna, sind in der Stadt Cātumā angekommen, um den Buddha zu besuchen. Während sie ihre Unterkünfte vorbereiten und die ansässigen Mönche begrüßen, verursachen sie einen lauten, unachtsamen Lärm. Der Buddha, der für seine Liebe zur Stille bekannt ist, hört den Tumult und vergleicht ihn mit dem Lärm von Fischern, die ihren Fang einholen. Nachdem er den Grund für den Lärm erfahren hat, ruft er die Mönche zu sich und weist sie schroff zurecht: „Geht fort, ihr Mönche, ich entlasse euch. Ihr sollt nicht in meiner Nähe weilen“. Diese scheinbar harte Reaktion ist der dramatische Wendepunkt, der die Bühne für die folgende Lehre bereitet.
Das Problem, das der Buddha hier anspricht, ist nicht der Lärm an sich, sondern das, was er offenbart: einen fundamentalen Mangel an Achtsamkeit (sati), Selbstbeherrschung und situationsbezogenem Bewusstsein. Dieses Verhalten untergräbt die Grundlage sowohl der harmonischen Gemeinschaft als auch der persönlichen Praxis. Die strenge Zurechtweisung des Buddha ist kein Ausdruck von Ärger, sondern eine Form von „Schock-Pädagogik“. Indem er eine Krise herbeiführt – die Verbannung der gesamten Gruppe –, durchbricht er die Selbstzufriedenheit der Mönche und schafft eine Atmosphäre höchster Empfänglichkeit für die Lektion, die folgen wird. Eine einfache verbale Rüge wäre vielleicht schnell vergessen worden; diese dramatische Entlassung stellt sicher, dass die Lehre tief im Bewusstsein der Mönche verankert wird.
An diesem Punkt greifen die Laienanhänger der Sakyer aus Cātumā ein. Als sie die fortziehenden Mönche sehen, werden sie von Mitgefühl bewegt und beschließen, beim Buddha für sie Fürsprache zu halten. Ihnen schließt sich die hohe Gottheit Brahmā Sahampati an, jene Wesenheit, die den Buddha nach seiner Erleuchtung gebeten hatte, die Lehre in die Welt zu tragen. Die Tatsache, dass Laien und eine Gottheit den Buddha „versöhnen“, ist von tiefer symbolischer Bedeutung. Sie zeigt, dass die spirituelle Gesundheit der Ordensgemeinschaft (Saṅgha) ein Anliegen des gesamten Kosmos ist. Die Laien sind hier keine passiven Unterstützer, sondern aktive Hüter des Dhamma, die Weisheit und Mitgefühl beweisen, indem sie den Lehrer an die Bedürfnisse der Anfänger erinnern. Dies unterstreicht die wesentliche Rolle der Laien innerhalb der „vierfachen Versammlung“ (Mönche, Nonnen, Laienmänner, Laienfrauen).
Die Kerninhalte: Eine strukturierte Zusammenfassung
Nachdem der dramatische Rahmen geschaffen ist, entfaltet sich die Lehre in mehreren Stufen, die jeweils eine tiefere Ebene der Praxis beleuchten.
Ein Plädoyer für die „jungen Setzlinge“: Mitgefühl als Grundlage der Lehre
Die Sakyer und Brahmā Sahampati verwenden zwei bewegende Gleichnisse, um den Buddha umzustimmen. Sie argumentieren, dass die neu ordinierten Mönche (navaka bhikkhū) wie „junge Setzlinge sind, die welken und eingehen könnten, wenn sie kein Wasser bekommen“, und wie „ein junges Kalb, das sich verändern und zugrunde gehen könnte, wenn es seine Mutter nicht sieht“. Diese Metaphern vermitteln eine zentrale Botschaft des buddhistischen Weges: Anfänger sind verletzlich. Sie benötigen das „Wasser“ der Lehre und die „mütterliche Gegenwart“ der mitfühlenden Anleitung durch einen Lehrer. Strenge Disziplin allein genügt nicht; sie muss durch Verständnis und Unterstützung ausgeglichen werden. Der Buddha lässt sich von diesen Analogien überzeugen und nimmt die Mönche wieder auf. Dieser Akt der Versöhnung zeigt seine eigene Flexibilität und sein tiefes Mitgefühl als Lehrer.
Ein Test der Verantwortung: Sāriputta und Moggallāna
Nachdem die Mönche zurückgekehrt sind, stellt der Buddha seine beiden Hauptjünger auf die Probe. Er fragt Sāriputta, was er dachte, als die Mönche weggeschickt wurden. Sāriputta, der als der Weiseste gilt, antwortet, er habe gedacht, der Buddha wünsche nun Ruhe und Frieden und auch sie könnten nun „im Hier und Jetzt in Behagen verweilen“. Der Buddha tadelt ihn sanft. Als er Mahā Moggallāna dieselbe Frage stellt, antwortet dieser, er habe gedacht, der Buddha werde sich nun ausruhen und „Sāriputta und ich werden uns um die Gemeinschaft der Mönche kümmern“. Der Buddha lobt diese Antwort ausdrücklich: „Ausgezeichnet, Moggallāna!… Denn entweder sollte ich mich um die Gemeinschaft der Mönche kümmern oder Sāriputta und Moggallāna sollten es tun“.
Dieser Dialog ist eine subtile, aber entscheidende Lektion über spirituelle Führung. Sāriputtas Antwort ist passiv und auf das eigene Wohlbefinden ausgerichtet. Moggallānas Antwort hingegen ist proaktiv und von Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft geprägt. Der Buddha stellt klar, dass eine reife spirituelle Praxis nicht in den Rückzug von der Verantwortung führt, sondern in die aktive Fürsorge für andere.
Die Lehre der vier Gefahren: Eine nautische Metapher für den Geist
Nun, da die Aufmerksamkeit aller geschärft ist, kommt der Buddha zum Kern seiner Lehre. Er nutzt die Metapher einer Reise über das Wasser, um die spirituelle Praxis zu beschreiben: „Mönche, es gibt diese vier Gefahren, die von jemandem zu erwarten sind, der ins Wasser hinabsteigt… Auf die gleiche Weise… gibt es diese vier Gefahren, die von jemandem zu erwarten sind, der… in dieser Lehre und Ordnung fortgezogen ist“.
„Vier Gefahren, ihr Mönche, sind da bei einem Badenden zu gewärtigen: die Gefahr der Woge, die Gefahr des Krokodils, die Gefahr des Strudels, die Gefahr des Haies.“
Diese vier Gefahren sind:
- Gefahr durch Wellen (ūmi-bhaya)
- Gefahr durch Krokodile (kumbhīla-bhaya)
- Gefahr durch Strudel (āvaṭṭa-bhaya)
- Gefahr durch Haie (susukā-bhaya)
Die vier Gefahren im Detail: Die inneren Monster entlarven
Jede dieser äußeren Gefahren steht symbolisch für eine innere psychologische Bedrohung, die einen Praktizierenden vom Weg abbringen kann.
- Die Wogen (ūmi-bhaya) = Zorn und gekränkter Stolz: Ein Mönch wird zornig, als er von seinen Mitbrüdern korrigiert wird. Er denkt: „Früher habe ich andere belehrt, und jetzt wollen mich diese ‚Söhne und Enkel‘ belehren!“. Diese Welle des Zorns und des verletzten Stolzes (kodhūpāyāsa) lässt ihn die Praxis aufgeben. Dies beschreibt den Widerstand des Egos gegen Demut und konstruktive Kritik.
- Die Krokodile (kumbhīla-bhaya) = Gefräßigkeit und Maßlosigkeit: Ein Mönch ärgert sich über die Ordensregeln bezüglich der Nahrungsaufnahme. Er empfindet die zeitlichen und qualitativen Einschränkungen als einen „Maulkorb“. Die Gier nach Essen (odarika) wird so stark, dass er ins Laienleben zurückkehrt. Dies verweist auf den Kampf mit der Mäßigung und die verführerische Kraft der ungezügelten Befriedigung körperlicher Triebe.
- Die Strudel (āvaṭṭa-bhaya) = Die fünf Sinnenfreuden: Ein Mönch, dessen Sinne unbewacht sind, sieht einen Laien, der die fünf Arten von Sinnesfreuden (pañca kāmaguṇā) genießt. Er erinnert sich an sein früheres Leben voller Vergnügen und wird von der Vorstellung, sowohl weltlichen Reichtum als auch spirituellen Verdienst genießen zu können, in den Strudel der Welt zurückgezogen. Dies ist der Sog des Konsums, der Unterhaltung und des sensorischen Genusses.
- Die Haie (susukā-bhaya) = Sexuelles Verlangen: Ein Mönch, dessen Sinne wiederum unbewacht sind, erblickt eine „spärlich bekleidete“ Frau. Lust (rāga) erregt seinen Geist so stark, dass er die Praxis aufgibt. Der Text benennt das Symbol hier direkt als Frauen (mātugāma). Dies repräsentiert die direkteste und oft stärkste Form des Verlangens, die den Geist überwältigen kann.
Analyse und Bedeutung für die heutige Praxis
Die Cātumā Sutta besitzt eine erstaunliche Relevanz für das moderne Leben. Auch wenn wir nicht in einem Kloster im alten Indien leben, sind die psychologischen Herausforderungen – die Unreinheiten (kilesas) – identisch. Der Text macht wiederholt deutlich, was die Ursache für das Scheitern ist: ein Mönch, der „unbewacht an Körper und Rede, ohne Achtsamkeit hervorgerufen zu haben und mit unkontrollierten Fähigkeiten“ umhergeht. Das zentrale Werkzeug, das uns die Lehrrede an die Hand gibt, ist daher die Kultivierung von Achtsamkeit (sati) und Sinnesbeherrschung (indriya-saṃvara). Dies ist das Rettungsfloß, mit dem wir die gefährlichen Gewässer des Lebens navigieren können.
Um die Lehre zu verdeutlichen, lässt sich eine moderne Analogie ziehen: das Befahren des digitalen Ozeans. In unserer Zeit ist das „gefährliche Wasser“ oft das Internet und die Welt der digitalen Medien. Diese Analogie macht die Warnungen des Buddha erschreckend aktuell:
- Die Wogen (Zorn): Die Empörungskultur der sozialen Medien. Ein provokanter Beitrag oder ein verletzender Kommentar ist wie eine Welle, die unser Ego trifft und uns zu wütenden Antworten und endlosen, energieraubenden Debatten verleitet.
- Die Krokodile (Gefräßigkeit): Der digitale Konsumismus. Personalisierte Werbung, „One-Click“-Käufe und die ständige Bewerbung neuer Produkte erzeugen einen nimmersatten Hunger nach mehr – eine digitale Form der Maßlosigkeit.
- Die Strudel (Sinneslust): Die süchtig machende Natur von Medien-Feeds und Streaming-Angeboten. Das unendliche Scrollen in sozialen Netzwerken, das Binge-Watching bei Streaming-Diensten und immersive Videospiele wirken wie Strudel, die unsere Aufmerksamkeit und unsere Lebenszeit in einen Sog passiven Konsums ziehen.
- Die Haie (Sexuelles Verlangen): Die allgegenwärtige Verfügbarkeit von Online-Pornografie und die objektivierende Natur von Dating-Apps und bestimmten Social-Media-Plattformen. Dies stellt eine direkte und mächtige Gefahr dar, die das geistige Wohlbefinden und die spirituelle Praxis eines Menschen vollständig entgleisen lassen kann.
Die Lektion der Cātumā Sutta ist nicht, den „Ozean“ des modernen Lebens zu verlassen, sondern zu lernen, ihn geschickt zu befahren. Das bedeutet, Achtsamkeit auf unsere digitalen Gewohnheiten anzuwenden: den aufkommenden Zorn zu bemerken, bevor wir tippen; den Kaufimpuls zu hinterfragen; dem Konsum von Unterhaltung Grenzen zu setzen; und uns bewusst zu sein, wie wir mit Inhalten umgehen, die Verlangen auslösen.
Fazit: Die zeitlose Weisheit der MN 67. Cātumā Sutta
Die Lehrrede bei Cātumā ist eine Meisterlektion in Lehre und Praxis zugleich. Sie lehrt die Notwendigkeit, strenge Selbstdisziplin mit weisem Mitgefühl in Einklang zu bringen. Sie erinnert uns daran, dass der spirituelle Weg kein sicherer Hafen, sondern eine herausfordernde Reise ist. Indem der Buddha die gefährlichsten inneren Strömungen – stolzen Zorn, unersättliche Gier, Sinnessucht und sexuelles Verlangen – klar kartiert, gibt er uns eine unschätzbare Navigationshilfe. Der Kompass, um diese Gewässer sicher zu durchqueren, ist damals wie heute die wachsame und unerschütterliche Praxis der Achtsamkeit.
Referenzen & weiterführende Webseiten/Dokumente
- Lese die vollständige Lehrrede auf SuttaCentral
- Near Cātumā Cātuma Sutta (MN 67) – dhammatalks.org
- MN 67: Cātumā Suttaṁ: Of Land Sharks
- Catuma Sutta: Significance and symbolism – Wisdom Lib
- Majjhima Nikaya 67 – Palikanon
- Majjhima Nikāya – DhammaCitta
- Cātumā Sutta – The Minding Centre
- Buddha rejecting noisy people: sutta reference? – Dhamma Wheel